MOH (80): 10. Oscars 1938 – "Chicago"
In unserer Serie "Matthias' Oscar History" (MOH) bespricht Matthias in jeder Folge jeweils einen der zwischen den Jahren 1929 und 2000 nominierten Oscar-Beiträge aus der Kategorie "Bester Film".
In unserer letzten Folge war das Drama auf eine Wohngemeinschaft voller Schauspielerinnen beschränkt, heute weitet es sich auf eine ganze Stadt aus. Doch die Ereignisse rund um einen historischen Großbrand in Chicago entpuppen sich leider nicht als faszinierend sondern eher frustrierend.
Chicago
Was einmal funktioniert hat, das funktioniert sicher auch ein zweites Mal. Diese Maxime ist nun wirklich nichts Neues für Hollywood und “Chicago“ ist ein klassische Beispiel dafür, dass dieser Leitsatz zwar oft finanziellen aber eher selten künstlerischen Erfolg bereithält. Der bei den zehnten Academy Awards 1938 für den besten Film nominierte Streifen ist inhaltlich nämlich ein ziemlich uninspirierter Abklatsch des Kassenknüllers “San Francisco“ aus dem Vorjahr. Zwar gibt es am Ende auch hier wieder imposante Schauwerte zu bestaunen, ohne einen charismatischen Clark Gable dafür mit einer unglaublich unsympathischen Hauptfigur wird der Weg dorthin aber schon fast zur Qual.
Tatsächlich hatte man beim Studio 20th Century Fox alles daran gesetzt für “Chicago“ eben jenen Clark Gable von Metro-Goldwyn-Mayer auszuleihen, der schon in “San Francisco“ erfolgreich als Hauptfigur durch die Auswirkungen einer Naturkatastrophe geläutert wurde. Gable bekam man zwar nicht, aber das hielt einen nicht davon ab einfach dessen Figur zu klonen. So gibt in “Chicago“ nun Tyrone Power einen Nachtclubbesitzer mit kriminellem Hintergrund namens Dion O'Leary und wie in “San Francisco“ entwickelt auch dieser hier Gefühle für eine seine Künstlerinnen, in dem Fall die Sängerin Belle (Alice Faye). Statt einem Priester ist es hier allerdings nun der eigener Bruder Jack, der die Moral hochhält und am Ende nicht ein Erdbeben sondern ein Großbrand, der dem guten Dion eine wertvolle Lektion fürs Leben erteilt.
Im Grunde kann man “Chicago“ in zwei Abschnitte unterteilen. Im ersten Teil müssen wir eine sehr zähe und uninspirierte Story rund um eine komplett unsympathische Hauptfigur ertragen, während im zweiten Teil dann ein Großbrand für Chaos und großes Drama sorgt. Das Problem dabei ist, dass Ersteres den weitaus größten Teil des Filmes ausmacht. Erste Sorgenfalten bilden sich hier schon bei dem Prolog der Geschichte, in dem der tragische Tod von Dions Vater vor dessen Kindern gleich mal für ordentlich Drama sorgen soll, allerdings schauspielerisch so schlecht gespielt ist, dass man diesen nicht wirklich ernst nehmen kann.
Alle drei Söhne der Familie O'Leary schlagen dann in Chicago beruflich unterschiedliche Wege ein, wobei der Film sich eigentlich nur für zwei von ihnen so wirklich interessiert. Den kleinen Bob speist man kurzerhand mit einer halbgaren Liebesbeziehung mit einer deutschen Freundin ab, was immerhin dafür sorgt, dass man hier und da auch in der englischen Originalversion in den Genuss der deutschen Sprache kommt. Der Fokus des Films liegt dagegen auf dem Brüderkonflikt zwischen dem durchtriebenen Nachtclubbesitzer Dion und dem ehrenhaften Rechtsanwalt Jack. Gerade mit Dion verbringt man dabei zu Beginn sehr viel Zeit, was sich leider als großes Problem entpuppt.
Das Dion gerne Menschen manipuliert ist für eine vom Film im Graubereich verortete Figur ja vollkommen in Ordnung. Die Art und Weise wie dieser allerdings seine Geliebte Belle erobert ist gerade aus heutiger Sicht schlichtweg nicht zu verzeihen. Das gelingt Dion nämlich nur mit roher Gewalt und eindeutig gegen deren Willen, was ich in dieser Intensität bisher noch bei keinem Film in unserer Oscar-Reihe erlebt habe. Gleich mehrmals und immer aggressiver und bedrohlicher werdend zwingt dieser mit Gewalt ihr seine “Liebe“ auf und chancenlos sich dem zu erwehren gibt sich Belle schließlich ihrem “Lover“ hin. Das ist kaum zu ertragen und wenn der gute Dion dann nach seinen erfolgreichen “Eroberungen“ Belle als “Was für eine Frau!“ bezeichnet, möchte man ihm am liebsten mit “Was für ein Arschloch!“ entgegnen.
Wenn der Film dieses Verhalten nun kritisch sehen würde, wäre das ja im Kontext einer mahnenden Botschaft kein Problem. Leider ist aber das Gegenteil der Fall, vielmehr wird hier die Botschaft vermittelt, dass solch ein Verhalten völlig ok ist, weil eigentlich hat es die Frau ja gewollt. So ist Belle nach jeder Übergriffigkeit natürlich Hin und Weg von soviel brachialer Männlichkeit. Manche der Szenen werden sogar noch mit dem Versuch eines Gags abgerundet, da schüttelt es einen doch bedenklich. Im ganzen Film bekommt man dazu nie irgendeine Szene serviert, bei der gefühlt echte Liebe oder Zärtlichkeiten zwischen diesen beiden Figuren ausgetauscht werden, wodurch die Glaubwürdigkeit dieser Beziehung in jeglicher Hinsicht bald an die Wand gefahren ist.
Da hilft es dann auch wenig, dass nach einer Weile mit Dions Bruder Jack dem Publikum eine Art moralischer Anker geboten wird. Doch diese Figur kommt viel zu naiv und blass daher, um der Geschichte wirklich einen neuen Drive zu geben. Dabei haben die Intrigen, die Dion bald gegenüber seinem eigenen Bruder spinnt, durchaus das Potential für ein paar interessante Konflikte. Die Chance auf mehr verpasst man aber durch ein oberflächliches Drehbuch, dass daraus nichts wirklich Cleveres generieren kann. Einen wirklichen Vorwurf kann man den Schauspielerinnen und Schauspielern dabei nur bedingt machen – auch wenn niemand wirklich herausragt (auch die mit dem Oscar für die beste Nebenrolle als Mutter ausgezeichnete Alice Brady nicht) geben sich doch alle sichtbar Mühe.
Wirklich ankreiden kann man Regisseur Henry King ("Jahrmarktsrummel") dagegen die sehr statisch wirkende Inszenierung, die alles einfach altbacken wirken lässt. So ein klein wenig fühlte ich mich an manch schlechten Filme unserer Reihe kurz nach der Einführung des Tontechnik erinnert. Uninspiriert eingeworfene Gesangseinlagen und eine stotternde Nebenfigur als “Comic Relief“ – das habe ich nun wirklich nicht vermisst. Vielleicht ja auch bezeichnend, dass der englische Originaltitel des Filmes (“In Old Chicago“) an den bisher schlimmsten Beitrag unserer Oscar-Reihe erinnert (“In Old Arizona“).
Ganz so übel fällt “Chicago“ am Ende aber nicht ganz aus, was am visuell durchaus beeindruckenden Schlussspurt liegt. Das ist schon ziemlich eindrucksvoll, wie man hier ohne Computereffekte den berühmten Großbrand von Chicago aus dem Jahr 1871 auf die Leinwand bringt. Für seine Arbeit an den Szenen erhielt Robert Webb dann auch durchaus verdientermaßen den letzten jemals vergebenen Oscar in der kurzlebigen Kategorie “Beste Regieassistenz“. Doch so kompetent das dramatische Spektakel auch umgesetzt ist, es fehlt einfach der emotionale Unterbau um bei diesen Szenen echte Emotionen auszulösen. Wie Clark Gable in “San Francisco“ läuft auch hier Dion unter Schock durch eine verwüstete Stadt, doch wirkliches Mitgefühl stellt sich angesichts dessen bisherigem Verhalten nicht wirklich ein. Stattdessen erhält man dann auch noch ein Ende, dessen Botschaft nur schwer zu schlucken ist. Die besteht nämlich vor allem darin, dass die gute Belle sich doch besser mal zusammenreißen und Dion eine gute Ehefrau sein soll. Die vom Film beabsichtigte positive Aufbruchstimmung weckt diese Aussage nun wirklich nicht.
Und so entpuppt sich “Chicago“ am Ende als wirklich ärgerliches Filmerlebnis. Und da hilft es auch nicht, dass vor einigen Jahren 15 verschollene Minuten vom Originalfilm wieder aufgetaucht sind – wirklich viel Mehrwert haben diese nicht zu bieten. Sie ziehen den Film eher noch mehr unnötig in die Länge, zum Beispiel durch einen um ein Begräbnis verlängerten Prolog. Immerhin mit einem haben die Mitglieder der O'Leary Familie am Ende recht. Immer wieder bemerken sie süffisant, dass ihre Familie ja nun wirklich ein bisschen merkwürdig sei. Dem möchte ich zustimmen – allerdings mit der Ergänzung, dass diese Merkwürdigkeit soweit geht, dass man mit ihnen nicht wirklich Zeit verbringen möchte.
"Chicago" ist aktuell als DVD auf Amazon in Deutschland verfügbar.
Trailer zu "Chicago" mit Bildern von der Filmpremiere
Ausblick
In unserer nächsten Folge steuern wir gleich wieder auf eine Katastrophe zu. Glücklicherweise in einem deutlich besseren Film, auch wenn wir dort ebenfalls auf ein weiteres problematisches gesellschaftliches Phänomen aus alten Zeiten treffen.
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