Die Filmographie von Jeff Nichols umfasst mit „Shotgun Stories“, „Take Shelter“ und „Mud“ bislang erst drei Filme, doch mit jedem dieser Werke konnte der US-Regisseur die Kritiker und das Publikum gleichermaßen begeistern. Zugegeben, ein großer Publikumshit ist ihm mit keinem dieser drei Filme gelungen, aber unter Cineasten hat Nichols (auch in der Filmszene-Redaktion) in kurzer Zeit viele Fans gefunden, die nun gespannt auf jeden neuen Film von ihm warten. Dabei rufen seine Filme häufig ganz unterschiedliche Reaktionen beim Publikum hervor; während die einen etwa „Take Shelter“ als atmosphärisch dichtes Meisterwerk der Regie- und Schauspielkunst feiern, sehen die anderen darin nur langweiligen, pseudo-intellektuellen Quark. Tatsache ist: Nichols‘ Filme lassen sich nicht immer in gängige Genre-Kategorien pressen, verweigern sich so manchen Konventionen und lassen sich deshalb auch nur schwer einem großen Publikum vermitteln. Das führte dazu, dass „Mud“ in Deutschland gar nicht erst im Kino zu sehen war, sondern direkt auf DVD veröffentlicht wurde. Dieses Schicksal bleibt „Midnight Special“ nun zum Glück erspart. Der Film erlebte als Wettbewerbsbeitrag zur diesjährigen Berlinale seine Weltpremiere und kommt nun wenige Tage später deutschlandweit ins Kino.
Doch auch „Midnight Special“ stellt vermarktungstechnisch eine Herausforderung dar und dürfte nur schwer einem breiten Publikum nahezubringen sein. Denn bei dem Film, für den Nichols erneut auch das Drehbuch geschrieben hat, weiß man nicht so genau, welches Genre-Label man ihm aufkleben soll: Drama? Mystery? Thriller? Science-Fiction? Letztendlich stellt „Midnight Special“ wohl eine Mischung aus all dem dar, was den Film zwar einerseits hochinteressant macht, aber so manchen Zuschauer auch unbefriedigt und etwas ratlos zurücklassen dürfte. Mehr dazu gleich, aber zunächst sollte hier der Form halber der Inhalt des Films kurz zusammengefasst werden: In einer erneuten Zusammenarbeit mit Nichols spielt Michael Shannon („Boardwalk Empire“, „Man of Steel“) dieses Mal einen verzweifelten Vater namens Roy, der seinen achtjährigen Sohn Alton (Jaeden Lieberher) aus der Gewalt einer extremen religiösen Sekte befreit. Gemeinsam mit seinem Komplizen Lucas (Joel Edgerton) und seiner Ex-Frau Sarah (Kirsten Dunst) befinden sich Roy und Alton auf der Flucht vor den Mitgliedern der Sekte, dem FBI und der NSA. Die sind nämlich alle ebenfalls hinter Alton her, denn der Junge verfügt über besondere Fähigkeiten. Er scheint in Kontakt zu unbekannten höheren bzw. außerirdischen Mächten zu stehen und empfängt immer wieder Visionen, bei denen ihm Daten, Koordinaten oder geheime Regierungsinformationen mitgeteilt werden.
Roy, Alton, Lucas und Sarah befinden sich also auf der Flucht – mehr muss man inhaltlich eigentlich über „Midnight Special“ nicht wissen. Und viel mehr passiert auch nicht, was einer der Gründe sein dürfte, falls manche Zuschauer mit dem Film nicht viel anfangen können. Mit Altons Visionen und dem gleißenden, bläulich-weißen Licht, das dabei regelmäßig aus seinen Augen strömt, führt der Film früh ein Mystery/Science Fiction-Element ein. Doch wer nun erwartet, auch Erklärungen für diese und andere Vorkommnisse im Film zu erhalten, der wird enttäuscht. Denn während die meisten Science Fiction-Filme ein ganzes Stück Erklärungsarbeit leisten, um dem Zuschauer die Gesetzmäßigkeiten ihrer Welt dazulegen, finden solche Erklärungen hier fast gar nicht statt. Woher und warum Alton seine Visionen empfängt und was die von ihm empfangenen Koordinaten bedeuten, wird zwar am Ende des Films angedeutet, aber explizite Erklärungen bleibt der Film schuldig und die wenigen Antworten, die er liefert, werfen zudem neue Fragen auf.
Das macht die Welt des Films allerdings nicht weniger glaubwürdig, denn die Tatsache, dass man hier ohne Vorwissen mitten in eine Geschichte hineingeworfen wird, verleiht „Midnight Special“ eine eigene Art von Realismus. Diese Geschichte beginnt wie erwähnt, nachdem Roy seinen Sohn aus den Fängen des Sektenführers Calvin Meyer (Sam Shepard) befreit hat, wobei auch die Umstände dieser Befreiung nie völlig geklärt werden. Meyer behauptet nämlich, Alton sei sein Adoptivsohn. Welcher der beiden Männer hier also der Entführer ist, bleibt dem Urteil des Zuschauers überlassen. Auch warum Alton ständig eine Schwimmbrille trägt, warum er stets tagsüber schläft oder was denn eigentlich die geheimen Regierungsinformationen sind, die über Altons Visionen den Mitgliedern der Sekte zugänglich geworden sind, wird nie explizit erklärt. Einige der Fragen, die der Film aufwirft, kann sich der aufmerksame Zuschauer im Verlauf des Films selbst beantworten. Manche davon sind für die Handlung auch gar nicht wichtig.
Jeff Nichols kommt es also offensichtlich nicht darauf an, Antworten zu liefern. Er will vielmehr Fragen stellen, wie auch schon in „Take Shelter“, wo es ebenfalls um Visionen ging (und man nicht genau wusste, ob diese nur eingebildet oder real waren). Von Beginn an baut Nichols in einer gekonnten Kombination aus düsteren Bildern und passender Musik eine angespannte, beklemmende Atmosphäre auf. Michael Shannon leistet wie zu erwarten erstklassige Arbeit; wie bei vielen seiner Figuren hat man auch bei Roy den Eindruck, dass es unter der Oberfläche ganz schön brodelt, er sich aber zusammenzureißen versucht, um nicht vollends die Nerven zu verlieren. Auch Adam Driver („Star Wars: Das Erwachen der Macht“) überzeugt als NSA-Agent, der den Auftrag hat, dem Mysterium um Alton auf den Grund zu gehen, aber selbst nicht so recht weiß, was ihn dabei erwartet.
Nichols‘ Anweisung an seinen Kinderdarsteller Jaeden Lieberher scheint vor allem „weniger ist mehr“ gewesen zu sein. Denn wenn man von den Alton stets schlagartig heimsuchenden Visionen absieht, bleibt Lieberhers Schauspiel angenehm zurückhaltend. Kirsten Dunst als Altons Mutter bekommt leider nicht besonders viel zu tun und ganz besonders von Sam Shepard als Priester der erwähnten Sekte hätte man gerne mehr gesehen. Überhaupt geht dieser Teil der Handlung, der zu Beginn des Films noch so wichtig erschien, im späteren Verlauf dann verloren. Die Beziehung von Shepards Figur zu Alton sowie ihr Konflikt mit Roy wird leider kaum beleuchtet.
An der technischen und schauspielerischen Ausführung gibt es bei „Midnight Special“ also nur wenig zu bemängeln. Nur inhaltlich wirkt der Film bisweilen etwas zäh und langatmig, da ganz einfach nicht besonders viel passiert. Etwas bissig könnte man behaupten, die Handlung des Films hätte auch in weniger als der Hälfte der Laufzeit in einer einzigen Folge von „Akte X“ erzählt werden können. Aber wenn der Film auch seine Längen hat, so legt Jeff Nichols hier doch ein weiteres Mal einer interessante, zum Nachdenken anregende Geschichte vor. „Midnight Special“ bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte, über die es sich zu diskutieren lohnt, beispielsweise die oftmals fragwürdigen Grundlagen, auf denen religiöse Kultorganisationen aufgebaut sind. Der Film mag viele Zuschauer wie erwähnt etwas unbefriedigt und mit dem Gefühl zurücklassen, dass da doch noch mehr hätte kommen müssen. Aber gerade weil er eben zahlreiche Ideen anreißt, ohne sie detailliert zu erklären, wirkt seine Geschichte auch nach dem Abspann noch im Kopf des Zuschauers nach. Und das ist ja stets ein gutes Zeichen.
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