In 36 Stunden prallen in Los Angeles Menschen aufeinander, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: Schwarze und Weiße, Polizisten und Autodiebe, Privilegierte und vom Pech Verfolgte. Paul Haggis, der Drehbuchautor von "Million Dollar Baby", zeigt in seinem Regiedebüt Individuen mit all ihren Vorurteilen, Verzweiflungen und Ängsten - eine Momentaufnahme des 21. Jahrhunderts.
Das übergeordnete Thema von "Crash" ist der alltägliche Rassismus, wie er sich in allen Kapiteln dieses Episodenfilms in verschiedenen Varianten findet: Die beiden schwarzen Autoklauer Anthony (Chris ‚Ludacris' Bridges) und Peter (Larenz Tate) treffen auf den erfolgreichen Staatsanwalt Rick Cabot (Brendan Fraser) und seine ängstliche Frau Jean (Sandra Bullock). Auf offener Straße ziehen sie ihre Knarren und machen sich mit dem teuren Auto der Cabots davon. Officer John Ryan (Matt Dillon) und Officer Thomas Hansen (Ryan Philippe) halten während der Suche nach dem gestohlenen Wagen den schwarzen Fernsehregisseur Cameron Thayer (Terrence Dashon Howard) und seine schöne Frau Christine (Thandie Newton) an. Da diese sich nicht gerade kooperativ zeigen, nutzt John Ryan die Suche nach Waffen aus, um Christine vor den Augen ihres Ehemannes in den Schritt zu fassen. Währenddessen verdächtigt Jean Cabot den Schlosser Daniel (Michael Peña), mit den neuen Schlüsseln demnächst ihr Haus auszurauben, und schreit ihren Mann hysterisch an. Die beiden Autodiebe überfahren auf der Flucht einen Chinesen. Detective Graham Waters (Don Cheadle) und seine Partnerin Ria (Jennifer Esposito) übernehmen einen Fall, in dem ein schwarzer Undercover-Polizist von einem weißen Kollegen niedergeschossen wurde. Der iranische Ladenbesitzer Farhad (Shaun Toub) legt sich ebenfalls mit dem Schlosser Daniel an, als dieser ihm rät, seine Tür auszuwechseln. Am nächsten Tag ist Farhad ausgeraubt und hat seine Existenzgrundlage verloren....
Das waren jetzt nur die ersten dreißig Minuten. Und die wirken am Anfang erstmal ziemlich unübersichtlich. Über die Distanz bestehen aber zum Glück keine ernsthaften Verständnisprobleme, die den Filmgenuss einschränken könnten. Denn Regisseur Paul Haggis konzentriert sich auf das Wesentliche, überlädt seinen Film nicht mit unnötigen Details und richtet seinen Blick nur auf das Leben seiner Protagonisten: In kurzen und sensiblen Momentaufnahmen.
All diese Personen treffen sich immer wieder und krachen mit Vorurteilen, Misstrauen und Feindlichkeit aufeinander. Jeder "Crash" zwingt sie, sich ihren Ängsten zu stellen - mal hysterisch, mal tragisch, mal hochdramatisch. Der Rassismus und die Aggression gegen "die Anderen" sind ihre spontane und einfache Reaktion aus instinktivem Selbstschutz: Wenn ich die anderen beschuldigen kann, muss ich nicht über meine eigenen Fehler nachdenken.
"In Los Angeles berühren sich die Menschen nicht wie in anderen Städten, sie krachen ineinander, nur um etwas zu fühlen" sagt Detective Waters am Anfang des Films. Und konsequent lässt Paul Haggis seine Figuren ungebremst und mit voller Wucht aufeinander los.
Doch bei ihren zweiten Begegnungen treten ihre offensichtlichen Vorurteile allmählich oder plötzlich hinter Verzweifelung und Hoffnungslosigkeit zurück. In diesem Film ist der Feind auch der Retter, der scheinbare Gegner der Verbündete, und der langjährige Vertraute seine Treue nicht wert. Aus starken Draufgängern werden sensible und verletzliche Privatmenschen. Aber weil keine Figur um die Sympathie des Publikums heischt, bleiben die Charaktere authentisch. Denn Haggis bezieht zu niemandem Stellung: Es gibt kein Gut und kein Böse, kein Wichtig und kein Unwichtig, jede gesellschaftliche Gruppe bekommt ihr "Fett weg".
Der Regisseur und Autor spielt geschickt mit den Vorurteilen und Erwartungen des Publikums, indem er ihnen in der einen Szene durch Klischees nachgibt, und sie in der anderen über den Haufen wirft. Erst der zweite Blick, den der Film seinen Figuren ermöglicht, lockert die festen Muster, gibt den Charakteren eine neue Chance.
Haggis schafft es trotz der für einen Episodenfilm kurzen Laufzeit von 113 Minuten, jeden seiner Protagonisten zu offenbaren und ihre Ängste und verborgenen Leidenschaften zu entblößen. Die kurzen Momentaufnahmen aus ihren Leben sind nachvollziehbar und eindringlich. Leider sind viele der dargestellten Wandlungen der Charaktere vorhersehbar oder erfolgen zu pathetisch. Auch die unterschiedlichen Reaktionen bei den Begegnungen sind nicht immer logisch. Aber die Schauspieler nehmen ihre Charaktere sehr ernst und geben ihnen auch in kurzen Szenen die nötige Tiefe, und die unterschiedlichen Kollisionen erzeugen immer wieder Spannung. Da verzeiht man es den Produzenten auch, dass sie die dramatischen Momente mit mittelalterlichen Choralgesängen unterlegt haben.
Das Hauptthema des Films ist Rassismus, und deshalb ist "Crash" kein Popcornkino. Wer sich aber für brillant geschriebenes Charakterkino begeistern kann, das aufrüttelt und zum Nachdenken anregt und nicht mit hervorragenden Darstellern geizt; wer Gesellschaftskritik ohne physische Gewaltszenen genießen und obendrein noch seine eigenen Vorurteile testen möchte, dem sei "Crash" wärmstens ans Herz gelegt.
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