
Am Ende einer Spirale aus absurden Katastrophen sitzt Daniel (Daniel Brühl) vor Gericht. Auf die Frage des Richters, ob er denn seine begangenen Taten nicht bereue, platzt die Antwort geradezu stolz aus ihm heraus: "Keine Spur!"
Auch die Zuschauer neben mir atmen zufrieden aus und erheben sich mit einem breiten Grinsen im Gesicht von ihren Sitzen. An diesem Nachmittag sind wir glückliche Kinogänger und bereuen keine Minute des soeben Gesehenen. Was für ein seltenes Vergnügen. Da nimmt sich ein junges Team vor, den total echten, den wahren Film über das Erwachsenwerden zu machen und wir denken: Ach nee, das wird wieder so 'ne Reality Bites-Geschichte. Nur eben für Deutsche. Weit gefehlt. "Wir wollen einen Film machen über ein Thema, das uns betrifft und bei dem wir uns auskennen", erklären die Filmemacher, "Wir wollen endlich erzählen, wie's wirklich ist."
Und das schaffen sie auch. David Schultz' Handkamera fängt auf direkte, aber unaufdringliche Weise den Alltag der jugendlichen Protagonisten ein. Fast schon in der Tradition der dänischen Dogma-Filme driftet die Kamera durch grobkörnig harte Wirklichkeiten und eröffnet gleichzeitig den Blick auf die feinen poetischen Bilder des Lebens. So lebensnah und unbarmherzig die Realität im einen Moment auf den Zuschauer einwirkt, so leicht und phantasievoll tanzen Daniels Tagträume im anderen von der Leinwand in unsere Erinnerung. Genau da liegt die Stärke von Benjamin Quabecks Film - das Erinnern, das Wiedererkennen. Quabeck zeigt, wie es war. Damals. Zur Zeit unserer ersten großen Liebe. Jeder erinnert sich doch noch an all die Zukunftspläne, an jede Menge Probleme und die totale Ratlosigkeit im Hinblick auf ihre Bewältigung.
Eben in diesem Zustand befindet sich der 19jährige Daniel. Er hängt irgendwo fest zwischen rauschhafter Verzückung und der tragischen Leere des unendlichen Scheiterns. Ständig hat er Angst, er würde das Leben, und speziell die Liebe und all die anderen Dinge, die Spaß machen, verpassen. "Und bald sind die Mädchen Frauen", philosophiert Daniel, "Und was bin ich dann?" Höchstwahrscheinlich immer noch Zivi in der Wuppertaler Kirche. Den Job hat ihm sein Vater besorgt. Toll. Jetzt fegt er zum fünften mal den Vorplatz der Kirche. Nur weil er keine Lust hat, sich vom Pfarrer wieder die Geschichte vom Maulbeerblatt anzuhören, dass sich mit viel Zeit und Geduld in Seide verwandelt. Zeit und Geduld bleiben Daniel bald nicht mehr. Er liebt Luca (Jessica Schwarz) seit mittlerweile vier Jahren, doch er hat es ihr immer noch nicht gestanden. Und noch immer ist sie unerreichbar für ihn. Wenn die beiden sich treffen, ist Daniel nicht gerade ein offenes Buch in Sachen Gefühle. Doch Luca macht die Situation auch nicht leichter: Sie ist wild, aufregend und eigenwillig. Und dafür liebt er sie. Allerdings benimmt sie sich demokratisch-nett gegenüber jedem Jungen. Bezaubernd wie sie ist, gibt sie einfach jedem das Gefühl "Wir werden ein Paar", ohne sich aber mit Worten festzulegen. Luca ist es einfach zu umständlich, darüber nachzudenken, was Daniel wirklich von ihr will. Also schaut sie lieber, was das Leben noch so bringt - zum Beispiel während eines Auslandaufenthaltes in Amerika.
Das ist zuviel für Daniel. Aus lauter Verzweiflung kreuzigt er sich am Altar der Kirche und wird daraufhin von seinem Zivijob gefeuert. Aber wie der Zufall manchmal spielt, begegnet ihm gerade jetzt seine neue Kollegin Diakonieschwester Anna (Marie-Lou Sellem). Anna ist geheimnisvoll, schön und ein bisschen traurig. Aber sie ist auch erfahren. Und das trifft sich gut, da Daniel doch gerade so einsam ist. Über diese Rastlosigkeit kann ihn nicht mal sein bester Freund und eifrigster Berater Dennis (Denis Moschitto) hinweg retten. Beide kennen das Leben nur miteinander. Alles, was Daniel über Frauen weiß, weiß er von Dennis. Doch als der wiederum etwas zuviel Interesse an Luca zeigt, kommt es zum Streit zwischen den Kumpels. Die Ereignisse überschlagen und die Affären des Alltags verselbstständigen sich: Daniel prügelt sich mit Dennis, schläft zum ersten Mal mit einer Frau, und und und.
Aber er behält den Kopf irgendwie oben. Alle diese kleinen und großen Desaster lassen ihn schließlich erkennen, dass Leben das ist, was dazwischen passiert. Und deshalb hat Daniel nichts zu bereuen ...
Das wahre Leben nach dem Abitur. Enttäuschte Erwartungen, unverhoffte Zufälle. Im Herbst verliebt in Wuppertal. Das alles ist das Leben von Daniel. Das alles ist auf eine verblüffend realistische und erfrischende Weise aber auch Hauptdarsteller Daniel Brühl. Wer den jungen Schauspieler heute noch nicht kennt ("Schlaraffenland", "Schule"), wird an seiner Natürlichkeit und seinen unverbrauchten Charme in Zukunft kaum vorbei kommen.
Lucas Anziehungskraft beginnt schon mit Jessica Schwarz' unwiderstehlicher Stimme. Sexy haucht sie Daniel Unverbindlichkeiten ins hoffende Gesicht und sieht dabei so rein und fröhlich aus, wie Gott und Viva sie schufen. Und als hätten wir es geahnt: 98 Minuten streichen Daniel/Daniel und Luca/Jessica umeinander herum, um schließlich noch Drehschluss Verlobung zu feiern. So muss das sein im echten Leben - Kreuzigung, Tod, Sex und Verlobung ...
"Nichts bereuen" ist tatsächlich der wahre, echte Film für alle, die schon mal mit dem Erwachsenwerden in Berührung gekommen sind. Er ist ein Appell der Erinnerung an diejenigen, die meinen, es bereits überstanden zu haben, als auch an diejenigen, die meinen, dass sie es nie überstehen werden.
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