Am 7. Februar 1914 traf die Welt zum ersten Mal auf diesen merkwürdigen kleinen Zeitgenossen. Mit angestaubter Melone und ausgebeulter Hose watschelte dieser seltsame Kerl in seinen überdimensionalen Schuhen mit nach außen gedrehten Füßen über die Leinwand. Den Gehstock fröhlich schwingend schmuggelte er sich im sechsminütigen Kurzfilm „Kid Auto Races at Venice“ immer wieder erfolgreich in die Aufnahmen einer genervten Kameracrew, die ein Seifenkistenrennen filmen möchte.
Es ist ein eher unspektakulär wirkender Kurzfilm, den das amerikanische Publikum zu Anfang des letzten Jahrhunderts zu Gesicht bekam. Doch bereits wenige Jahre später sollte dieser kleine Vagabund, dessen Auftritt hier noch wie ein ungeschliffener Rohdiamant wirkt, zur ersten weltweiten Ikone des Kinos aufsteigen. Und dem Mann hinter dem sogenannten "Tramp“, dem Produzent, Regisseur, Autor, Schauspieler und Komponisten Charlie Chaplin, auf ewig einen Platz im Filmpantheon sichern.
Welches der vielen Meisterwerke aus der Feder des britischen Stummfilmkönigs soll man aber nun für eine Huldigung auswählen? Den genauso romantischen wie sozialkritischen Ausflug des Vagabunden ins städtische Nachtleben in „Lichter der Großstadt“? Die fein ausbalancierte Mischung aus Tragik und Slapstick in „Goldrausch“? Die gesellschaftskritische Abrechnung mit der Industrialisierung in „Moderne Zeiten“, die das wohl berühmteste Bild der Figur, eingeklemmt in die Zahnräder einer riesigen Maschine, produzierte? Oder gar Chaplins genauso humorvolle wie persönliche Abrechnung mit Adolf Hitler in „Der große Diktator“, in der Chaplin eine Variation des kleinen Vagabunden spielte und seiner Zeit auf schon fast erschreckende Weise voraus war?
Wir entscheiden uns hier für noch ein anderes Werk des Allroundtalents, das in den typischen Ranglisten oft etwas vernachlässigt wird: Charlie Chaplins ersten Langfilm „Der Vagabund und das Kind“. Nicht etwa, weil dies der handwerklich beste Film von Chaplin ist. Es gibt Werke, in denen Chaplin die stärkeren Slapstick-Sequenzen und deutlich überzeugendere gesellschaftskritische Seitenhiebe gelingen. Aber an keinem Film lässt sich so gut zeigen, wofür ihn das Publikum auf der ganzen Welt vor allem geliebt hat: Als den Underdog mit einem Herz aus Gold, der sich nie unterkriegen lässt.
In seinem ersten Langfilmauftritt treffen wir unseren kleinen Tramp (Charlie Chaplin) als erstes bei dessen stilvoller Morgenroutine. Unser Vagabund zelebriert, mit deutlich zu großem Anzug und leicht angestaubter Melone auf dem Kopf, einen ausgiebigen Morgenspaziergang durch die Hinterhöfe der Großstadt. Dort erfährt sein Leben eine entscheidende Wende, als er ein von einer verzweifelten Mutter (Edna Purviance) ausgesetztes kleines Baby entdeckt. Erst ist unser Tramp mit diesem Fund etwas überfordert. Als er dann aber den "Beipackzettel" der Mutter entdeckt, die den Finder darum bittet sich doch liebevoll des kleinen Rackers anzunehmen, wird erfolgreich der Vaterinstinkt unserer Hauptfigur geweckt.
Ein paar Jahre (und ungewöhnliche Erziehungsmaßnahmen) später ist das Baby zu einem selbstbewussten Jungen (Jackie Coogan) herangewachsen, der zusammen mit dem Ziehvater kreativ das Leben in Armut meistert. Allerdings nicht immer auf legale Weise, weswegen die beiden in ständiger Angst vor dem Gesetz leben. Derweil plagen die leibliche Mutter des Kindes, die inzwischen zu einer erfolgreichen Opernsängerin avanciert ist, schlimme Gewissensbisse angesichts ihrer einst herzlosen Tat. Ob sie ihren Sohn jemals wiedersehen wird?
Natürlich wird sie das. Bis dahin ist es aber noch ein langer, unterhaltsamer und gerade gegen Ende auch ziemlich dramatischer Weg. Was das Publikum dabei zu erwarten hat, packt Chaplin perfekt direkt in die erste Titeleinblendung: "A picture with a smile – and perhaps, a tear". Ein Versprechen, das der Film auch fast exakt 100 Jahre nach seiner Produktion immer noch einlöst. Hauptverantwortlich dafür ist Chaplin, der mal eben als Produzent, Regisseur, Drehbuchautor, Hauptdarsteller, Cutter und gar Komponist agierte. Eine gestalterische Machtfülle, die in der heutigen Kinolandschaft nur noch schwer vorstellbar ist.
Aber es waren damals natürlich auch "simplere" Zeiten. Eine Einfachheit, die Chaplin sehr gerne zelebrierte. Vom übermäßigen Einsatz erklärender Titeleinblendungen hielt Chaplin zum Beispiel nichts. Schließlich konnte man doch so vieles direkt im Bild über die Mimik, Gesten und Handlungen der Figuren ausdrücken. Eine Einstellung, die er übrigens auch mit dem berühmten Stummfilm-Komiker-Kollegen Buster Keaton teilte – die beiden lieferten sich sogar einmal einen freundschaftlichen Wettstreit darüber, wer die wenigsten Titelgrafiken in seinen Filmen verwenden könnte (Chaplin gewann mit 21 zu 23).
Es überrascht dann auch nicht, dass Chaplin sich später lange Zeit dem Tonfilm verweigern sollte, ja sich gar über diesen in seinen Filmen lustig machte (wie beim Beginn von "Lichter der Großstadt"). Wer aber sieht, wie leichtfüßig es Chaplin gelingt mit ganz simplen Mitteln seine Geschichte und die Figurenentwicklung voranzutreiben, der versteht, warum der Meister auf zusätzliche Stilmittel gar nicht erst angewiesen war.
Alleine das Aussehen des kleinen Tramp ist hier schon ein Meisterstück der Charakterzeichnung – wundervoll zu sehen in der ersten Szene des Tramp in "Der Vagabund und das Kind". Da spaziert unser Protagonist stolz mit Melone und Anzug durch die Stadt, den Gehstock elegant schwingend und die Zigarre cool rauchend. Der Haken an der Sache: Die Kleidung und Schuhe sind viel zu groß und löchrig, die Zigarren aus dem Müll aufgesammelt und wir befinden uns auch nicht an der französischen Riviera, sondern in den dreckigen Hinterhöfen einer Großstadt. Es ist dieser liebevolle optische Versuch des Tramps, der Armut zu trotzen, der sich weltweit in das Gedächtnis des Kinopublikums brennen sollte.
Aber der Tramp besitzt noch viel mehr als ein legendäres Filmoutfit. Chaplin überschüttet seine Figur geradezu mit liebevollen Marotten. So wird das clownhafte der Figur durch den legendären Watschelgang oder die unorthodoxe Art, wie sie sich die Zigarren anzündet, weiter verstärkt. Gleichzeitig "leidet" die Figur fast schon unter dem zwanghaften Drang, vor jeder Autoritätsfigur gleich freundlich den Hut ziehen zu müssen – selbst mitten in einer chaotischen Verfolgungsjagd. Pinselstrich für Pinselstrich malt Chaplin mit vielen solcher kleinen Marotten das stimmige Bild eines lebenslustigen Vagabunden, der sich der eigenen Komik nicht bewusst ist und genauso stolz wie liebenswürdig dem harten Leben auf der Straße die Stirn bietet. Figurenzeichnung par excellence.
Das dieser kleine Tramp dem Zuschauer immer wieder ein Lächeln auf die Lippen zaubert, hat aber auch mit Chaplins erstklassigem Gefühl für guten Slapstick zu tun. Es ist ja überhaupt faszinierend, wie gut viele der alten Stummfilmkomödien noch heute beim Zuschauer funktionieren. Was daran liegt, dass gerade die Großen ihrer Zunft (Chaplin, Keaton, Lloyd, etc.) es meisterhaft verstanden aus oft simplen Alltagssituationen großartigen Humor zu generieren – von skurrilen kleinen Gags bis hin zu komplett aberwitzigem Chaos. Der Mangel an Worten sorgte für einen umso größeren visuellen Einfallsreichtum. Das Ergebnis ist ein fast zeitloser Humor, der sehr stark auf Situationskomik ausgelegt war.
"Der Vagabund und das Kind" bietet gleich mehrere solcher Sequenzen, bei denen man Chaplins Einfallsreichtum einfach nur laut applaudieren möchte. Da wäre der erfolglose Versuch des Tramps sich dem gefundenen Baby zu entledigen, bei dem dieses gleich mehrmals den Besitzer wechselt, nur um nachher doch wieder in den Armen des Tramps zu landen. Oder der versehentliche Flirt des Tramps mit einer Dame, die sich unglücklicherweise als die Frau eines Polizisten herausstellt. Vor allem das unglaubliche komödiantische Timing von Chaplin als Darsteller ist hier der Schlüssel zum Erfolg. Oft sorgt der Tramp dadurch für Lacher, dass er alleine beim Anblick des Polizisten jegliche Aktion abrupt unterbricht und direkt auf gesetzestreuen Staatsbürger umschaltet.
In anderen Szenen wiederum bezieht Chaplin das Publikum geschickt mit ein. Wundervoll zu sehen in einer kleinen Sequenz, in der sich dem Tramp die Gelegenheit bietet das Baby unter einem Gullydeckel verschwinden zu lassen. Gullydeckel öffnen, Blick auf Baby, Blick auf Gullydeckel, Blick zum Publikum, Gullydeckel schließen – vielleicht ja doch keine gute Idee bei soviel Zuschauern. So simpel kann ein guter Gag funktionieren, und mit solchen kleinen humorvollen Momenten verwöhnt uns Chaplin reichlich.
Selbstverständlich nimmt sich unser Tramp dem Kind liebevoll an, womit wir dann auch zur wirklich größten Stärke dieser Figur kommen. Und dazu, wieso Chaplin ausgerechnet mit "Der Vagabund und das Kind" auf unsere Goldliste Einzug hält. Im Vergleich zum eher stoisch-kühl agierenden Keaton sprüht die Figur des Tramp nur so vor menschlicher Wärme, und diese Stärke spielt gerade dieser Film toll aus. Natürlich freut sich das Publikum über gut gelungene Slapstick-Einlagen, aber die lieferten auch andere Comedy-Größen der Zeit. Aber keine andere Figur verfügte über so eine große emotionale Strahlkraft wie der kleine Tramp.
Wie kann man so eine Rolle auch nicht mögen? Der Underdog mit dem Herz aus Gold, der sich nie unterkriegen lässt. Alleine dieses Ausgangsszenario schweißt Figur und Publikum schon emotional eng aneinander. In "Der Vagabund und das Kind" wird dieses Band aber geradezu perfekt geknüpft, in dem sich der Tramp trotz seiner bescheidenen Kapazitäten selbstlos dem ausgesetzten Kind annimmt. Chaplin weiß dabei genau welche Knöpfe er beim Publikum drücken muss. Er kombiniert seine Slapstick-Passagen gerade zu Beginn immer wieder mit vielen ruhigen Charaktermomenten, wie zum Beispiel einem gemeinsamen Pfannkuchenessen, um eine glaubwürdige und herzergreifende Vater-Ziehsohn-Beziehung aufzubauen.
Ein anderes schönes Beispiel ist eine wilde Passage rund um eine Betrugsmasche, in der das Kind Fenster einwirft die der Tramp dann umgehend gegen Geld repariert. Als ein Polizist den Tramp bei der Fensterreparatur beobachtet und dann das Kind mit den Steinen in der Hand entdeckt, versucht der Tramp seinen Ziehsohn mit liebevoll gemeinten Tritten von sich fern zu halten, damit die Masche nicht auffliegt. Der Kleine wiederum lässt sich aber kaum stoppen, da er in die Arme seines geliebten Vaters möchte. Es ist einer dieser vielen wundervollen Charaktermomente bei Chaplin, in denen Humor und menschliche Wärme Hand in Hand gehen.
Doch das reicht Chaplin noch nicht. Er geht noch weiter und injiziert dem Geschehen im weiteren Verlauf eine immer stärkere Dosis Drama. Etwas, dass man bis dato eher selten in Slapstick-Komödien gesehen hatte. Und wohl auch dadurch motiviert war, dass Chaplin selbst kurz zuvor einen neugeborenen Sohn verloren hatte. Es beginnt hier mit dem Auftauchen der Mutter, die sich tief traurig an ihren verlorenen Sohn erinnert. Was Chaplin, der alte Schelm, herrlich manipulativ für eine großartige Einstellung nutzt, in der die Mutter im Vordergrund trauert, während nichtsahnend ihr Kind direkt hinter ihr steht. Der Film drückt immer weiter auf die Tränendrüse, indem der Kleine eine schwere Krankheit durchmachen muss und dann vom Staat mit Gewalt aus den Händen des Tramps gerissen wird. Eine Szene, die auch fast genau 100 Jahre nach ihrer Produktion nichts von ihrer Wirkung verloren hat. Eben weil Chaplin soviel Zeit und Wärme in die Figuren investiert hat, anstatt einfach nur immer auf den nächstbesten Gag zu zielen.
Eine Schwäche hat der Film dann allerdings doch. Gegen Ende bricht Chaplin ein wenig mit der eigentlichen Geschichte und baut eine mehrminütige Traumsequenz ein, deren Sinn sich nicht wirklich erschließt und die sowohl inhaltlich wie auch optisch wie ein kompletter Fremdkörper wirkt. Die Sequenz ist leider auch nicht Chaplins Überarbeitung des Films von 1972 zum Opfer gefallen, in welcher der Meister den Film etwas kürzte und einige für ihn zu melodramatisch geratene Passagen entfernte (es ist diese überarbeitete Fassung, die heute vor allem im Umlauf ist).
"Der Vagabund und das Kind" war am Ende auf jeden Fall ein riesiger Erfolg an der Kinokasse und der endgültige Durchbruch für Chaplin. Der Film machte auch Jackie Coogan, dessen zuckersüßem Charme man sich unmöglich entziehen konnte, zum ersten Kinderstar der Kinogeschichte (in Erinnerung geblieben ist er allerdings vor allem mit einer deutlich weniger niedlichen Rolle, dem Onkel Fester aus der TV-Serie "Addams Family"). Vor allem aber schuf "Der Vagabund und das Kind" die emotionale Basis für die Liebe des Publikums zum kleinen Tramp und legte so den Grundstein für die noch kommenden Meisterwerke Chaplins.
Das wiederum macht den Film zum perfekten Einstiegspunkt für alle diejenigen, die den Meister neu- oder wiederentdecken möchten. Einen kostenlosen Vorgeschmack kann man sich auch bei Youtube holen, wo alle Kurzfilme von Chaplin kostenlos zu finden sind. Übrigens auch die vieler anderer Comedy-Größen der Stummfilmzeit – ein Schatz, mit dem man sich wochenlang vergnügen kann. Was uns Chaplin und seine Kollegen hier hinterlassen haben, sind nichts anderes als Stunden purer Kinomagie. Und dafür möchten wir an dieser Stelle, so wie es der kleine Tramp gemacht hätte, einfach mal respektvoll den Hut ziehen. Mit einem Lächeln – und vielleicht einer Träne.
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