Ein kleines Dorf im Norden Deutschlands in den Jahren 1913 und 1914. Kurz nach der Ankunft des neuen Lehrers (Christian Friedel) bewegen einige ungewöhnliche Ereignisse die Menschen im Ort. Es beginnt mit dem Reitunfall des Arztes, denn Unbekannte hatten ein Seil über das Gelände gespannt und so sein Pferd zum Sturz gebracht. Für den Tod einer Bäuerin im Sägewerk machen einige Bewohner den Gutsherrn, genannt der "Baron" (Ulrich Tukur) verantwortlich, doch der zaghafte Protest verläuft bald im Sande. Die Atmosphäre wird aber trotzdem immer angespannter und auch der Pfarrer (Burghart Klaussner) sieht die Zeit gekommen, seine Kinder noch strenger an die Kandare zu nehmen. Nach jeder Verfehlung müssen diese fortan eine Zeit lang als Zeichen ihrer Sünde ein weißes Band tragen, was aber nichts daran ändert, dass die Kette seltsamer Geschehnisse auch weiterhin nicht abreißt und das Misstrauen untereinander im Dorf zusehend größer wird.
Was sich liest wie ein spannender Kriminalfall ist natürlich in Wahrheit etwas ganz anderes, und wohl kaum jemand würde von einem Michael Haneke wohl auch so etwas wie einen profanen Thriller samt klarer Auflösung erwarten. Nein, der streitbare Regisseur mit dem Hang, sein Publikum über die Mechanismen von Gewalt zu belehren, möchte uns auch diesmal etwas zeigen. Er wird dabei aber kaum den üblichen Gegenwind verspüren, den seine "Funny Games" noch auszulösen vermochten, denen man ja gern die gleiche manipulative Machart vorwarf, die Haneke darin kritisierte.
In "Das weiße Band" möchte er auf einen Aspekt aufmerksam machen, der seiner Meinung nach wohl viel zu kurz kommt, wenn man von Kindes Alter an über die deutsche Geschichte der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts aufgeklärt wird. Denn dabei geht es meist um Jahreszahlen und Namen, um die große Politik und den historischen Ablauf. All diese in Schulbüchern oder aufwändigen TV-Dokumentationen präsentierten Daten und Berichte haben aber letztlich bis heute nicht schlüssig und abschließend erklären können, wie sich die große Mehrheit eines ganzen Volkes nicht nur von einem genauso skrupellosen wie im Grunde lächerlichen Mann und dessen Helfern zu sadistischen Untaten gegenüber ihren Mitmenschen verleiten ließ, die weit über das Maß hinausgingen was man in einem Krieg gewöhnlich noch für "normal" oder notwendig hält.
Haneke geht zu diesem Zweck zeitlich erst einmal ein ganzes Stückchen zurück und siedelt seine Geschichte am Vorabend des ersten Weltkriegs an, nicht des Zweiten. Und wenn die Erzählstimme des alt gewordenen Lehrers ganz zu Beginn des Films von Ereignissen berichtet, die "für die spätere Entwicklung und Vorgänge in seinem Heimatland von einschneidender Bedeutung waren", dann baut sich einem erst einmal ein mittelgroßes Fragezeichen vor dem geistigen Auge auf. Wie, diese eher belanglosen kleinen Unfälle oder auch Anschläge sollen von historischer Bedeutung sein? Es ist ja nicht so, dass wir es hier mit Mord und Totschlag oder Waffengewalt zu tun hätten. Nein, es handelt sich um auf den ersten Blick fast harmlose Zwischenfälle, welche normalerweise eigentlich nicht den Stoff für große Betrachtungen bieten. Ein Arzt wird mittels eines gespannten Seils zu Fall gebracht und verletzt sich leicht, der Sohn des Gutsherrn wird verprügelt, ein Wellensittich mit einer Schere durchbohrt. Eine gewisse Unruhe breitet sich daraufhin zwar im Ort aus, aber letztendlich geht dann doch alles seinen gewohnten Gang weiter, und da die Vorfälle nicht aufgeklärt werden können, vergisst oder verdrängt man sie halt irgendwann wieder.
Die einzige Stimme der Vernunft, die der Wahrheit schließlich nahe kommt ohne dass ihr deshalb jemand Glauben schenken würde, ist die des von Außen dazugekommenen jungen Lehrers. Er ist anscheinend als Einziger noch nicht so in den Hierarchien und den "So ist das nun mal"-Ritualen der übrigen Bewohner verankert, und kann sich den Blick für die offensichtlichen Merkwürdigkeiten und verdächtigen Verhaltensweisen erhalten. Die Anderen wollen davon aber nichts wissen, sondern bevorzugen eine Sichtweise, die sämtliche Schuld und Verantwortung bequem auf die eh fragwürdigen Außenseiter oder neu Zugezogenen schieben lässt.
Die Wahrheit ist aber eine andere: Die sich hier bereits in kleineren, aber extrem bösartigen Aktionen äußernde Gewalt geht von denjenigen aus, die in dieser Gesellschaft groß werden. Einer Gesellschaft, die sich auf Autorität, Unterdrückung und Strafandrohung gründet, in der es Ordnung und Regeln gibt, die gefälligst nicht zu hinterfragen sind und in der durchgehend "Macht" ausgeübt wird. Macht vom Gutsbesitzer und Arbeitgeber gegenüber den finanziell abhängigen Bauern, Macht vom Lehrer gegenüber seinen Schülern und Angestellten. Vor allem aber weiß damit der örtliche Pfarrer zu erschrecken, der zutiefst davon überzeugt ist, es "ja nur gut zu meinen" und den es glaubwürdig traurig macht, seine Kinder "nun leider wieder bestrafen zu müssen". Der sich ehrlich über "Fortschritte" bei seiner Erziehung freut und dem einfach nicht bewusst wird, welche grausamen Ungeheuer sein repressives Regiment gebären könnte. Es handelt sich hier wohlgemerkt um eine protestantische norddeutsche Gemeinschaft und nicht etwa um eine südlich gelegene katholische. "Nicht mal eine katholische", mag man fast seufzen, denn da wusste man als aufgeklärter Mensch ja eh schon, wie es da seit jeher zuging und wie Schuldbewusstsein, Bestrafung und Vergebung zum guten Ton gehörten.
Burghart Klaussner verkörpert hier ein paar Jahre nach seiner Rolle als Entführungsopfer in "Die fetten Jahre sind vorbei" erneut absolut überzeugend eine zwiespältige Figur in einem Kinofilm, einen "guten Hirten", der von sich selbst glaubt absolut richtig zu handeln und mit klarer, sonorer Stimme seine Regeln nicht nur verkündet, sondern auch stets erklärt. Mit einer Mischung aus erfahrenen Darstellern wie Ulrich Tukur, Susanne Lothar oder Josef Bierbichler und bisher eher unbekannten Schauspielern arbeitet Haneke hier, und das gesamte Ensemble liefert eine mehr als überzeugende Leistung ab, was vor allem auch für die nicht ganz unbedeutenden Kinderdarsteller gilt. Ganz besonders herauszuheben ist dabei die junge Maria-Victoria Dragus, die der Pfarrerstochter Klara eine faszinierende und unheimliche Aura verleiht. Lediglich die Besetzung von Detlev Buck in einer Nebenrolle als Vater der vom Lehrer angebeteten Herzensdame erweist sich als nicht hundertprozentig glücklich, denn dessen Stimme und Erscheinung ist einfach zu sehr mit seinen lakonischen Komödien verbunden, als dass man sich als Betrachter so davon so lösen könnte wie es hier angemessen wäre.
Formal liefert Haneke in digitalem Schwarzweiß einen visuellen Genuss ab, wie man ihn so wohl auch noch nicht gesehen haben dürfte. Seine Bilder wirken fast wie kunstvolle Fotografien, und wer die früheren Werke des Minimalisten kennt, der weiß, dass auch bei einer Laufzeit von fast zweieinhalb Stunden keine Einstellung als überflüssig zu bezeichnen ist. Die Atmosphäre ist durchgehend so beklemmend, dass die Spannung stets greifbar bleibt, egal wie viel oder eben auch wie wenig gerade auf der Leinwand passiert. In dieser Hinsicht hat es Michael Haneke zu einer absoluten Meisterschaft gebracht und übertrifft da sogar noch einmal seine letzte Arbeit "Caché".
Schlagworte wie Präzision und Genauigkeit oder "Skalpell" und "sezieren" sind hier angebracht, denn damit lässt sich noch am Ehesten beschreiben, wie beeindruckend in "Das weiße Band" der Mikrokosmos eines winzigen Teils der Gesellschaft jener Zeit betrachtet und auseinander genommen wird. Der Film gewann dieses Jahr die Goldene Palme von Cannes und er wird der deutsche Kandidat bei der nächsten Oscarverleihung sein. All das mit Fug und Recht, denn noch nie wurde in einem Film, in dem die Worte "Faschismus" und "Nationalsozialismus" nicht einmal genannt werden, deren spätere Entstehung trotzdem so überzeugend erklärt. Und auch unter den Werken, in denen diese Begriffe fallen, dürfte man kaum ein derart erhellendes wie dieses finden.
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