Man kauft sich eine einzige Kinokarte und bekommt dafür Filme von Gus von Sant, Tom Tykwer, Wes Craven, den Coen-Brüdern, Alfonso Cuaron, Walter Salles und noch einigen mehr zu sehen. Unvorstellbar? Nein, die Kurzfilmkompilation "Paris je t'aime" macht es möglich und präsentiert 20 Filme von international anerkannten und geschätzten Regisseuren, die eigentlich nur eine einzige Vorgabe hatten: Einen Film in jeweils einem der Pariser Stadtteile zu drehen.
Obwohl
jeder von ihnen nicht mehr als fünf Minuten zum Gesamtwerk
beiträgt, können viele der Regisseure eindrucksvoll ihre
ganz eigene Handschrift hinterlassen. Dabei wundert man
sich oft,
wie manche der Filmemacher geschickt mit den Klischees
ihrer Arbeit
spielen. Ein Beispiel: Wes Craven gilt gemeinhin als
profilierter
Horrorregisseur. Die wenigsten Leute würden von ihm einen
leichten,
lakonisch-melancholisch inszenierten Ehestreit erwarten,
doch genau
das behandelt Cravens Beitrag "Père-Lachaise".
Vielleicht - und da ist er dann doch wieder ganz bei
seinen Wurzeln
angelangt - ist der Ort der Handlung wieder typisch für
ihn.
Das Pärchen verkracht sich nämlich auf dem Pariser
Friedhof.
Bevor man "Père-Lachaise" sieht, wird man Zeuge,
wie im Beitrag von Vincenzo Natali "Quartier de la
Madeleine"
ein amerikanischer Tourist (Elijah Wood) von einem
brutalen weiblichen
Vampir angegriffen wird. sich dann aber in sie verliebt.
Es ist
ein düsterer, in Schwarz-Weiß gedrehter Kurzfilm, der
immer mal wieder rotes Blut aufleuchten lässt (eine
deutliche
Anleihe an "Sin City").
Es
gibt Filme mit wunderschönem schwarzem Humor, wie zum
Beispiel
die Episode "Tuileries" der Gebrüder Coen, in der
ein amerikanischer Tourist (grandios gespielt von Steve
Buscemi)
den Rat seines Reiseführers, niemals in der U-Bahn die
Menschen
direkt anzugucken, nicht befolgt und prompt die Rache der
Pariser
zu spüren bekommt.
Die Kurzfilme sind gespickt mit großartigen, namhaften
Schauspielern,
die hier oft ohne Bezahlung mitspielten. Natalie Portman
spielt
eine Studentin, die sich in einen Blinden verliebt. Ein
falsch verstandenes
Telefonat der beiden führt dazu, dass der Mann um seine
Beziehung
fürchtet und sich nochmal an das erste Treffen erinnert.
Tom
Tykwer inszeniert diese Folge mit einer künstlerischen
Leichtigkeit
und Finesse, wie er es vielleicht seit "Lola rennt" nicht
mehr geschafft hat.
So schön und visuell einfallsreich ist "Paris je t'aime"
nicht immer. Es wäre naiv zu glauben, dass jeder Kurzfilm
großartig
geworden ist. Man bemerkt sofort, dass die Regisseure - so
einfallsreich
ihre Ansätze auch sind - meistens "nur" mit den gängigen
Paris-Klischees spielen.
Da kommt die Figur des amerikanischen Touristen dann
besonders oft
vor. Es ist ebenfalls auffällig, dass es keinen animierten
Film gibt. Dabei wollte Regisseur Sylvian Chomet genau das
abliefern.
Aber er scheiterte an den zu hohen Produktionskosten und
so musste
der Macher von "Das große Rennen von Belleville"
seinen ersten nicht-animierten Film drehen. Seine Episode
"Tour
Eiffel" schildert die aberwitzige und zutiefst berührende
Liebesgeschichte zweier Pantomimen. Fünf Minuten, die man
gesehen
haben muss.
Da wirkt der Kurzfilm von Walter Salles mit dem Titel
"Loin
du 16ème" schon realistischer. Es ist ein präziser
Blick auf eine Frau (wirklich umwerfend gespielt von
Catalina Sondino
Moreno), die nur "schwarz" arbeiten kann und noch ein
Kind versorgen muss. Salles schaut auf die Untersicht der
Metropole,
ganz abseits der Touristen und frisch Verliebten. Es gibt
Menschen,
die auf der Straße nicht weiter auffallen, wenn sie neben
uns im Bus oder an der Ampel stehen. Aber ihr Alltag ist
um vieles
gefährlicher und riskanter als unserer. Vielleicht ist
diese
beeindruckende Episode nur ein Vorgeschmack für einen
ganzen
Spielfilm. Genug Potential hat sie auf alle Fälle. Und ist
das nicht das Beste was man über einen Kurzfilm sagen
kann?
Es gibt sicherlich auch
weniger gelungene
Beispiele in "Paris je t'aime". Die ziemlich mühsam
konstruierten Episoden der französischen Regisseure fallen
da besonders negativ auf. Wahrscheinlich ist doch ein
Blick aus
einer gewissen Distanz nötig, um Paris in neuen Facetten
zu
zeigen.
Nick
Nolte besucht eine viel jüngere Frau. Bob Hoskins ist auf
der
Suche nach seinem zweiten Frühling in einem Pariser
Bordell.
Willem Dafoe irrt als Cowboy durch die Straßen und spendet
auf eine gruselige Art und Weise einer trauernden Mutter
Trost.
Das sind nur einige der tollen Eindrücke, die man in
dieser
Kurzfilmsammlung geboten bekommt. Und wenn Alexander Payne
(der
übrigens einen furiosen Gastauftritt in der Craven-Episode
als toter Oscar Wilde hat) den Reisebericht einer
Amerikanerin zeigt,
die nicht mehr wirklich schlank und auch nicht mehr
wirklich schön
ist, und sie in einem Licht erscheinen lässt wie es
vielleicht
nur er kann, dann erkennt nicht nur sie, dass man zuerst
das Leben
lieben lernen muss, um dann sich und damit auch eine Stadt
wie Paris
lieben zu können.
Und wie soll man diese Kurzfilmkompilation nun bewerten? Es gibt Episoden, die verdienen ohne jeden Zweifel neun Augen, vielleicht sogar mehr. Dann gibt es aber auch Beiträge, die deutlich unter der Schmerzgrenze residieren und es schaffen, aus fünf Minuten gefühlte fünf Stunden zu machen. Diese sind aber zum Glück in der Minderzahl, und wenn von 20 Kurzfilmen vier nicht ganz die Brillanz der anderen halten können, verdienen sich vier Fünftel von "Paris je t'aime" trotzdem eine klare Empfehlung und damit acht Augen.
Solche Kurzfilm-Filme haben immer ein Problem: man überlegt zwangsläufig, welcher Kurzfilm nun der beste war, welcher der schlechteste usw. Da nie alles auf gleichem Niveau ist, bleibt zur Gesamtbewertung immer nur ein Mittelwert - und der ist hier aber durchaus hoch. Es gibt einige Enttäuschungen, für mich vor allem Gus van Sant, einiges so 'lala' (die letzte Episode mit der amerikanischen Touristin) und ein paar echte Highlights, vor allem die Episode von T. Tykwer und die oben beschriebene von Walter Salles. Gerade letzterer zeigt, wie man mit minimalem Erzählen ein komplexes gesellschaftliches Problem (Immigranten, Schwarzarbeit, Ober-/Unterschicht, Vororte/Innenstadt) in kürzester Zeit bewegend rüberbringen kann.
Fazit: Wirklich sehenswert.
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