Ihre Quasi-Unfehlbarkeit haben die Pixar Studios zwar schon seit einigen Jahren eingebüßt, seitdem man sich den Gesetzen des Marktes unterworfen und angefangen hat, die eigenen Erfolge mit teils fragwürdigen Fortsetzungen auszuschlachten (siehe "Cars 2", "Die Monster-Uni" und "Findet Dorie"). Doch dazwischen hauen die Animations-Helden aus Emeryville halt doch immer wieder einen Film raus, der daran erinnert, was Pixar einst so groß und so besonders gemacht hat, und dass diese Produktionsfirma ihre größten Tugenden immer noch besser beherrscht als jeder andere Genre-Vertreter. Vor zwei Jahren bewies das "Alles steht Kopf", und auch 2017 verbucht nun mit "Coco" seinen eigenen Beitrag aus der Abteilung "Pixar vom Feinsten".
Erste Zutat dafür ist ein originelles Szenario, eine Handlungswelt, die man nicht schon so oder ähnlich dutzendfach gesehen hat, und die für sich genommen schon ein echtes Erlebnis ist. Die hat man diesmal in der mexikanischen Folklore gefunden, denn "Coco" konzentriert sich auf den wohl wichtigsten ur-mexikanischen Feiertag, den "Tag der Toten", an dem das ganze Land farbenprächtig und lebensfroh verstorbenen Freunden und Verwandten gedenkt. Ausgerechnet an diesem Tag gerät der zehnjährige Miguel in erheblichen Konflikt mit seiner Familie, denn in der ist Musik strikt verpönt, seitdem Miguels Ururgroßvater Frau und Kind sitzen ließ, um als Musiker in die Welt hinauszuziehen. Entsprechend entsetzt reagiert die Verwandtschaft als sie erfährt, dass Miguel heimlich Gitarre spielen gelernt hat und ebenfalls von einer Karriere als Mariachi träumt. Sein Instrument, mit dem Miguel eigentlich an einem Talentwettbewerb teilnehmen wollte, wird kurzerhand konfisziert, doch davon will sich der Junge nicht aufhalten lassen. In seiner Verzweiflung will er sich eine ganz besondere Gitarre "ausborgen" - an einem Ort, der dafür sorgt, dass Miguel ein noch viel größeres Problem bekommt. Denn auf einmal findet er sich in der Welt der Toten wieder, aus der die Verstorbenen eben am "Tag der Toten" ins Diesseits zurückkehren, um ihre Lieben wiederzusehen. Für Miguel ist dieser Weg zurück nur mithilfe eines toten Verwandten möglich, doch auch im Land der Toten verlangt seine Sippe, dass er seinen Traum von der Musik aufgibt, wenn sie ihm helfen sollen. Also muss Miguel im Jenseits den einen Verwandten finden, der seine Liebe zur Musik teilt - jenen seit Generationen verfluchten Ururgroßvater.
Es ist wahrlich wieder einmal eine ganz besondere Welt, die Pixar hier für seine Zuschauer öffnet, denn das Land der Toten ist wirklich ein Erlebnis. Das Einfallsreichtum und die Detailliebe, mit der man dieses Jenseits erschaffen und mit seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten versehen hat, spricht wieder einmal Bände über die schier unbändige Erzählfreude, von der jeder große Pixar-Film lebt. Es ist ein Spektakel für sich, diese Welt zu entdecken, mit ihrer eigenwilligen Bürokratie, die sich dort rund um den "Tag der Toten" etabliert hat. Der wirklich große Wurf, der diesem Film gelingt, ist aber die alles andere als leichte Aufgabe, einen kindertauglichen Film zu erzählen, in dem es maßgeblich auch um das Thema Tod und Sterben geht. Und diese Schwierigkeit wird hier ebenso großartig wie berührend gemeistert. Denn das Land der Toten wird hier nicht als die quasi mexikanische Ausgabe des Himmels dargestellt, in dem das ewige Leben wartet. Auf wundervolle, tragisch-poetische Weise macht "Coco" es zu einem zentralen Faktor seiner Handlung, dass es einen Zeitpunkt gibt, an dem man lange nach dem eigenen Tod auf gewisse Weise ein zweites Mal stirbt, und dass darum auch das Dasein im Land der Toten endlich ist. Dabei kehrt der Film heraus, wie bedeutsam es ist, sich der Verstorbenen zu erinnern, und zelebriert so auf wirklich berührende Art die Bedeutung von Familie.
Man könnte das als kitschig abtun, wenn es nicht so gnadenlos gut funktionieren würde. Weil die hier erzählte Geschichte sich eben nicht manipulativ anfühlt, sondern absolut aufrichtig. Und weil Pixar einmal mehr seine Figuren wirklich ernst nimmt und sie nicht bloß als sprücheklopfende Vehikel für leichte Unterhaltungskost benutzt. Es ist wirklich beeindruckend, wie der kleine Miguel hier als vollwertiger Charakter ausgeleuchtet wird und wie ernst der Film seine kindliche Psyche nimmt (und damit auch die seiner kindlichen Zuschauer). Fast schon magisch jene Szene, in der man Miguel zum ersten Mal Gitarre spielen und singen sieht, und es bezaubernd gelingt, ehrlich und wirkungsvoll seine tiefe Liebe für die Musik zu transportieren.
Überhaupt spielt die Musik hier natürlich eine sehr wichtige Rolle, was für einen Pixar-Film ziemliches Neuland ist. Während typische Disney-Filme auch heutzutage ja immer halbe Musicals sind, ist dies die erste Pixar-Produktion, in der mehrere Songs zum Bestandteil der Handlung werden. In der Stilistik der Musik zeigt der Film dabei ebenso wie in allen anderen Aspekten großen Respekt vor der Kultur, die er als Schauplatz gewählt hat, und es ist durchaus bemerkenswert, dass man hier eben keinen halbgaren Weg als Zugeständnis ans amerikanische Publikum gegangen und den Film in der Latino-Gemeinschaft in den USA verortet hat. Nein, "Coco" spielt zu einhundert Prozent in Mexiko, und wie er die dortige Kultur und Folklore abfeiert, ist angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Stimmung in Trump-Amerika ein politisches Statement an sich - auch wenn das zu Produktionsbeginn dieses Films vor über fünf Jahren natürlich nicht abzusehen war.
Die außerhalb von Mexiko nur wenig bekannte Folklore um den "Tag der Toten" und ihre Details, die der Film als Motive für seinen Plot nutzt, müssen dem Publikum natürlich erst einmal näher gebracht werden, weshalb sich die erste Viertelstunde von "Coco" stellenweise wie eine etwas hölzerne Lehrstunde in Sachen Latino-Kultur anfühlt. Nachdem alles notwendige Wissen aber gepflanzt ist, schnurrt der Film nur so da hin mit einer mitreißenden, wendungsreichen und einfach großartig erzählten Geschichte. Auffällig ist hier höchstens, dass die Gag-Dichte zu sonstigen Pixar-Produktionen dünner ausfällt und es hier weniger häufig zu großen Lachern kommt. Das tut der Sache aber keinen Abbruch, in Sachen Erzählkunst ist Pixar hier mal wieder absolut auf der Höhe und schafft einmal mehr den nur scheinbar mühelosen, in Wahrheit aber höchst schwierigen Spagat, sowohl absolut kindertauglich zu erzählen als auch genug Details unterzubringen, die ausschließlich ein erwachsenes Publikum begreifen und sich darüber köstlich amüsieren wird (Stichwort: Frida Kahlo).
Und am Ende heulen Klein und Groß dann sowieso gemeinsam: Wenn man endlich begreift, wieso eine völlig inaktive Nebenfigur diesem Film seinen Titel gegeben hat und die wundervoll emotional aufgezogene Geschichte ihren Höhepunkt erreicht, kulminiert "Coco" mit einem unwiderstehlichen Tränenschocker von einer Szene. Da werden selbst gestandene Männer mehr als nur feuchte Augen kriegen, versprochen. Pixar hat in seiner Geschichte schon so einige zutiefst berührende Momente geschaffen, aber selbst die quasi legendär-tränenrührige Montage am Anfang von "Oben" verblasst neben dem kollektiven Griff zum Taschentuch, der hier ansteht. Es ist der absolut wundervolle Schlusspunkt eines absolut wundervollen Films. So etwas kann halt einfach nur Pixar.
Neuen Kommentar hinzufügen