Es hat lange gedauert – manch Cineast würde sagen: zu lange – bis Tommy Lee Jones nach dem fabulösen „Die drei Begräbnisse des Melquiades Estrada“ nun seinen zweiten Film als Regisseur vorlegt. Dass es nun soweit ist, ist Grund zur Freude, denn Jones bleibt in seinem zweiten Film nicht nur seinen Quellen treu – der Western, besonders die von Sam Peckinpah; die Weite der amerikanischen Prärie; der amerikanische Traum und seine teils alptraumhafte Realität – sondern auch der in seinem Erstlingswerk gezeigten Qualität. „The Homesman“ ist einer der besten Filme des Jahres, ein eigenwilliger, unbequemer, sperriger, aus der Zeit gefallener Film, aber ein großartiger. Und ein eigentlich heimlicher großartiger Film. Denn Tommy Lee Jones, der sich anschickt, es seinem alten Kumpel Clint Eastwood in Sachen Regiearbeit gleichzutun, würde niemals so prätentiös sein, ein gewollt auf Meisterwerk getrimmten Film abzuliefern. Sondern er liefert einfach den besten Film ab, den er aus einem für ihn interessanten Stoff (Glendon Swarthouts gleichnamiger Roman) gewinnen und umsetzen konnte. Das ist allerdings mehr als ausreichend.
Das Nebraska-Territorium ist im Ende des 19. Jahrhunderts Sinnbild der amerikanischen frontier: dort, wo die Zivilisation der Siedler versucht, langsam in der sie umgebenden Wildnis Fuß zu fassen. Aber es ist ein harter, unwirtlicher Ort und wie im oben zitierten Song des Ehepaars Thompson ein Ort, an dem Träume sterben. So geschieht es für drei der Siedlerinnen im Umkreis der kleinen Siedlung Loup, die das einsame, extrem harte Leben auf den kleinen Farmen, die frühen Kindstode oder Viehseuchen oder die Rohheit ihrer Ehemänner nicht überstehen: Drei der Frauen des Ortes haben über all diesem Gram den Verstand verloren, und der Pastor des Ortes (John Lithgow) hält es für das Beste, sie zu ihren Familien in die Zivilisation im Osten zurückzuschicken. Da die Ehemänner aber entweder unabkömmlich oder charakterlich so wenig vertrauenswürdig sind, dass sie kaum mit dieser Aufgabe betraut werden können, und die Suche nach einem vertrauenswürdigen „homesman“ fruchtlos ausfällt, übernimmt mit der alleinstehenden Farmerin Mary Bee Cuddy (Hillary Swank) eine Frau die Aufgabe, den beschwerlichen Weg durch die amerikanische Prärie anzutreten. Da trifft es sich gut, dass sie gerade den illegalen Siedler George Briggs (Tommy Lee Jones) vor dem Hängen gerettet hat, dem sie im Ausgleich das Versprechen abgerungen hat, sie auf ihrer Reise zu begleiten. Und so macht sich das ungleiche Paar mit seinen drei Passagierinnen auf den Weg...
„The Homesman“ sieht sich selbst kaum als soziologische Studie, präsentiert aber den amerikanischen Westen und besonders das Leben an der frontier als puren Darwinismus: Sich an die Umstände anpassen oder ausgelöscht werden, andere Möglichkeiten gibt es kaum. Dies trifft auf alle zentralen Figuren zu: die drei „verlorenen“ Frauen, die im zivilisierten Osten das Verhalten auf Bällen und Teeparties gelernt haben, nicht jedoch, mental die extremen Belastungen des harten Pionierlebens zu überstehen. Mary Bee Cuddy, die sich als eigenständige Farmerin einen bescheidenen Wohlstand erarbeitet hat (Jones macht einen subtilen Vergleich zwischen den unwirtlichen Hütten der anderen Frauen und Cuddys wohlgeordnetem Haus, und die Art, wie er sie auf ihrer Farm in symmetrischen, mit quadratischen Mustern arbeitenden Bildausschnitten präsentiert, macht widerum einen subtilen Kommentar zu ihrem Charakter), sich aber an die Gepflogenheiten der Zeit anpassen will und angesichts ihres fortgeschrittenen Alters immer verzweifelter einen Ehemann sucht. Und dann George Briggs, sofern dies sein Name ist, eine Figur, die das Darwin'sche Prinzip zur Lebensform erhoben hat. Briggs ist ein Trinker und Hallodri, Dieb und Deserteur, aber vor allem ein Mann, der alles überleben wird, sei es durch Wegrennen (seine Lieblingstaktik), Stehlen oder – wenn nötig – Konfrontation.
Einigen frühen Kritikerstimmen gefiel die in „The Homesman“ und der Titelfigur gezeigten Stimmunsschwankungen zwischen Tragik und Humor nicht, aber diese Wahl Jones' muss man unter dem Gesichtspunkt seiner Einflüsse sehen: Auch sein Idol Peckinpah mischte in seine größtenteils elegischen und tragischen Geschichten immer wieder reine Witzfiguren oder humoristische Einlagen, und diese Tradition geht ja sowieso auf Shakespeare zurück. Und mit dem alten William sollte eh keiner streiten. Zudem sind die deplatziert wirkenden Sing- und Tanzeinlagen von Briggs eine Art Schutzmechanismus und ja, Darwinistische Anpassung. Der ihn umgebenden Dunkelheit begegnet er mit einer fast makabren guten Laune.
Die denkwürdige Schlussszene des Films zeigt allerdings auch, wie dies Briggs zu einer so kontrastierten Figur macht: Er hat seine reflektierten Momente, in der er ein besserer Mann sein will als er ist, aber Whisky und Gesang nehmen dann doch Überhand. Wie Mary Bee Cuddy, die sich verzeifelt an das Gesellschaftssystem ihrer Zeit anpassen will, kann auch Briggs nicht aus seiner Haut: Er kann sich nicht an eben jenes Gesellschaftssystem mit seinen Werten anpassen, selbst wenn er (temporär) wollte, und bleibt ein Mann der frontier. Sein Charakter macht auch nur dort Sinn, genauso wie der der meisten Frauen dieses Films dort keinen macht. Weswegen widerum der von manchem Kritiker bemühte angeblich feministische Ansatz des Films auch keiner ist: Wer an der Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis überleben will, der muss beides kennen und keines von beiden, muss sich wie ein Chamäleon an beide Situationen anpassen und dann schnell verschwinden können, ohne dass ihn etwas in einem Ort hält. Keine Frau, keine Kinder, keine Farm, keine Verantwortung, keine Versprechen. Kurzum: Er muss so sein wie George Briggs.
Was „The Homesman“ von anderen, ähnlich gelagerten Filmen unterscheidet ist eine Unvorhersehbarkeit, die dem Genre meistens fremd ist. Kaum ein Genre ist so sehr durch seine Konventionen zementiert wie der Western, Gute wie Böse sind meist innerhalb weniger Minuten (oder durch Hutfarbe!) identifiziert und die Plotwendungen ebenfalls schnell vorhersehbar. Dank der eigenwilligen, sperrigen Charaktere einerseits und dem Verlauf der Geschichte andererseits entgeht „The Homesman“ komplett dieser Vorhersehbarkeit, was diesem Film einen gehörigen Teil seiner Faszination gibt. Während man etwa zu Beginn des Films das Gefühl hat, Jones könnte mit Cuddy und Briggs auf ein bisschen „Ein seltsames Paar“-Komik zielen und eine Variante von „Mit Dynamit und frommen Sprüchen“ abliefern, der sieht sich bald brutalstmöglich getäuscht. Denn die kurzen humoristischen Einlagen können nicht von der grundlegenden Verzweiflung und Tragik der Situation ablenken, die Jones durch eingeschobene kurze Rückblenden auf die Gründe des Verrücktwerdens der drei Farmerinnen noch verstärkt. Dazu hat der Film zwei wirklich denkwürdige Sequenzen zu bieten: Eine Situation nach etwa eineinviertel Stunden, die durchaus noch der odd couple-Logik geschuldet ist, endet in einer schockierenden und nachhaltig beeindruckenden Plotwendung, die man so kaum vorhersehen konnte. Und die Sequenz, in der der Planwagen ans Fairview-Hotel in Iowa kommt, ist sehr surreal und endet in einer visuell wie charakterbezogen bemerkenswerten Szene.
Tommy Lee Jones macht es dem Publikum nicht einfach – und das gleich im doppelten Sinne: Wo sein Film sich Storykonventionen und abgehangenen Plotstrukturen widersetzt, so sind auch seine Figuren nicht die erwartbaren Klischees und gerade der "homesman" eben nicht der Brummbär mit verstecktem Herzen aus Gold, so wie es ein Publikum erwarten würde. Briggs wie auch die Figur der Mary Bee Cuddy sind deutlich realistischer, aber damit auch herber und unsympathischer, enigmatischer und weniger leicht goutierbar. So wird etwa während der Reise immer deutlicher, dass Cuddy diese Reise vielleicht nicht nur aus christlicher Nächstenliebe angetreten hat (und einer frühen Sequenz auf ihrer Farm kommt nachträglich eine größere Bedeutung zu) und dass auch ihre Träume am Verwelken und Sterben sind. Letztendlich macht die Charakterisierung hier etwas deutlich, dass auch die Merkwürdigkeit und Hysterie von Andrew Dominics „Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford“ schon mehr oder weniger deutlich vom Subtext zum Haupttext erhob: An den Grenzrändern zwischen Wildnis und Zivilisation sind alle mehr oder minder verrückt.
„The Homesman“ ist vieles: visuell reich und fantastisch gefilmt (John Ford wäre stolz), ungezügelt und etwas undiszipliniert in seinem Storyverlauf, was man für des Films Unvorhersehbarkeit in Kauf nehmen muss und zugleich wieder sehr Peckinpah-haft ist. Aber vor allem: denk- und erinnerungswürdig. Egal, ob man den Film nun liebt (was wie gesagt nicht unbedingt einfach ist) oder er einen ein wenig ratlos zurücklässt: Kaltlassen wird er keinen. Was doch eigentlich ein ziemlich großes Kompliment ist.
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