Dieses Jahr passierte etwas Unerhörtes vor dem Filmfestival in Cannes: Der Hamburger Fatih Akin („Soul Kitchen“, „Gegen die Wand“) zog plötzlich „aus persönlichen Gründen“ seinen eingereichten Film „The Cut“ zurück und so feierte dieser schließlich in Venedig statt in Cannes Premiere. Für Außenstehende schien dies unbegreiflich, gilt doch Cannes als der Gipfel für Filmschaffende. Doch hatte das Festival sich nicht entscheiden können, ob der letzte Teil von Akins thematischer Trilogie „Liebe, Tod und Teufel“ im Wettbewerb oder in der Nebenreihe laufen sollte.
Dies mag daran gelegen haben, dass „The Cut“ leider nicht die Klasse von Akins vorigen Filmen hat, obwohl dieses Werk dem Regisseur ein Herzensprojekt war und dies sein mit Abstand teuerster Film war, dessen Drehorte von Jordanien bis Kuba und Kanada reichten und das ihn auch noch mehrere Jahre kostete.
Im Jahr 1915 treibt die türkische Gendarmerie alle armenischen Männer zusammen. Auch der junge Schmied Nazaret Manoogian (Tahar Rahim, „A Prophet“) wird von seiner Familie getrennt und muss nun Straßen bauen. Nachdem er ein Massaker als einziger überlebt hat, lange seine Angehörigen gesucht hat und sich vollkommen allein glaubt, erreicht ihn Jahre später die Nachricht, dass seine Zwillingstöchter noch leben. Er sucht sie in Dutzenden von Kinderheimen, erfährt schließlich, dass sie ausgewandert sind und reist ihnen nach. Doch wohin er auch kommt, immer sind sie gerade weitergezogen an den nächsten Ort.
Akin spricht davon, dass er mit „The Cut“ einen Western machen wollte. Visuell hat der Film auch viel zu bieten. Auf 35 mm gedreht, mit fantastischen Panoramaaufnahmen und grandiosen Landschaften sowie einem hervorragenden Blick für eindrucksvolle Bilder, zeigt „The Cut“ die Stärken seines Regisseurs bei der Inszenierung für die große Leinwand. Es gibt eine Szene, in der Nazaret in einem Flüchtlingslager in Ras al-Ayn auf seine Schwägerin trifft, die ihm verdurstend erzählt, dass seine gesamte Familie tot ist. Pietà-gleich hält er sie in den Armen und sie bittet so lange darum, dass er sie erlösen möge, bis er dies schließlich tut. Gerade solche Gewaltszenen sind so meisterhaft ästhetisch umgesetzt, dass sie nahezu unerträglich anzuschauen sind.Doch sonst passt so einiges nicht zusammen. Schon die Sprachfassung im Originalton ist merkwürdig: Alle Armenier reden Englisch mit Akzent, während alle anderen ihre eigene Sprache sprechen (zum Beispiel auf Kuba), die der Held aber alle versteht (warum eigentlich?), außer den Amerikanern, denn die sprechen ja die gleiche Sprache wie die Armenier, also … Englisch. Davon abgesehen ist das darstellende Spiel des eigentlich so großartigen Schauspielers Tahar Rahim, der in „Ein Prophet“ alle begeisterte, hier einfach nicht überzeugend, was auch daran liegt, dass sein Charakter schon sehr früh im Film eine entscheidende Behinderung erleiden muss. Diese raubt dem Publikum leider auch eine bessere Chance, Nazarets Gefühlswelten besser begreifen zu können.
Obwohl Fatih Akin von Martin Scorseses frühem Wegbegleiter Mardik Martin („Wie ein wilder Stier“, „Hexenkessel“ „New York New York“) beim Drehbuch geholfen wurde und dieser einige Szenen aus Akins ursprünglichem Skript strich, ist „The Cut“ mit seinen 138 Minuten einfach zu lang für seine Geschichte. Während der Anfang gut gelang und der Genozid beklemmend und packend umgesetzt ist, zieht sich die Suche nach den Zwillingstöchtern so sehr in die Länge, dass es irgendwann sogar schon anfängt, komisch zu wirken, wenn Nazaret jedes Mal zu hören bekommt, dass seine Töchter gerade eben wieder in eine ganz andere Ecke der Welt weitergezogen sind. Ein stummer Held, der einsam durch Landschaften läuft, wird irgendwann selbst dem geduldigsten Publikum etwas langweilig.Dass „The Cut“ nicht so gut wie seine Vorläufer geriet, ist sehr schade, denn man muss Akin ausdrücklich dafür loben, dass er sich als türkischstämmiger Regisseur traute, den bisher immer noch vor allen in der Türkei tabuisierten Genozid an den Armeniern im Jahre 1915-1916 zu thematisieren. Eigentlich wollte Fatih Akin die Geschichte des Journalisten Hrant Dink verfilmen, der sich in seiner Zeitung „Agos“ für die Aufarbeitung des Völkermords eingesetzt hatte und der 2007 in Istanbul vor dem Verlagshaus seiner Zeitung erschossen wurde, fand aber keinen türkischen Schauspieler, der diese Rolle spielen wollte. So erzählt er stattdessen die fiktive Geschichte eines Armeniers in Anatolien, der sich aufmacht, seine Töchter zu finden. Schon dieser Film genügte, dass Fatih Akin Todesdrohungen erhielt und somit derzeitig mit Bodyguards auf Festivals erscheint.
„The Cut“ vollendet Akins Trilogie „Liebe, Tod und Teufel“. Thematisierte „Gegen die Wand“ (2004) den Lebenswillen einer jungen Deutschtürkin zwischen Liebe und Schmerz, so zeigte er in „Auf der anderen Seite“ (2007) die Geschichte von sechs Menschen, die erst durch den Tod zusammengeführt werden. „The Cut“ widmet sich nun dem „Teufel“. Wie Akin dazu sagt: „Die Liebe kommt aus den Menschen wie in „Gegen die Wand“. Der Tod existiert als Metamorphose in „Auf der anderen Seite“. In diesem Film geht es um die Angst sich mit der eigenen Geschichte auseinander zu setzen.“
Im Oktober 2014 erhielt Fatih Akin auf dem Filmfest Hamburg den Douglas-Sirk-Preis, die größte Ehrung des Festivals. So ist immerhin seine Heimatstadt auch in dem Jahr stolz auf ihn, in welchem Cannes seinen Film nicht mochte und Kritiker in Venedig ihn sogar ausbuhten. Er wird nun wieder Filme mit kleinerem Budget und weniger Produktionszeit machen, hat er sich vorgenommen. Ihm ist zu wünschen, dass er damit schnell wieder zu seiner Form zurückfindet.
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