Kaum ein Filmstudio ist in den letzten Jahren so sehr im Ansehen seiner Fans gefallen wie Pixar. Einst von seinen Fans (und darunter zählt sich auch die Filmszene-Redaktion) abgöttisch geliebt und gefeiert aufgrund der sensationellen Mischung aus innovativem, kreativem Geschichtenerzählen, brillant entworfenen und oftmals eben so großartig gesprochenen und daher mit Leben versehenen Charakteren und den rasant fortschreitenden Innovationen in Sachen Animationstechnik. Pixarfilme waren Pflichtprogramm in den ersten zehn Jahren ihrer Kinofilmgeschichte.
Aber in den letzten Jahren kam es immer häufiger zu Enttäuschungen: Seit Disney Pixar übernahm scheint – ob nun Firmenvorgabe oder nicht – eher das Verwalten von Franchises denn kreative Innovation auf dem Programm zu stehen, was zu einer Reihe von mal mehr („Die Monster-Uni“), mal weniger („Cars 2“) gelungenen Fortsetzungen führte, sowie zu zynischen Spin-Offs wie „Planes“, die zwar offiziell das Pixar-Siegel vermieden, aber inoffiziell das neue Pixar-Gefühl auf den Punkt bringen: Wirkliche Innovation ist out, Marketing und Zielgruppenbefriedigung mit einhergehenden Spielzeugverkaufszahlen sind in. Und wenn dann mal ein Pixar-“Original“ auftauchte wie „Merida – Legende der Highlands“, dann schien auch das verwässert, wenig originell, disneyfiziert eben.
Was uns zu der zweiten, fast noch schlimmeren Entwicklung bringt: Jahrelang gab sich Pixar als Spielparadies und sicherer Hafen für unbändig auszulebende Kreativität, aber spätestens seit „Merida“ ist auch diese Illusion dahin. Denn wenn Brenda Chapman da harmlos als Co-Regisseurin gelistet wird (es ist bei Pixar ja Gang und Gäbe, zwei Regisseure zu haben), so entspricht das nicht der Herstellungsgeschichte des Films. Jahrelang ein Projekt Chapmans, wurde sie inmitten der Produktion gefeuert und das Projekt wurde im Disney-Sinne umgearbeitet: mehr einfache Gags, mehr Massentauglichkeit, mehr Profitversprechen.
Eine Geschichte, die sich mit dem eigentlich für einen Start im letzten Sommer geplanten „The Good Dinosaur“ wiederholte: Der Co-Regisseur, der den Film mehrere Jahre lang eigenhändig entwickelte, wurde inmitten der Produktion gefeuert, es wurde viel umgeschrieben und umgearbeitet und schließlich so viel verändert, dass der gesamte Stimmencast (!) ausgetauscht und ersetzt wurde, um die veränderten Rollen und Situationen neu einzusprechen, und „The Good Dinosaur“ nun mit über einjähriger Verspätung im November diesen Jahres ins Kino kommen soll.
Schwere Zeiten also für Pixar, und daher ist es höchste Zeit, mit einem originalen und originellen Film das arg angekratzte Image wieder aufzupolieren. Und wer die obige Wertung gesehen hat, weiß, dass dies funktioniert hat und zwar auf eine Art und Weise, die man kaum mehr für möglich gehalten hat. „Alles Steht Kopf“ ist nicht nur das Comeback von Pixar, es ist nicht weniger als eine kreative Wiedergeburt. Dabei ist es natürlich kein Zufall, dass die Prämisse von „Alles Steht Kopf“ in ihrer Originalität und Verspieltheit an vergangene, gloriosere Zeiten erinnert.
Es geht nämlich um das elfjährige Mädchen Riley, das den Umzug ihrer Eltern aus ihrer Heimat in Minnesota nach San Francisco verkraften muss. Und der Zuschauer sieht nicht nur von außen, was mit Riley passiert, nein, er kann sehen, was sich in ihrem Gehirn abspielt. Wir treffen in ihrem Hirn die fünf ihr Verhalten steuernden Kernemotionen Freude (im Original gesprochen von Amy Poehler), Kummer (Phyllis Smith), Angst (Bill Hader), Ekel (Mindy Kaling) und Wut (Lewis Black). Ausgelöst durch den Umzug nimmt das Chaos in der emotionalen Schaltzentrale in Rileys Kopf bald Überhand und Freude und Kummer werden durch einen Unfall mitsamt den Kernerinnerungen, die Rileys Wesen ausmachen, versehentlich aus dieser Schaltzentrale in die äußeren Regionen von Rileys Gehirn verbannt. Jetzt gilt es, möglichst schnell zurück zu kommen, damit das Mädchen nicht die Dinge verliert, die sie zu sich selbst machen. Derweil versuchen die drei verbliebenen Emotionen in der Schaltzentrale verzweifelt, ohne die normalerweise alle anführende (und mit mehr als leichtem Kontrollzwang ausgestattete) Freude zurecht zu kommen und Rileys Emotionen zu kontrollieren. Für Riley, aber auch für das ungleiche Team Freude und Kummer gilt dementsprechend: Alles Steht Kopf...
Wie alle Pixar-Filme funktioniert „Alles Steht Kopf“ auf zwei Ebenen: für die Kinder als buntes Abenteuer mit allerlei aufregendem Gerenne und Action, für die Erwachsenen dagegen als fast philosophische Abhandlung über das Vergehen von Zeit, die Unfassbarkeit und Unhaltbarkeit von Erinnerungen und die Untrennbarkeit von der Komplexität an Emotionen, die unsere menschliche Erinnerungswelt ausmacht. „Alles Steht Kopf“ ist konzeptuell der mutigste Film seit „Wall-E“, der sich zwar auf die Stärken der besten Pixar-Abenteuer besinnt, diese aber in einen mutigen und originellen, weil bemerkenswert abstrakten und philosophischen Kontext einbaut. Denn so simpel die Reduzierung auf Kernemotionen und Kernerinnerungen auch sein mag, so bemerkenswert sind die Versuche, das Wie und Warum von uns Menschen zu erkunden in einem Animationsfilm, der nominell als Film für Kinder gilt.
Die Neugierigkeit der Filmmacher hier, warum wir so agieren und reagieren, wie wir es tun, sucht in der Welt des Animationsfilms ihres gleichen – und nicht nur dort. 'Erwachsene' Erfahrungen waren ja bei allem buddy-Humor und Situationskomik schon immer die Kernthemen der besten Pixar-Filme – und nicht zufällig bei denen, an denen Pete Docter mitgearbeitet hat: Die „Toy Story“-Serie etwa, aber auch „Oben“ drehten sich ja immer schon um Verlust und Vergänglichkeit, die Momente, in denen wir Nützlichkeit und Funktion verlieren. Die besten Pixar-Filme stehen so eindeutig und so sehr über dem Niveau anderer Filme, die sowohl für Kinder als auch ihre Eltern lohnenswert sind, das es fast schon nicht mehr lustig ist. Wenn sich „Alles Steht Kopf“ mal zu einer Pop-kulturellen Referenz für die 'Großen' hinreißen lässt („Forget it, Jake, it's Cloudtown“), bringt einen das natürlich zum Schmunzeln, ist aber eigentlich gar nicht nötig – und zeigt gleichzeitig warum die Pixar-Elite in einer ganz anderen Liga spielt als, sagen wir mal die nur auf diese Art von Pop-kulturelle Referenzen ausgerichtete „Shrek“-Reihe.
Denn die Sachen, auf die „Alles Steht Kopf“ wirklich baut, sind Einfallsreichtum, Emotion und Einzigartigkeit – und alles ist hier reichhaltig vorhanden. So sorgt der Blick in die Schaltzentralen der Gefühle der einzelnen Figuren immer wieder für fantastische Lacher – bis hin zur Sequenz während des Abspanns, die schon für sich mehr Lacher einheimst als viele nominelle Komödien über ihre gesamte Laufzeit. Wenn etwa die Gefühls- und Gedankenwelten von Rileys Mutter und Vater kontrastiert werden, erlaugt man sich zwar auch Klischees, nimmt diese aber gleichzeitig so unwiderstehlich auf die Schippe, das es eine wahre Freude ist.
Ein Erfolgsrezept dieses Films ist so simpel wie effektiv: zurück zu den Wurzeln der besten Pixarfilme. Das heißt: im Mittelpunkt ein merkwürdiges Paar sehr unterschiedlicher Charaktere, das sich in bester buddy comedy-Manier zusammenraufen muss (siehe: Buzz und Woody, Mike und Sully, Marlin und Dora, Carl und Russel etc.), gekreuzt mit dem Entdecken von neuen und wunderlichen (und wundervollen!) Welten. Es ist ja gerade das, was bei den letzten Pixar-Enttäuschungen fehlte: Das Gefühl, etwas Neues zu sehen, oder, noch genauer: etwas Altes und Bekanntes mit völlig neuen Augen. Dieses Gefühl gibt einem „Alles Steht Kopf“ mit seiner innovativen Verbildlichung von Gedankenwelten zurück. Und was Co-Regisseur Pete Docter betrifft, so hat dieser noch eine weitere Allzweckwaffe aus der grandiosen „Monster-AG“ mitgebracht, nämlich den Humor einer Arbeitsplatzkomödie.
Wenn etwa das „Vergesser“-Team anrückt, um mit einer Art großem Staubsauger verblassende Erinnerungen aus Rileys Langzeiterinnerungen zu entsorgen, erinnert das nachhaltig an den aus Arbeitssituationen gewonnenen Lachern bei den Monstern und sorgt im Verlauf des Films dann für einen fantastischen running gag (Stichwort: Kaugummi-Jingle). Da ist es dann wohl auch kein Zufall, dass mit Phyllis Smith und Mindy Kaling gleich zwei prominente Stars der Arbeitsplatzkomödie „The Office“ in der grandios gesprochenen Originalfassung als Sprecherinnen am Start sind. Und besonders Smith als Kummer ist so etwas wie der heimliche Star des Films im gleichen Maße, wie sich die passive, lethargische Kummer am Ende als heimliche Heldin des Films erweist und ihrer über den Großteil der Laufzeit unfreiwilligen Partnerin Freude wichtige Lektionen erteilt.
„Alles Steht Kopf“ nimmt sich selbst aus dem Rennen, nun visuell noch eine Schippe draufzulegen. Was ja auch völlig in Ordnung ist, wenn man so gut wie alles erreicht hat und in der Branche die Standards gesetzt hat. Die absichtlich cartoonesk auf ihre Eigenschaften hin gezeichneten Emotionen und die Pixar-typisch gezeichneten Menschen mögen kein technischer Fortschritt mehr sein, sondern Verbleiben auf hohem Niveau – aber das Niveau ist selbst so hoch, dass dies nicht ein bisschen wichtig ist. Und statt sich von dem rein Visuellen in „Wow“-Zustand versetzen zu lassen, gelingt dies durch den enormen Einfallsreichtum und Mut, den Docter und seine Ko-Autoren hier zeigen. Kein Pixar-Film seit der ersten Hälfte von „Wall-E“ hat sich so kühn ins Abstrakte gewagt wie „Alles Steht Kopf“.
Bei einigen der aberwitzigsten Sequenzen werden die Kleinen nicht mehr mitkommen, das Vergnügen ist dafür umso größer: Bestes Beispiel ist die Sequenz, in der Freude, Kummer und Rileys imaginärer Freund aus Kinderzeiten Bing Bong eine Abkürzung nehmen wollen („G-E-F-A-H-R, das bedeutet Abkürzung!“, wie Bing Bong fröhlich verkündet) und dabei in Rileys Zentrum für abstraktes Denken landen, mit so unglaublichen wie unglaublich mutigen Konsequenzen. Was hat man früher über den visuellen und inhaltlichen Witz und Einfallsreichtum Pixars gestaunt, und dieser Film bringt ihn wieder zurück, in dieser wie anderen unvergesslichen Sequenzen.
Dies ist der Knackpunkt für eine Renaissance von Pixar: Diese Bande von Animationskünstlern aus Emeryville in Kalifornien brachte uns mal um mal zum Staunen, brachte uns Momente und Bilder, die wir so nicht für möglich hielten und von denen wir bis dato gar nicht wussten, dass wir sie wollten oder brauchten, die wir jedoch nun nie wieder missen möchten. Und diesen Sinn des Entdeckens, des Erforschens und des Erstauntseins bringt „Alles Steht Kopf“ mit einer Wucht zurück, dass Pixars Sünden der letzten Jahre erstmal wie weggeblasen sind (auch wenn dieser Trend dann hoffentlich im November mit dem „guten Dinosaurier“ konsolidiert wird). Wie wir an der Seite von Freude, Kummer und Bing Bong die verschiedenen Regionen von Rileys Gehirn wie die „Traum“-Filmstudios entdecken, das strotzt vor Einfallsreichtum und muss man einfach gesehen haben.
Der gerade angesprochene Bing Bong symbolisiert in eine Figur gefasst die Pixar-Magie. Kongenial konzipiert („Ich bin zum größten Teil Zuckerwatte, aber auch Teil Katze, Teil Elefant und Teil Delfin – Tiere waren damals voll im Trend für Riley“) sorgt Bing Bong für ein paar tolle Lacher und sein letztliches Schicksal für große Rührung und Tränen, deren sich der Rezensent nicht zu schämen gedenkt. Wir Zuschauer treffen vielleicht nicht alle Kernemotionen, aber wir verbringen im wahrsten Sinne die meiste Zeit mit Freude und Traurigkeit. Am Ende des Films haben wir gelacht und geweint und gefühlt. Und auch wenn nicht alles Kopf steht, so stehen unsere Gefühle Kopf nach dieser wilden, rasanten, bittersüßen Geschichte, die uns mehr mitteilt, als die meisten Realfilmdramen und -komödien zusammen. Nur eins wissen wir am Ende ganz gewiss, auch ohne das fünfköpfige Komitee hinter unserer Stirn: Wir haben gerade einen ganz ganz großen Film gesehen.
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