
Es gibt unterschiedliche Gründe, warum wir ins Kino gehen. Die einen bevorzugen pures Unterhaltungskino, bei dem man sich entspannt zurücklehnen, abschalten und genießen kann. Anderen wiederum reicht dies nicht – sie möchten von Filmen zum Nachdenken angeregt werden und nicht alles schon wieder auf dem Nachhauseweg vergessen haben. Wer zu Letzteren gehört, der kann jetzt schon einmal am 16. August ein dickes Kreuz in seinen Terminkalender malen. “We need to talk about Kevin“ ist einer dieser Filme, die im Gedächtnis der Zuschauer hängen bleiben werden. So bedrückend der Film, dessen Schluss ein wahrer Schlag in die Magengrube ist, auch sein mag – die intelligente und vor allem auch konsequente Umsetzung der thematisch schwierigen Buchvorlage ist ein unerwartetes Highlight in Mitten des actionreichen Blockbustersommers. Angehende Eltern sollten aber eventuell ein paar Jahre warten, bevor sie sich auf dieses verstörende Psychogramm eines Kindes, das Versagen seiner Eltern und die daraus resultierenden dramatischen Folgen einlassen.
Kinderfreuden sind nämlich nicht gerade das, was Eva (Tilda Swinton, “Michael Clayton“, “Der seltsame Fall des Benjamin Button“) angesichts ihres neugeborenen Kindes empfindet. Der kleine Kevin entpuppt sich in jeder Altersstufe (gespielt von Ezra Miller, Jasper Newell und Rock Duer) als wahres Monster, welches seiner Mutter das Leben zur Hölle macht. Ihr Mann Franklin (John C. Reilly, “Der Gott des Gemetzels“, “Gangs of New York“) ist ihr dabei leider keine große Hilfe, da er das eigentümliche Verhalten des Sohnes nicht wirklich als ernsthaftes Problem betrachtet. Er hätte sich wohl auch kaum träumen lassen, dass Kevin die Familie direkt in Richtung Abgrund steuert.
Es gibt eine wundervolle Szene, die das Verhältnis von Eva zu Kevin perfekt zusammenfasst. Genervt von ihrem stets schreienden Baby stellt sich Eva bei einem Spaziergang mit ihrem Kinderwagen neben eine Baustelle und genießt den Lärm des Presslufthammers. Letztendlich hält aber auch diese “Ruhe“ nur kurz, denn selbst hier gewinnt Kevin nachher die Oberhand und “brüllt“ sich zurück ins Gedächtnis der Mutter. Diese Szene ist sinnbildlich für eine Frau, die offenkundig vollkommen überfordert ist mit dem was sie da in die Welt gesetzt hat. Was sich nun entwickelt ist ein wahres Psychoduell zwischen Mutter und Sohn, bei dem das laute Brüllen des Neugeborenen noch der harmloseste Konflikt ist. Je älter Kevin wird, desto perfider wird sein Spiel mit Eva, die schon bald mit Ihren Nerven am Ende ist und keine Lösung für den Umgang mit ihrem aufmüpfigen Zögling hat, der nicht nur terrorisiert, sondern vor allem auch manipuliert, und Vater und Mutter gekonnt gegeneinander ausspielt.
Das schöne ist, dass sich die Macher wirklich viel Zeit für die kleinen Feinheiten dieses Psychoduells genommen haben. So wird selbst ein harmloses Spiel mit dem Ball zu einem wahren Psychokrieg. Die Hilflosigkeit von Eva, ihre Freude dann vielleicht scheinbar doch zu ihrem Sohn endlich Kontakt gefunden zu haben, nur um dann ein weiteres Mal enttäuscht zu werden – all das wird überzeugend dargestellt und dürfte bei einigen Eltern wohl eine Art Déjà-vu auslösen. Allerdings ist auch relativ bald klar, dass es in diesem Film nicht einfach nur um den Familienfrieden geht. Denn schon bald stellt sich bei dem Zuschauer das seltsame Gefühl ein, dass da irgendetwas Merkwürdiges passiert sein muss.
Die Art wie der Film diese unbehagliche Atmosphäre aufbaut und dann konsequent auf das wirklich dramatische Ende zusteuert, ist dann auch seine wohl größte Stärke. Um das zu erreichen spielt Regisseurin Lynne Ramsay hierbei nicht nur mit einem Farbmotiv, was sich durch den ganzen Film zieht, sondern jongliert vor allem auch gekonnt mit unterschiedlichen Zeitebenen. “We need to talk about Kevin“ springt zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her und erschafft ein wirklich faszinierendes Puzzle, bei dem sich ganz langsam immer mehr Details zu dem sich entfaltenden Desaster offenbaren. Ramsay wählt hier auch immer wieder clevere Übergänge, insbesondere wenn sie zwischen dem jungen Kevin im Elternhaus und dessen späteren Aufenthaltsort hin und her springt, die auf intelligente Weise aneinander anknüpfen. So erschafft der Film eine unglaublich packende Atmosphäre und eine ganz unbehagliche Spannung, die immer weiter ansteigt und nur im zweiten Drittel einmal kurz etwas ins Stocken gerät - am Schluss dann aber mit einem richtigen Paukenschlag zu Ende gebracht wird.
Das die Atmosphäre des Films so intensiv wirkt, liegt natürlich auch an dem tollen Schauspielensemble. Swinton ist ja generell eine unglaublich faszinierende Schauspielerin, deren ganz eigene Ausstrahlung auch hier wieder voll zur Geltung kommt. Erschauern lässt einen aber vor allem die Figur des Kevin, wohl eine der unbehaglichsten Kinderfiguren, die jemals über die Leinwand geflimmert ist. Von der Kritik wurde vor allem Ezra Miller mit reichlich Lob bedeckt, doch auch die anderen Darsteller des Kindes liefern eine wirklich faszinierende Leistung ab. Ein klassischer Fall eines Castings, welches einem schon guten Film noch einmal das Sahnehäubchen aufsetzt.
Das Ende des Films wiederum lässt natürlich die vorangegangenen Minuten in einem ganz neuen Licht erscheinen und wirft viele Fragen auf. Welche Schuld trägt Eva, an dem was da passiert ist? Welche Verantwortung Franklin, der als Vater vollkommen naiv die Problematik mit Kevin unterschätzt hat? Gibt es Menschen, die einfach böse geboren werden? Eindeutige Antworten auf diese Fragen sind unmöglich und die Wahrheit liegt dann wohl auch irgendwo in der Mitte – was im Wesentlichen dann auch die Haltung des Films ist. Interpretationsmöglichkeiten bietet er aber auf jeden Fall reichlich, und genau das macht “We need to talk about Kevin“ dann so faszinierend. Dadurch, dass er sich die Zeit nimmt und auf intelligente Weise versucht die Entwicklung von Kevin zu begleiten (lediglich einmal fällt er in die Klischeefalle, Stichwort Spielkonsole), gibt er dem Zuschauer jede Menge faszinierendes Diskussionsmaterial auf den Weg. Gepaart mit einer cleveren Inszenierung und tollen Darstellerleistungen ergibt das dann genau das, was uns Filmliebhabern am liebsten ist: Intelligentes Kino, das durch Mark und Bein geht und uns noch lange im Gedächtnis bleiben wird.
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