Es ist kaum zu glauben angesichts der Bekanntheit der Bürgerrechtsikone Martin Luther King, doch wurde er in den vergangenen 50 Jahren nie Hauptperson eines Kinofilms. Dies ändert sich nun endlich mit „Selma“. Und sogar dieser Film der afroamerikanischen Regisseurin Ava DuVernay, der auf einem Drehbuch des Briten Paul Webb basiert, benötigte fast acht Jahre seit der ersten Drehbuchfassung und wäre ohne die Unterstützung von Oprah Winfrey als Produzentin vermutlich bis heute nicht zustande gekommen. Statt eines „Cradle-to-the-Grave-Biopic“, also einer filmischen Biographie von der Wiege bis zur Bahre, konzentriert sich DuVernay schwerpunktmäßig auf einen Zeitraum von nur wenigen Monaten im Leben von Martin Luther King, als dieser in der Stadt Selma in Alabama versuchte, durch gewaltfreie Proteste und Protestmärsche Druck auf Präsident Lyndon B. Johnson auszuüben, damit dieser endlich ein Gesetz gegen die Diskriminierung der Afroamerikaner auf den Weg bringen würde. Doch trotz bekannter Schauspieler und einer dramatischen Grundgeschichte mit tollen Figuren ist „Selma“ nur ein guter und kein herausragender Film geworden, der weder die durchkomponierte Perfektion von Steven Spielbergs „Lincoln“ oder die emotionale Wucht von Steve McQueens „12 Years a Slave“ erreicht.
„Selma“ beginnt mit dem Abend, an dem Martin Luther King (David Oyelowo) in Oslo im Dezember 1964 den Friedensnobelpreis entgegennimmt. Nach einem Schnitt sieht man vier afroamerikanischen Mädchen (11 bis 14 Jahre alt) eine Kirchentreppe herunterkommen und sich über Frisuren unterhalten. Dann setzt die Zeitlupe ein und es fliegen nur noch Fetzen durchs Bild, denn ein Bombenanschlag von Ku-Klux-Klan-Mitgliedern hat die Mädchen in Stücke gerissen. Lag der Bombenanschlag auf die 16th Street Baptist Church in Birmingham, Alabama, auch zum Zeitpunkt der Nobelpreisverleihung schon ein Jahr zurück, so zeigt DuVernay hier schon, wie es in Alabama Mitte der 60er Jahre zuging. Martin Luther King versucht den Präsidenten Lyndon B. Johnson (Tom Wilkinson) Anfang 1965 davon zu überzeugen, ein Gesetz auf den Weg zu bringen, das endlich die Diskriminierung von Afroamerikanern beim Eintragen in die Wahlregister beendet, doch will Johnson gerade lieber in den Krieg gegen die Armut ziehen - er hat doch schließlich schon im Vorjahr mit seinem „Civil Rights Act“ die Rassentrennung in öffentlichen Gebäuden formal abgeschafft. King will nicht warten, denn obwohl es eigentlich keine Diskriminierung beim Wählen mehr geben darf, werden in den Südstaaten durch Wahlsteuern, Analphabetismus-Tests und Wissenstests Afroamerikaner weiterhin vom Wählen abgehalten. Wer nicht im Wahlregister steht, darf zudem auch nicht Teil einer Geschworenenjury werden.
So ziehen King und seine Gefährten von der „Southern Christian Leadership Conference“ (SCLC) auf in die kleine Stadt Selma in Alabama, um den Präsidenten unter Druck zu setzen. Mit einem hasserfüllten, rassistischen Polizeichef und einem Anteil von über 50 Prozent afroamerikanischer Bewohner, von denen gerade einmal zwei Prozent es ins Wahlregister geschafft haben, scheint Selma die perfekte Kulisse für die gewaltfreien Proteste der Bürgerrechtsbewegung zu sein, denn King weiß, dass Proteste medial nur dann wirksam werden, wenn sie auf Polizeibrutalität treffen und in Bildern dem Rest Amerikas und der Welt zeigen, wie es einem ergeht, wenn man in Alabama die falsche Hautfarbe hat und eigentlich nur friedlich sein verfassungsmäßiges Wahlrecht ausüben möchte.
Das Drehbuch von „Selma“ existierte schon seit 2007 und es waren so unterschiedliche Regisseure dafür im Gespräch wie Michael Mann, Stephen Frears, Paul Haggis, Spike Lee und Lee Daniels, der dann allerdings stattdessen „Der Butler“ machte. Ava DuVernay hatte zwar wenig Erfahrung als Regisseurin, hatte sie doch lange Jahre in Filmmarketing und -PR gearbeitet, doch hatte sie 2012 als erste afroamerikanische Frau mit „Middle of Nowhere“ den Regiepreis beim Sundance-Filmfestival gewonnen. Als endlich die Finanzierung stand, da sich Oprah Winfrey einverstanden erklärt hatte, den Film zu produzieren, schlug der Hauptdarsteller David Oyelowo die Regisseurin vor, für die er gerade bei „Middle of Nowhere“ mitgespielt hatte.
Der Brite David Oyelowo erweist sich als sehr gute Besetzungswahl für Martin Luther King. Seine Ansprachen reißen durchgehend mit und auch die Zweifel und Ängste der Ikone zeigt Oyelowo nuanciert. Dies fällt besonders auf, da DuVernay keine Nutzungsrechte an den Reden von Martin Luther King bekam und so hier zum Beispiel auch der March on Washington mit Kings wohl bekanntester Rede „I have a Dream“ nicht gezeigt wird. Alle von Oyelowos Reden im Film sind von Drehbuchautor Paul Webb zusammen mit der Regisseurin geschrieben und klingen aus Oyelowos Mund trotzdem, als könnten sie von King selbst sein. Doch warum spricht Oyelowos King so merkwürdig gestelzt mit seiner Frau Coretta King Scott (Carmen Ejogo)? Es wäre schön gewesen, mehr von Ejogo zu sehen, da gerade ihre Figur und die Ehe der beiden, die zu diesem Zeitpunkt unter nächtlichen rassistischen Drohanrufen genauso wie unter dem Zuspielen von Informationen über Affären von King durch das FBI litt, zwar thematisiert, aber nicht weiter dramaturgisch ausgeführt werden. Es sind auch einige Fehlgriffe beim Casting vorhanden wie gerade die Antagonisten im Film: Tom Wilkinson als Lyndon B. Johnson, Tim Roth als Alabamas rassistischer Gouverneur George Wallace sowie besonders Dylan Baker als Edgar J. Hoover. All diese sehen weder aus wie ihre historischen Figuren noch sprechen oder erinnern sie an diese. Gerade die Figur Lyndon B. Johnsons in „Selma“ wurde in den USA kontrovers diskutiert, wird er doch hier als aus dramaturgischen Gründen als erheblich härterer und böser Gegenspieler von King dargestellt, als er dies wohl tatsächlich war.
An anderer Stelle wiederum werden in der Dramaturgie genau die richtigen Akzente gesetzt, um die Gefahren rund um King darzustellen. Ava DuVernay zeigt Kings Ermordung wenige Jahre nach den Geschehnissen in Selma nicht, doch ist die Möglichkeit des gewaltsamen Todes jederzeit sowohl bei King als auch bei seiner Frau im Hinterkopf. Kennedy war 1963 erschossen worden und Malcolm X wird während der Handlungszeit des Films erschossen. Auch die als Schreibmaschinenschrift erscheinenden Akteneinträge der FBI-Überwachung von King bei besonderen Ereignissen in „Selma“ schaffen eine bedrohliche Grundstimmung.
Die Gewaltszenen werden meist in Zeitlupe gezeigt, büßen dadurch aber einiges ihrer emotionalen Wirkung ein. Gerade die Polizeibrutalität beim ersten Marsch von Selma nach Montgomery schafft durch die Ästhetisierung etwas Distanz zum Zuschauer, ganz im Gegensatz zu der Nähe zum Geschehen für die 70 Millionen Menschen, die diese Gewalt damals live im Fernsehen sahen.
Es war klar, was die Bürgerrechtsbewegung wollte, doch war der Weg dahin nicht klar. Und so nimmt sich „Selma“ viel Zeit, um den Prozess hinter den Kulissen zu zeigen. Die Studenten des Student Non-Violent Coordinating Committee (SNCC) in Selma hatten schon jahrelang an Verbesserungen gearbeitet und waren nicht begeistert, dass King dort einfach hineinplatzte und die Hauptrolle übernehmen wollte, genau so, wie es auch die gab, die eher auf der Seite von Malcolm X waren und nicht annahmen, dass gewaltfreie Proteste ausreichen würden. Es ist interessant, dass die Regisseurin dies hier thematisiert, doch bremst es gerade zu Beginn des Films die Handlung aus und lässt ihn zwischendurch wie ein prozessorientiertes Dokudrama wirken. DuVernay nannte diesen Film absichtlich „Selma“ und nicht zum Beispiel „Martin Luther King“, da es um die Bürgerrechtsbewegung zu diesem Zeitpunkt der Geschichte in genau diesem Ort gehen sollte, doch leider erfährt man als Zuschauer zu wenig über die anderen Bürgerrechtler, um ihnen wirklich nahe zu kommen.
Als Fazit bleibt, dass DuVernay es trotz einiger Schwächen geschafft hat, dass die Ereignisse in Selma nicht vergessen werden. Sie zeigt mit diesem Film sogar im Soundtrack auch die noch heute andauernde Bedeutung des Themas. Besonders die Polizeibrutalität gegen Afro-Amerikaner ist immer noch erschreckend aktuell durch Todesfälle wie der von Michael Brown in Ferguson oder des 12-jährigen Tamir Rice in Cleveland.
Auch die Wichtigkeit des Wahlrechtsgesetzes von 1965 nimmt bis heute leider nicht ab: Nachdem im Fall „Shelby County v. Holder“ 2013 der Oberste US-Gerichtshof eine zentrale Klausel des Gesetzes mit der Begründung aufhob, Rassismus und Diskriminierung seien vorbei und die Afroamerikaner benötigten daher keinen Rechtsschutz mehr (man habe ja schließlich sogar einen afroamerikanischen Präsidenten), kam es in diversen Bundesstaaten zu einer Zunahme von Wählerdiskriminierung. Zum Beispiel in Calera in der Nähe von Selma, wo die Grenzen der Wahlkreise so umgelegt wurden, dass dort fast nur Weiße an die Macht kommen. Auch ein willkürlicher Ausweiszwang oder eine vorzeitige Schließung von Wahllokalen finden in manchen Bundesstaaten mittlerweile wieder statt und halten Minderheiten vom Wählen ab. Und so ist es wichtig, dass gerade heute die Ereignisse von Selma nicht vergessen werden.
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