September 5 – The Day Terror Went Live

Jahr
2024
Laufzeit
95 min
Genre
Regie
Release Date
Bewertung
9
9/10
von Matthias Kastl / 23. Januar 2025

Manchmal sagt Stille mehr als tausend Worte. Am Ende meines Kinobesuches von "September 5 – The Day Terror Went Live" harrte das komplette Publikum gefühlt noch eine Minute andächtig aus, bevor sich dann die ersten langsam aus ihrem Kinosessel erhoben. Dieser emotionale Nachhall lag nicht allein an der nachdenklich stimmenden letzten Szene, sondern auch schlicht an Erschöpfung. Dem Schweizer Regisseur Tim Fehlbaum und seinem Team gelingt hier nämlich eine fesselnde Aufarbeitung der Anschläge während der Olympischen Spiele 1972, die vor allem dank einer ungewöhnlichen Herangehensweise den Schock und die Dramatik jener Ereignisse auf packende Weise "erlebbar" macht.

"September 5" schildert die dramatische Geschichte des Terroranschlags von München, bei dem Mitglieder der palästinensischen Organisation „Schwarzer September“ im Olympischen Dorf mehrere israelische Athleten als Geiseln nahmen, ganz aus der Perspektive einer amerikanischen Fernsehcrew. Im kleinen Studio von ABC Sports, direkt neben dem Olympischen Dorf, ist der noch unerfahrene Geoffrey Mason (John Magaro, "Past Lives", "The Big Short") an dem Tag zum ersten Mal für die Senderegie verantwortlich. Als die dramatischen Ereignisse ihren Lauf nehmen, entscheidet der Präsident des Senders (Peter Sarsgaard, "An Education", "Flightplan") vor Ort, die Live-Übertragung fortzusetzen. Auf einmal stehen vor allem Mason, der Produktionsleiter Marvin Bader (Ben Chaplin, "Mord nach Plan", "Birthday Girl") und auch die deutsche Übersetzerin Marianne Gebhardt (Leonie Benesch, "Das Lehrerzimmer") vor enormen Herausforderungen – denn keiner von ihnen hat auch nur irgendeine Erfahrung mit der Berichterstattung von Krisensituationen.
 


Die Geiselnahme von München und die anschließende missglückte Befreiungsaktion zählen zu den dunkelsten Kapiteln der deutschen Nachkriegsgeschichte. Wie unvorbereitet das Drama damals alle traf und welcher Schock damit einherging, versucht der Film durch einen besonderen erzählerischen Kniff einzufangen: Er beschränkt sich konsequent auf die Perspektive der Fernsehcrew und spielt fast ohne Ausnahme in deren Studio nahe des olympischen Dorfes. Dadurch erlebt man die Ereignisse dieser aufwühlenden Tage ausschließlich durch deren Augen – sei es, was die Crew vom Gebäude aus sieht und hören kann, durch Filmmaterial der hauseigenen Kameraleute, die Berichterstattung anderer TV- und Radiosender oder den Funkkontakt zu Teammitgliedern, die vor Ort unterwegs sind.

Manche Informationen erreichen unsere Protagonisten dabei nur mit Verzögerung, etwa wenn Filmmaterial erst per Kurier aus dem Olympischen Dorf ins Studio gebracht und dort zur ersten Sichtung abgespielt werden muss. Als kleines Schmankerl darf man dabei auch noch ein paar alte TV-Techniken bewundern, wie die liebevolle analoge Produktion von Titelgrafiken. Wie Regisseur Fehlbaum und Cutter Hans-Jürgen Weißbrich die unterschiedlichen Informationsquellen der Protagonisten miteinander verweben, um nicht nur die Ereignisse nachzuzeichnen, sondern gleichzeitig auch die Spannung immer weiter anzuziehen und die Figuren dabei emotional zu überrollen, ist schlichtweg großartig. Weil das Publikum stets denselben begrenzten Informationsstand wie die Charaktere hat, fiebert man hier gefühlt in Echtzeit mit. Dem Film spielt dabei natürlich in die Karten, dass damals das Informationszeitalter noch in den Kinderschuhen steckte und man eben nicht mal schnell auf dem Handy aus einem von 20 Live-Feeds wählen konnte. So haben unsere Figuren über weite Strecken große Informationslücken und sehr oft zieht sich die Spannung hier nicht aus den Informationen, die die Figuren erhalten, sondern vor allem aus denen, die ihnen gerade fehlen.
 


Ein großer Teil der Dramatik speist sich auch aus den geschockten Reaktionen der TV-Crew, die unter enormem Druck auch noch Entscheidungen mit weitreichenden Konsequenzen treffen muss. Da bricht schon einmal Panik aus, wenn diesen bewusst wird, dass sie gerade live die Vorbereitungen zur Erstürmung des Gebäudes durch die Polizei senden, die Attentäter aber ihren Sender ebenfalls empfangen können. Über allem schwebt aber natürlich die zentrale Frage, die sich vor allem Mason und Bader immer wieder stellen: Wann ist das hier nicht mehr verantwortungsvoller Journalismus, sondern eventuell gefährliche Sensationsgier?

Mit die stärksten Szenen des Films sind dann auch jene, in denen die Führungscrew sich im Flur zu spontanen Krisenkonferenzen versammelt. Denn selbst das Finden des richtigen Wordings für eine Live-Ansage wird hier zur Gratwanderung, da jede Formulierung die Wahrnehmung der Situation außerhalb der eigenen Mauern entscheidend beeinflussen kann. Da die Crew keinerlei Erfahrung auf diesem Gebiet hat und sehr bodenständig daherkommt, wirken diese Diskussionen nie zu abgehoben und machen es einem leicht mit anzudocken und sich selbst ebenfalls Gedanken zu machen. Vor allem John Magaro und Ben Chaplin vermitteln den auf ihnen lastenden Druck dabei so anschaulich, dass man schnell in deren Köpfe schlüpft und ebenfalls emotional mitgerissen wird. Und sich am Ende fast genauso erschöpft wie die Figuren fühlt, da der Film auch nicht den Fehler begeht seine Laufzeit unnötig auszureizen und so kaum eine Verschnaufpause lässt. 
 

 
Der einzige größere Kritikpunkt betrifft ausgerechnet die prominenteste deutsche Vertreterin vor der Kamera. Leonie Benesch, eigentlich eine tolle Schauspielerin, kommt im Vergleich zu ihren Kollegen einfach eine Spur zu steif daher. Gerade in der englischen Originalversion fällt dabei auf, dass ihr stets perfekt formuliertes Hochdeutsch viel unnatürlicher wirkt als die Präsentation der Dialoge ihrer internationalen Schauspielkollegen. Ein leider im deutschen Kino öfters auftauchendes Problem, das mit der klassischen Schauspielausbildung in unserem Land zu tun hat, und einen hier zumindest vereinzelt etwas irritiert. Das ändert aber nichts daran, dass wir hier mit einem wirklich mitreißenden Kammerspiel ins neue Kinojahr starten – angereichert um einige interessante Fragestellungen rund um den Berufsethos von Journalisten. Von solchen Filmen kann es ehrlich gesagt nicht genug geben und es ist schön zu sehen, dass auch die Academy das honoriert und dem Werk eine Oscar-Nominierung in der Kategorie "Bestes Originaldrehbuch" spendiert hat.

Bilder: Copyright

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