MOH (110): 13. Oscars 1941 - "Der große Diktator"
In unserer Serie "Matthias' Oscar History" (MOH) bespricht Matthias in jeder Folge jeweils einen der zwischen den Jahren 1929 und 2000 nominierten Oscar-Beiträge aus der Kategorie "Bester Film".
In unserer letzten Folge tauchten wir für eine Weile nostalgisch in das Leben einer amerikanischen Kleinstadt ein. Nun wenden wir uns dem düstersten Kapitel der europäischen Geschichte zu – begleitet von einem kleinen Mann, dessen Filme uns sonst eigentlich ein unbeschwertes Lächeln bescheren.
Der große Diktator

Welche Ironie. Zwei Männer, beide im April 1889 in einfachen Verhältnissen zur Welt gekommen – doch ihre Wirkung auf die Welt hätte am Ende kaum unterschiedlicher ausfallen können. Der eine brachte ihr Tod und Terror, der andere ein kollektives Lächeln. Persönlich begegnet sind sich Charlie Chaplin und Adolf Hitler nie. Zwar weilte Chaplin 1931 für einige Tage in Berlin, um seinen neuen Film "Lichter der Großstadt" zu bewerben. Doch abgesehen von einigen protestierenden Nationalsozialisten, die ihn – fälschlicherweise – als „jüdischen Komiker“ beschimpften, wurde der Stummfilmstar damals in Deutschland begeistert gefeiert. Eine Reaktion, die wenige Jahre später unvorstellbar war, denn nach der Machtergreifung Hitlers wurden Chaplins Filme in Deutschland zügig verboten.
Chaplin wiederum verfolgte derweil von der anderen Seite des Atlantiks mit wachsender Sorge die politischen Entwicklungen in Europa – frustriert darüber, dass Hollywood sich vor allem aus finanziellen Motiven diesbezüglich neutral positionierte. Auch aufgrund der Tatsache, dass Chaplin immer wieder auf seine optische Ähnlichkeit zu Hitler angesprochen wurde (viele Karikaturisten griffen dies damals auf), reifte in diesem schließlich die Idee, mit einer Persiflage den ihm so gefährlich erscheinenden Führerkult satirisch auf die Schippe zu nehmen. Jahre später schrieb Chaplin, hätte er das ganze Ausmaß der kommenden Katastrophe geahnt, er hätte den Film wohl nie gedreht. Zum Glück tat er es dennoch – und schuf so mit "Der große Diktator" ein herausragendes Beispiel dafür, zu was richtig gute Satire in der Lage ist. Natürlich wirken einzelne Szenen heute, im Wissen um die späteren Nazi-Verbrechen, etwas befremdlich. Doch wie Chaplin mit "Der große Diktator" immer wieder den Finger in die Wunde legt und perfekt zwischen "einfacher" Unterhaltung und intelligenter Gesellschaftskritik hin und her balanciert, ist gerade angesichts des geschichtlichen Kontexts gar nicht hoch genug anzurechnen.

Ganz offen angesprochen wird natürlich auch in "Der große Diktator" nicht alles. So ist es nicht Deutschland, sondern der fiktive Staat Tomania, in dem unsere Geschichte spielt. Nach einem turbulenten Einsatz im Ersten Weltkrieg und einem daraus resultierenden längeren Krankenhausaufenthalt kehrt ein jüdischer Friseur (Charlie Chaplin) in sein altes Heimatviertel zurück. Dort ist das Leben aber kaum noch wiederzuerkennen, da die Bevölkerung unter der repressiven Herrschaft des neuen Diktators Adenoid Hynkel (ebenfalls Chaplin) und dessen Schergen leidet. Hynkels Hass auf Juden und seine größenwahnsinnigen Eroberungsfantasien steigern sich schon bald ins Groteske, was es für unseren Friseur und dessen Nachbarin Hannah (Paulette Goddard) immer schwieriger macht, auch nur ein halbwegs normales Leben zu führen.
Zu entscheiden, welches nun der beste Chaplin-Film von allen ist, fällt mir angesichts dessen großartiger Filmvita schwer. Müsste ich wählen, wäre es wohl "Der Vagabund und das Kind", alleine, da der Film eine so perfekt-charmante Mischung aus Slapstick und Gefühl hinlegt. Wenn es aber um den faszinierendsten und komplexesten Film in Chaplins Portfolio geht, dann führt kein Weg an "Der große Diktator" vorbei. Das beginnt schon bei der bereits angesprochenen Entstehungsgeschichte, mit der Chaplin ein beängstigendes Timing an den Tag legt – die Dreharbeiten begannen nur wenige Tage nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Chaplin wurde bei seinem Projekt also sozusagen in Echtzeit von den Entwicklungen der Weltgeschichte überrollt. Und das sollte nicht die einzige große Herausforderung bei diesem Film bleiben.

Bevor wir uns aber der politischen und gesellschaftlichen Dimension des Filmes widmen, werfen wir erst noch einen Blick auf einen weiteren spannenden Aspekt: die Tatsache, dass wir es hier mit Chaplins erstem Tonfilm zu tun haben. Für das Publikum war Charlie Chaplin bisher untrennbar mit dem "Little Tramp" verbunden, also dem herzensguten, mit Melone, Spazierstock und Watschelgang ausgestatteten Vagabunden. Doch Chaplin war stets skeptisch gewesen, ob dieser in einem Tonfilm überhaupt funktionieren könnte und hatte diese Idee stets abgelehnt. Was er uns hier nun präsentiert, ist eine Art Übergangslösung. Während wir auf der einen Seite mit Adenoid Hynkel eine groteske Hitlerparodie serviert bekommen, weist nämlich unser namenloser jüdischer Friseur sehr wohl viele Ähnlichkeiten mit Chaplins altem Ego auf. Die schüchterne Naivität, der gut gemeinte Aktionismus und manch tollpatschige Aktionen – gerade in den Slapstick-Momenten bespielt Chaplin hier vertrautes Terrain. Noch dazu, weil unser Friseur auch nur ganz selten das Wort ergreift. Und doch hat sich Chaplin Zeit seines Lebens immer geweigert, diese Figur offiziell als seinen berühmten Vagabunden zu outen. Weil sie sich, trotz der gerade genannten Ähnlichkeiten, eben hier doch irgendwie anders anfühlt. Das wiederum liegt aber vor allem an deren Umfeld, denn das unterscheidet sich hier deutlich von dem Chaplins früherer Werke.
Ja, wir sehen im Erzählstrang des Friseurs die für Chaplin typische Mischung aus simplen, aber charmanten Slapstick-Nummern, die geschickt immer wieder von einigen überraschenden und kreativen Einfällen unterfüttert werden. Chaplin läuft dabei wie immer schauspielerisch zur Höchstform auf, gerade wenn er zum Beispiel in seiner Rolle als Friseur zum Rhythmus eines klassischen Musikstücks seiner Arbeit nachgeht. Auffällig ist aber, dass hin und wieder solche leichtfüßigen Momente auch mal auf einer etwas ernsthafteren Note enden. Bei aller Leichtigkeit möchte Chaplin hier stets sichergehen, dass man nicht den Ernst der Situation völlig aus den Augen verliert. Ein schönes Beispiel dafür ist die Art und Weise, wie der Film die Figur des alten Mr. Jaeckel nutzt. Der bringt immer wieder eine kleine Dosis Nachdenklichkeit mit – selbst wenn er einfach nur in sich ruhend irgendwo im Hintergrund sitzt. Ein Paradebeispiel hierfür ist eine Szene, in der eine neu formierte jüdische Untergrundgruppe per Los einen "Freiwilligen" für eine Selbstmordmission bestimmen will. Daraus formt Chaplin eine Aneinanderreihung witziger Gags mit dem typischen Chaplin-Touch, doch anstatt am Ende die Spirale immer weiter zu drehen, wird man durch die ernste Reaktion von Mr. Jaeckel wieder an den Ernst der Situation erinnert.

Solche Momente kann man hier immer wieder beobachten, und da muss man wirklich Chaplin ein großes Kompliment machen. Es ist toll, wie vorsichtig und durchdacht er durch das von ihm ja freiwillig gewählte Story-Minenfeld navigiert – immer mit dem Ziel, der schrecklichen Ausgangssituation stets mit dem nötigen Respekt zu begegnen. Im Umkehrschluss bedeutet dies aber natürlich auch, dass "Der große Diktator" nie die Leichtigkeit von Chaplins früheren Werken erreicht – das aber natürlich auch nicht will. Stattdessen möchte Chaplin so unterhaltsam wie eben möglich seine ernste Botschaft beim Publikum verankern und vor dem Aufstieg der europäischen Führerkulte warnen.
Womit wir dann zu der zweiten von Chaplin gespielten Figur des Films kommen: dem machtgeilen und von Hass angetriebenen Adenoid Hynkel, der natürlich eine Parodie auf Adolf Hitler ist. Weiter weg von der Figur des sanften Vagabunden könnte ein Charakter wohl kaum angelegt sein, und somit gibt sich hier Chaplin einen Freibrief, nun endlich auch das Stilmittel des gesprochenen Wortes für sich einsetzen zu können. Und weil er eben ein Meister des Genres ist, hat sich Chaplin für Hynkels sprachliche Hassattacken natürlich etwas Cleveres einfallen lassen. Für Hynkel erfindet Chaplin eine eigens konstruierte Fantasiesprache, bei der nur einzelne Wortfetzen verständlich sind, die Emotionen dahinter allerdings sehr deutlich werden. Ein genialer Kniff, denn durch dieses kluge Konzept gelingt es Chaplin, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Einmal die Aggressivität und die Gefahr von Hynkels Rhetorik einzufangen, gleichzeitig aber dessen Worte inhaltsleer und lächerlich wirken zu lassen.

Chaplin verfolgt in "Der große Diktator" mit gnadenloser Hartnäckigkeit nämlich vor allem ein Ziel: Hynkel als groteske Witzfigur zu kennzeichnen, ohne dabei aber die von diesem ausgehende Gefahr zu verharmlosen. Ein egoistischer Hampelmann, der außer Hass und Größenwahn dieser Welt nichts zu bieten hat. Diesen grotesken Charakter formt Chaplin mit einem ganzen Haufen von kreativen Einfällen – vom absurden "Kräftemessen" mit dem befreundeten und von Mussolini inspirierten Diktator-Kollegen über ein skurriles Porträtstehen bis hin zur wohl bekanntesten Szene des Filmes: Hynkels selbstverliebter Tanz mit einem Weltkugel-Ballon.
Auch das ist alles wieder meisterhaft umgesetzt und wir lachen dabei stets über diese Figur und nie empathisch mit ihr. Dabei ist erstaunlich, wie unsympathisch und brutal Hynkel porträtiert wird, für eine Komödie ja eigentlich undenkbar. Es funktioniert aber, weil Chaplin geschickt dann doch immer wieder alles so sehr ins Groteske dreht, dass man doch schmunzeln muss. Wenn Hynkel über die Ausrottung der Juden philosophiert, ist das harter Tobak. Wenn er dann aber auf einmal auch alle Brünetten auslöschen möchte, nutzt das Drehbuch das Groteske, um auf wundervolle Weise Hynkels Ideen als das zu entlarven, was sie in Wahrheit sind: monströser Irrsinn. So bleibt Chaplin auch hier konsequent bei seinem Kurs: Wir sollen über Hynkel lachen – aber nie vergessen, wie bedrohlich dieser ist.

Diesen Drahtseilakt meistert "Der große Diktator" fast durchgehend. Nur in einer Szene kommt das humoristische Gleichgewicht doch deutlich ins Wanken. Als unser Friseur im Konzentrationslager landet, wirkt dies, auch wenn die Szene nicht lange dauert, heute sehr befremdlich. Vom Grauen ist nämlich dort nichts zu spüren, die eher etwas heitere Passage lässt einen doch deutlich schlucken. Wirklich vorwerfen kann man dies dem Chaplin des Jahres 1939 aber nicht. Eher vielleicht schon, dass die Aufteilung in zwei Handlungsstränge für ein kleines strukturelles Manko sorgt. Die beiden Handlungsstränge, der des jüdischen Friseurs und der des Diktators, laufen lange Zeit nämlich parallel und finden erst sehr spät zusammen. Das ist zwar angesichts des Ziels des Filmes nachvollziehbar, man hat halt aber auch lange das Gefühl, hier irgendwie zwei verschiedene Filme zu sehen.
Das Gesamtbild wird aber am Ende wieder rund, wenn unser Friseur dann doch endlich mal ausführlich das Wort ergreifen kann. Wobei die ebenfalls berühmt gewordene Abschlussrede über die Ideale der Demokratie und ein Leben in Frieden gefühlt hier nicht von unserer eigentlichen Hauptfigur kommt. Stattdessen fühlt sich diese direkt an das Publikum gerichtete Botschaft wie eine persönliche Nachricht des Künstlers hinter der Figur an. Manche Kritiker haben dies als "nicht cineastisch" bemängelt, für mich ist es dagegen genau das Gegenteil. Gibt es nichts Schöneres, als wenn Kino so persönlich wird? Hier steht jemand, der voller Verzweiflung einen letzten Appell für den Frieden kommunizieren möchte – in einer Zeit, wo sich nur wenige dies auf der großen Leinwand so deutlich getraut haben. Von solchem Herzblut kann ich nicht genug kriegen.

Irgendwie ist dann auch passend, dass sich spätestens mit "Der große Diktator" der kleine Vagabund (in welcher Form auch immer) für immer von seinem Publikum verabschiedete. Die nächsten Jahre sollten schließlich nur wenig Platz für Gutgläubigkeit und Herzlichkeit bereithalten – die naive Unschuld hatte erst mal ausgedient. Vergeblich war Chaplins Appell trotz der Grauen des Zweiten Weltkriegs aber trotzdem nicht. Denn schließlich können wir noch heute, fast 100 Jahre später, diesem noch immer lauschen. Und sollten, gerade in Sachen Führerkult, vielleicht diesmal besser zuhören. So hat Chaplin auf gewisse Weise tatsächlich die ihm zur Verfügung stehende neue Tontechnik in bestmöglicher Weise eingesetzt – um uns eine Botschaft zu hinterlassen, die noch heute nachhallt.
"Der große Diktator" ist aktuell auf Amazon sowohl als Bluray als auch auf Prime Video in Deutschland verfügbar.
Trailer zum Film
Let's dance with the world.
Dokumentation über den Film mit Farbaufnahmen von den Dreharbeiten
Ausblick
In unserer nächsten Folge treffen wir auf eine weitere Kinolegende, die vor allem hinter der Kamera vor Furore sorgte. Mit ein bisschen Konzentration konnte man sie aber auch stets auf der Leinwand kurz erhaschen.
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