Ohne große Aufregung verläuft das Leben der drei Brüder Son (Michael Shannon), Boy (Douglas Ligon) und Kid (Barlow Jacobs) Hayes, obwohl es sicherlich hätte besser laufen können. Son wurde gerade wieder von seiner Freundin verlassen, was für den jüngeren Bruder Kid bedeutet, dass er aus dem Zelt im Garten wieder ins Haus ziehen kann, und Boy lebt - wenn er nicht gerade ein erfolgloses Highschool-Basketball-Team trainiert - mit seinem Hund in einem Auto. Doch als die Brüder vom Tod des gemeinsamen Vaters erfahren, können sie nicht anders als auf dessen Beerdigung aufzutauchen und mitten in den offenen Sarg zu spucken, was ihren Stiefbrüdern ganz und gar nicht gefällt. Damit entfachen Son, Boy und Kid einen wahren Familienkrieg mitten in der flirrenden Hitze des amerikanischen Westens.
Jeff Nichols hat mit seinem Spielfilmdebüt einen großartigen
Film über Rache gedreht, überhaupt ja ein sehr beliebtes
Motiv in der Filmwelt, ob nun in Form der Feldzüge diverser
Westernhelden, als Tarantinos Rachefantasie "Kill
Bill" oder hin Park Chan-Wooks modernem Klassiker "Oldboy".
Dabei steht meistens die Frage im Mittelpunkt, ob der geplante Racheakt
am Ende ausgeführt werden kann oder nicht. Nicht selten pflastern
viele Leichen und einige Liter Blut den Weg der Kinohelden. Es ist
daher erfrischend, dass Jeff Nichols einen anderen Weg geht, aber
sein Film dabei nicht das Geringste an atemberaubender Spannung
und Effektivität einbüßt.
"Shotgun Stories" lässt sich viel Zeit damit, die
drei Brüder in ihrem sozialen Umfeld zu platzieren und dabei
zu beobachten, wie sie sich durch ihren zumeist trostlosen Alltag
kämpfen. Dabei führt uns die Kamera mitten hinein in die
Gesellschaftsstrukturen der Kleinstadt im amerikanischen mittleren
Westen. In betörenden Cinemascopeaufnahmen fängt die Kamera
die heruntergekommenen Häuser ein, folgt den Bewohnern der
Kleinstadt an den See, in die Fabrik und auf die Baumwollfelder.
Diesen Blick, der zum einen sehr genau auf die schönen, zum
anderen aber auch auf die harten Lebensumstände der Menschen
blickt, behält der Film ständig bei, was ihm
ermöglicht seinen eigentlich Plot mit nüchterner Klarheit
zu betrachten. So zeigt sich, dass das Leben der amerikanischen
weißen Unterschicht, zu der die Brüder gehören,
vor allem durch das Warten auf einen Neuanfang geprägt ist.
Egal, ob Son versucht seine Beziehung aufrecht zu halten, indem
er seiner Freundin immer wieder verspricht nie wieder im Casino
zu zocken, oder Kid sich nicht traut seine Herzdame endlich zu heiraten
- niemand macht sich hier Illusionen über einen möglichen
gesellschaftlichen Aufstieg.
In diese präzise Milieustudie mischt Jeff Nichols durch sein
cleveres Drehbuch die Rachegeschichte, die gleichzeitig eine tragische
Familiengeschichte ist. Der Vater verließ die Mutter und die
drei Brüder sehr früh und hielt keinen Kontakt zu ihnen,
was die verbitterte Mutter dazu brachte ihre Kinder voller Missachtung
und unter drastischem Liebesentzug zu erziehen. Potenziert wird
diese angestaute Wut durch die Tatsache, dass der gehasste - aber
anscheinend sehr potente - Vater dann doch noch eine Familie gründete,
vier Kinder zeugte und sich für diese als guter und anständiger
Mensch präsentierte. Als Son voll angestauter Wut in den offenen
Sarg spuckt, prallen diese beiden Welten aufeinander. Familienbande
werden beschworen und Rachepläne geschmiedet. Doch im Gegensatz
zu den meisten Filmen, die sich mit Rache beschäftigen, fixiert
sich Nichols auf die Zweifel, die die Brüder haben. Lohnt sich
die Rache wirklich? Da ist es konsequent, dass der Regisseur immer,
wenn es zu körperlichen Auseinandersetzungen kommt, wegblendet
oder eine Kameraperspektive wählt, die den eigentlichen Racheakt
nicht zeigt.
Dafür
schildert der Film ausführlich die Nachwehen dieser Rache.
Er stellt damit beeindruckend die Frage, was die Gewalt mit Menschen
anrichtet, wie sie sie prägt, verändert und letzten Endes
auch zerstört. Selbst das lakonische Schweigen der Helden wird
mit der Zeit mehr und mehr zum Ausdruck für die verzweifelte
Lage, in die sich alle manövrieren. Denn obwohl Nichols auf
eine überzogene Dramatisierung verzichtet und seine Geschichte
absichtlich entschleunigt, wird die Wucht der Rachespirale, die
sich hier entfaltet, immer stärker spürbar.
"Shotgun Stories" ist damit ein Film über die Entglorifizierung von Rache und Gewalt geworden. Ein Film, der in aller Ruhe eine erstaunliche Durchschlagskraft entwickelt und seine Figuren meisterlich in die hässlich-schöne Umwelt des mittleren Westens platziert. Dabei erscheinen Son, Boy, Kid und alle anderen stark von der sie umgebenden Landschaft geprägt und könnten damit auch ohne Weiteres aus einem Roman der großen zeitgenössischen US-Autoren wie Cormac McCarthy oder aber auch John Updike entsprungen sein. Mit seinen sorgfältig komponierten Ellipsen ist der Film eine herausragende elegische Anti-Rache-Geschichte, die es trotz der geringen Kopienzahl verdient hat, im Arthauskino gesucht und gefunden zu werden. Denn Jeff Nichols präsentiert keine leichten Antworten auf die schwierigen Fragen, die sein Film aufwirft. Das muss er auch nicht. Es reicht, dass er sie überhaupt stellt.
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