Kings Row

MOH (125): 15. Oscars 1943 - "Kings Row"

In unserer Serie "Matthias' Oscar History" (MOH) bespricht Matthias in jeder Folge jeweils einen der zwischen den Jahren 1929 und 2000 nominierten Oscar-Beiträge aus der Kategorie "Bester Film".

von Matthias Kastl / 16. September 2025

Die 15. Academy Awards wurden am 4. März 1943 im Ambassador Hotel in Los Angeles vergeben. Über der Verleihung schwebte natürlich immer noch der Kriegseintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg, was sich diesmal sogar in den zu vergebenden Statuen widerspiegelte. Aufgrund eines Metallmangels bestanden diese nämlich in diesem und den beiden Folgejahren aus Gips, wobei Preisträger nach dem Krieg diese gegen Originale eintauschen konnten. Der Zweite Weltkrieg spiegelte sich auch im großen Gewinner dieses Oscar-Jahres wider, den man getrost als eine Art Propagandafilm bezeichnen könnte. "Mrs. Miniver", ein Drama rund um das Leid, das der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs bei einer britischen Familie auslöst, erhielt 12 Oscar-Nominierungen und schlussendlich sechs Auszeichnungen – darunter der erste von drei Regie-Oscars für William Wyler.

Etwas süffisant kann man die Verleihung dann auch noch als die Geburtsstunde ausschweifender Oscar-Dankesreden brandmarken. Greer Garson, Hauptdarstellerin von "Mrs. Miniver", hielt eine über fünfminütige Dankesrede, deren Länge erst 2025 von Adrien Brody um zehn Sekunden überboten wurde.
 


Nicht ganz fünf Minuten, aber ein kleiner Ausschnitt aus Greer Garsons Rede sollte reichen.


Bevor wir uns jetzt dann unserem ersten "Best Picture"-Kandidaten, dem Drama "Kings Row", widmen, ist es wie immer zum Start in ein neues Oscar-Jahr an der Zeit, ein klein wenig hinter die Kulissen der Traumfabrik zu schauen. Diesmal möchte ich als Ausgangspunkt dafür einen Namen nehmen, der mir in den letzten Oscar-Beiträgen immer wieder von der Leinwand entgegengesprungen ist. Und der untrennbar mit einem Aspekt der Filmkunst verbunden ist, den wir in unserer Reihe bisher sträflich vernachlässigt haben. Also, Zeit, neben den Augen auch die Ohren zu spitzen, denn heute blicken wir auf die Geburtsstunde der Filmmusik. Wer direkt zur Filmkritik möchte, für den ist jetzt lange nach unten scrollen angesagt.


Hintergrund: Steiner, Korngold und die Geburt der Filmmusik

Da ist er schon wieder, der Max. Alleine bei 13 der bisherigen Oscar-Beiträge dieser Reihe hat Max Steiner die Filmmusik komponiert. Und irgendwann wird man ja dann doch neugierig, wen einem immer wieder der gleiche Name aus den Credits entgegenspringt. Das Faszinierende an dem bereits 1914 in die USA emigrierten österreichischen Komponisten ist aber nicht nur sein unglaublicher musikalischer Output (über 300 Filme) oder dessen Oscar-Ruhm (satte 24 Nominierungen und drei gewonnene Trophäen). Es ist vor allem auch Steiners Beitrag zur Entstehung der Filmmusik, wie wir sie heute kennen.

Um Steiners Schaffen besser einordnen zu können, lohnt es sich, wie so oft in dieser Reihe, mal wieder etwas ausholen. Und sich erstmal bewusst zu machen, das schon seit der Entstehung des Mediums Film Musik untrennbar damit verbunden ist. So veröffentlichte bereits Thomas Edison manche seiner Kurzfilme mit Tonaufnahmen, die separat dazu abgespielt werden konnten. Wie am Beispiel der Kurzfilme "Poor John" und "Waiting at the Church" von 1907 zu sehen ist, war so sogar schon die Präsentation von Gesang möglich (hier performt von der Varietékünstlerin Vesta Victoria).
 


Waiting at Church – Sound im Experimentalstadium.
 

Problematisch blieb aber lange die Synchronisation solcher separater Aufnahmen, weswegen diese Herangehensweise lange Zeit nicht über den Experimentierstatus hinauskam. Stattdessen wurden Stummfilme vorzugsweise mit Live-Musik vor Ort begleitet. Das heute meist damit assoziierte Bild des einsamen Pianisten neben der Leinwand trügt aber, denn hier gab es eine gehörige Vielfalt – von Varieté, Ballett, Sinfonie bis zu Oper war alles dabei. Das hing natürlich mit der Größe und dem Renommee des jeweiligen Lichtspielhauses zusammen. Während das kleine Wanderkino tatsächlich nur mit einem Pianisten und vielleicht noch ein oder zwei weiteren Begleitern aufwarten konnte, hatten die großen Kinopaläste oft Orchester mit dutzenden von Musikerinnen und Musikern zur Verfügung (die größten ihrer Art kamen sogar auf über 100). Wobei auch dort teilweise unterschiedliche Arten von Vorstellungen verfügbar waren – für das ganz große "musikalische Kino" gab es zum Beispiel eigens sogenannte "Deluxe Performances".

So konnte das Kinoerlebnis je nach Charakter der Aufführung komplett anders ausfallen. Während große Orchester die mit einem Film mitgeschickten Kompositionen in ihrer ganzen Breite und relativ synchron umsetzen konnten, fiel das Erlebnis natürlich bei einem einzelnen Pianisten deutlich spartanischer aus. Das änderte sich ein wenig mit dem Aufkommen des sogenannten Photoplayers, den wir hier mal laienhaft als "gepimptes Klavier" bezeichnen wollen. Der erlaubte einzelnen Pianisten, zusätzliche Instrumente, wie Streich- oder Orgelklänge, nachzuahmen und ein paar nette Effekte mit einzubauen (vom Autohupen bis zum Telefonklingeln). Das gab es natürlich auch bald in einer Deluxe-Variante, der sogenannten Kinoorgel, die deutlich teurer in der Anschaffung war, dafür aber noch viel mehr musikalische Möglichkeiten bot.
 


Kleiner Einblick in die Funktion und das Wirken einer Kinoorgel.
 

Das erste Anzeichen, dass der Job der Pianisten und Orchester aber vom Aussterben bedroht war, lieferte der Film "Don Juan" aus dem Jahr 1926. Hier nutzte Warner Brothers zum ersten Mal das neue Vitaphone-Verfahren, um eine komplette Sounduntermalung mit (wenn auch nur vereinzelten) Effekten zur Verfügung zu stellen. Die Musikspur wurde dabei auf Schellackplatten geliefert und Synchronität dadurch erreicht, dass Projektor und Plattenspieler mechanisch gekoppelt wurden. Dem Film fehlte aber weiterhin jegliches gesprochene Wort, was sich dann mit der Warner-Brothers-Produktion "Der Jazzsänger" 1927 änderte. Über dessen Auswirkungen auf die Schauspielbranche und Filmschaffende allgemein sind wir ja bereits an anderer Stelle schon eingegangen. Aber was bedeutete das eigentlich für die Filmmusik?

Wer die Filme zu Beginn der Sound-Ära anschaut wird vermutlich etwas irritiert sein. Ja, Filmmusik ist am Anfang und Ende zu hören, aber abgesehen von klassischen Musical-Nummern  herrscht zwischendrin oft Schweigen. Filmproduzenten waren damals sehr skeptisch, dass das Publikum von Musik untermalte Dialoge mögen würde. Schließlich würde es das ja schwieriger machen Dialoge zu verstehen, und überhaupt, welche logische Erklärung sollte es denn für die Musikquelle geben? So musste schon jemand im Film ein Radio anstellen, sich ans Klavier setzen oder, sehr beliebt bei den damaligen Werken, einen Nachtclub- oder Konzertaufführung besuchen, damit man Musik auch im Film serviert bekam. Dialoge blieben so gut wie immer ohne musikalische Untermalung, was bei der mangelnden Aufnahmequalität der damaligen Zeit zur Folge hat, dass es bei solchen Szenen oft auf irritierende Art und Weise relativ laut knistert.  
 


Wo spielt die Musik? Eine Szene aus "Im Westen nichts Neues" ohne Filmmusik – wo soll sie auch herkommen.


Die Rettung kam in Form eines österreichischen Auswanderers. Max Steiner, 1888 in Wien geboren, bekam dabei die Kreativität schon von seinem Vater sozusagen in die Wiege gelegt. Der war Theaterdirektor und Entrepreneur in Wien und ließ dort unter anderem einen spektakulären Freizeitpark (mit einem gewissen Riesenrad) errichten. Max wiederum zog es mehr zur Musik und er komponierte bereits mit 15 seine erste Operette, was angesichts solcher Lehrer wie Gustav Mahler und Richard Strauss jetzt nicht komplett überraschend kam. Nach einem Umweg über London landete Steiner auf der Flucht vor dem Ersten Weltkrieg schließlich 1914 als Komponist am Broadway, wo er unter anderem mit Fred Astaire zusammenarbeitete. Mit dem Aufkommen des Tonfilms lockte ihn dann der Ruf Hollywoods an die Westküste und für RKO Pictures stieg er schnell zu einem gefragten Komponisten auf ("Pioniere des wilden Westens").

Steiner war aber frustriert über die begrenzten künstlerischen Freiheiten und die Tatsache, dass viele Filmemacher die Musikproduktion in der Zeit eher als notwendiges Übel begriffen. Das sollte sich mit der Ankunft des neuen Produzenten David O. Selznick ändern, der Steiners Vision von einer durchgängigen Musikuntermalung unterstützte. Mit dem Film "Symphony of Six Million" (1932) setzten sie dies zum ersten Mal in die Tat um. Und siehe da, der Kritik gefiel das "neue" Stilmittel – auch wenn keine Musikquelle weit und breit zu sehen war. Doch der wirkliche Durchbruch kam erst dank einem großen Affen. 
 


Ausschnitt aus "Symphony of Six Million" mit erstmals durchgehender Filmmusik.
 

Oft wird "King Kong" ja als Wegbereiter für Spezialeffekte gesehen, dabei ist sein Einfluss auf die Filmmusik mindestens ebenso bedeutend. Der Film entpuppte sich als Glücksfall für Steiner, da er hier im wesentlichen freie Hand bekam. Man hatte nämlich die Sorge, dass die Intentionen von Kong mangels Sprache fehlinterpretiert und dessen Auftritte lächerlich wirken könnten. Steiner setzte als Antwort darauf zum ersten Mal in der Filmgeschichte wirklich konsequent auf die Musik als dramaturgisches Gestaltungsmittel. Dafür bediente er sich vor allem der Technik des Leitmotivs, führte also für bestimmte Figuren, wie unseren Affen, wiederkehrende musikalische Themen ein. Kombiniert mit einem sich über den ganzen Zeitraum des Filmes entfaltenden bombastischen Soundtrack markiert "King Kong" damit sozusagen den Beginn der klassischen Hollywood-Filmmusik, wie wir sie heute kennen. 
 


Ausschnitt aus "King Kong" – endlich mal Spannungsaufbau und Leitmotive 
 

"King Kong" wurde nicht nur ein Riesenerfolg, er rettete (vorerst) auch das Studio RKO vor dem finanziellen Untergang. Zugleich war es ein deutliches Signal für den Rest von Hollywood, wohin die Reise in Sachen Filmmusik gehen würde. Die finanziell weiterhin prekäre Situation von Steiner führte zu dessen Wechsel zu Warner Brothers, die sich in Sachen Filmmusik ja ebenfalls schon früh experimentierfreudig gezeigt hatten und nun eine hochkarätige Musikabteilung hochzogen. Produzent Jack Warner machte Steiner zum Chefkomponisten, und der Österreicher produzierte in einem scheinbar unmenschlichen Tempo eine Filmmusik nach der anderen – unterstützt von einem permanent arbeitenden Stab an Mitarbeitern, die ihm zumindest das Orchestrieren abnahmen. Und zwischendrin hatte Steiner sogar noch Zeit, seinem alten Kumpel David O. Selznick auszuhelfen, und komponierte, mit "Unterstützung" von Amphetaminen, in Rekordzeit mal eben die ikonische Filmmusik zu "Vom Winde verweht".

Dass Steiner trotz dieser Fließbandarbeit derart tolle Filmmusik produzierte, grenzt schon fast an ein Wunder. Zumindest eine seiner Techniken wird heute aber etwas kritisch gesehen. Steiner war ein großer Freund von der heute etwas verächtlich "Mickey-Mousing" genannten Technik, bei der die Musik punktgenau auf Geschehnisse im Film reagiert – was heute dann doch ein klein wenig billig klingt. Aber das kann man dem Mann verzeihen, der später auch noch so Werke wie "Casablanca", "Der Schatz der Sierra Madre", "Arsen und Spitzenhäubchen" und "Der schwarze Falke" musikalisch untermalen würde.
 


Taras Theme aus "Vom Winde verweht" - Max Steiners Kronjuwel
 

Bei aller Innovation seitens Max Steiner, hier nur seinen Namen zu nennen, wäre natürlich eine große Ungerechtigkeit. Er war nämlich beileibe nicht der einzige Komponist (und nicht einmal Österreicher), der die Filmmusik Hollywoods in der damaligen Zeit prägen sollte. Vor ihm war bereits der Wiener Hugo Riesenfeld in die USA ausgewandert und sich mit eng an die Handlung angelegten Orchesterkompositionen zu Stummfilmen wie "Die 10 Gebote“ und "Sonnenaufgang – Lied von zwei Menschen“ einen Namen gemacht. Mit dem Aufkommen des Tonfilms und der Machtergreifung Hitlers zog es dann noch viele weitere österreichische Juden in die USA, darunter auch den Komponisten Franz Waxman. Der hatte in Deutschland bereits Josef von Sternbergs "Der blaue Engel“ orchestriert und sollte in den USA vor allem durch seine tollen Kompositionen zu Horrorfilmen ("Frankensteins Braut“, "Dr. Jekyll und Mr. Hyde“) Geschichte schreiben – mal ganz abgesehen von Arbeiten für Alfred Hitchcock ("Rebecca“, "Verdacht“, "Das Fenster zum Hof“) oder Billy Wilder ("Boulevard der Dämmerung“). 

Es ist aber stets ein Name, der im gleichen Atemzug wie der von Max Steiner genannt wird, wenn es um Pionierarbeit in der Filmmusik geht. Ironischerweise war es Steiner selbst, der Erich Wolfgang Korngold zusammen mit Regisseur Max Reinhardt 1934 für den Film "Ein Sommernachtstraum“ in die USA holte. Korngold galt damals als Wunderkind, hatte der Sohn eines bekannten Musikkritikers doch einst in Wien mit gerade mal 11 Jahren schon verblüffend perfekte Kompositionen abgeliefert. Dessen Engagement in Hollywood galt damals als riesiger Marketing-Coup, und in den Folgejahren kehrte Korngold für Warner Brothers immer wieder für Filme wie "Der Herr der sieben Meere“ und "Unter Piratenflagge“ zurück. Für "Ein rastloses Leben“ und "Robin Hood – König der Vagabunden“ gewann Korngold jeweils den Oscar und zog 1938 aufgrund der Ereignisse in der Heimat endgültig in die USA.

So kam es, dass zur damaligen Zeit mit Steiner, Korngold und Waxman gleich drei der besten Komponisten für Warner Brothers arbeiteten. Während aber vor allem Steiner auf Masse produzierte, hatte sich Korngold einen äußerst exklusiven Vertrag ausgehandelt: nur ein bis zwei Produktionen im Jahr und eine extreme künstlerische Freiheit. Die nutzte das Wunderkind für unglaublich anspruchsvolle Kompositionen und die Perfektionierung von vor allem sehr heroisch-romantischen Soundtracks. Kein Wunder, dass noch heute Komponisten wie John Williams Korngold als ihr großes Idol betiteln. Gerade das Abenteuer-, Fantasy- und Superheldengenre fußt auf der Grundlagenarbeit, die Korngold damals geschaffen hat. Für viele ist Korngolds Musik zu "Robin Hood – König der Vagabunden“ dessen Kronjuwel, mir persönlich gefällt sein Beitrag zu "Der Herr der sieben Meere“ (englisch "The Sea Hawk“) am besten. Gerade dort hört man nämlich gut, was mit "heldenhaft klingender" Musik gemeint ist.
 


Konzert mit der Musik zu "The Sea Hawk".
 

Ob Steiner oder Korngold jetzt mehr Einfluss auf die heutige Filmmusik hatten, ist müßig zu beantworten. Vereinfacht gesagt könnte man auch sagen, dass Steiner die Grammatik lieferte und Korngold diese erst so richtig ästhetisch aufpolierte. Wer aber auch immer heute im Kino von der Filmmusik mitgerissen wird, darf sich bei diesen beiden Herren und ihren Kollegen von damals bedanken. Und so freuen wir uns auch bei den Beiträgen der 15. Academy Awards auf einen Haufen toller Kompositionen von Herbert Stothart, Bernard Herrmann, Leigh Harline, Alfred Newman, David Buttolph, Ray Heindorf, Heinz Roemheld und Friedrich Hollaender – und den dazugehörigen „Best Picture“-Kandidaten: "Yankee Doodle Dandy", "Gefundene Jahre", "49th Parallel", "Der Glanz des Hauses Amberson", "Der große Wurf", "Wake Island", "Zeuge der Anklage", "The Pied Piper" und "Mrs. Miniver". 

Los geht es aber mit einem Film, in dem uns Erich Wolfgang Korngold höchstpersönlich mit einem weiteren epochalen Soundtrack verwöhnt. Vorhang auf für "Kings Row".

 

Kings Row

Land
Jahr
1942
Laufzeit
127 min
Genre
Regie
Release Date
Oscar
Nominiert "Outstanding Production"
Bewertung
7
7/10

So, noch jemand hier nach diesem ausführlichen Ausflug in die Geschichte der Filmmusik? Euer Durchhaltevermögen wird aber leider nur bedingt belohnt werden. Ähnlich wie beim letzten Oscar-Beitrag in dieser Reihe ("Schlagende Wetter") ist auch bei "Kings Row" zwar in Sachen Handlung wieder einiges los, doch die ein oder andere unbefriedigende Schauspielleistung und die den durchaus komplexen Inhalten eher unangebrachte erzählerische Vereinfachung schmälern hier schon spürbar das Filmerlebnis. Gerade die Wahl, sich ein ganz schön kontroverses Buch als Vorlage für den Film zu nehmen, entpuppt sich sowohl als Fluch wie auch als Segen. Unter anderem dank Komponist Erich Wolfgang Korngold fühlt sich "Kings Row" aber am Ende trotz einiger Schwächen durchaus wie großes Kino an.

In Sachen Inhalt erinnert "Kings Row" ein wenig an den ebenfalls von Regisseur Sam Wood ("Fräulein Kitty", "Auf Wiedersehen, Mr. Chips") inszenierten Oscar-Kandidaten "Unsere kleine Stadt". Genau wie dort blicken wir auch hier in die Vergangenheit einer amerikanischen Kleinstadt und folgen gleich mehrere Protagonisten auf ihren von zahlreichen Schicksalsschlägen geprägten Lebenswegen. Los geht es dabei in der späten viktorianischen Ära des amerikanischen Mittelwestens, wo der junge Parris (Scotty Beckett) bei seiner liebevollen Großmutter (Maria Ouspenskaya, "Ruhelose Liebe") in eben jenem Kings Row aufwächst. Schon damals schlägt Parris’ Herz für die kleine Cassandra „Cassie“ Tower (Mary Thomas), die allerdings aus rätselhaften Gründen von ihrem Vater (Claude Rains, "Vater dirigiert", "Robin Hood – König der Vagabunden") meist von der Außenwelt abgeschirmt wird.
 


Jahre später, Parris ist inzwischen ein junger Mann (jetzt gespielt von Robert Cummings), ist Cassies Vater dessen Lehrer auf dem Weg zum Medizinstudium. Doch Versuche, mit der nun älteren, aber psychisch deutlich labileren Cassie (Betty Field, "Von Mäusen und Menschen") erneut anzubändeln, gestalten sich als schwierig. Parris’ bester Freund Drake McHugh (Ronald Reagan, "Opfer einer großen Liebe", später US-Präsident) ermuntert diesen aber nicht nachzulassen und hat wiederum selbst die Augen auf die Tochter (Nancy Coleman) eines etwas dubiosen lokalen Doktors geworfen – zumindest, bis die burschikose Randy (Ann Sheridan) die Bühne betritt. Ebenso wie gleich ein ganzer Haufen Schicksalsschläge, die das Leben aller Figuren ganz schön durcheinanderrütteln werden.

"Kings Row" startet mit dem Bild des Ortsschilds des gleichnamigen Städtchens, dessen Botschaft eigentlich nach schönem Heimatfilm klingt. Dies sei ein guter Ort, um Kinder großzuziehen, steht dort geschrieben. Der Film nimmt sich dann aber über zwei Stunden Zeit, um uns vom kompletten Gegenteil zu überzeugen. Nein, hier erwartet uns nicht Gute-Laune-Kino, sondern eine ordentliche Portion Melodrama. Immer wieder stehen Figuren kurz vor dem Zusammenbruch oder verbergen zumindest dunkle Geheimnisse. Doch das wirkt ehrlich gesagt fast harmlos im Vergleich zum Inhalt der Romanvorlage von Henry Bellamann, die ein paar Jahre zuvor erschienen war. Auf Amazon wird dessen Inhalt mit den Schlagworten „Wahnsinn. Promiskuität. Inzest. Mord. Missbrauch.“ beschrieben – davon sind wir in der Filmversion jetzt aber, trotz aller Dramen, doch noch ein gutes Stück entfernt.
 


Der Grund dafür ist, wir erinnern uns, natürlich der Hays Code, der damals Hollywood klare Grenzen und moralische Vorgaben setzte. Aber wie macht man aus einem Buch mit solchen Themen überhaupt etwas „moraltaugliches“? Nun, indem man die härtesten Elemente schlicht streicht und ansonsten lieber vage bleibt, anstatt konkret zu werden. Vom Thema Homosexualität oder gar Inzest ist hier auf jeden Fall nichts mehr übrig. Und selbstverständlich dürfen unterschiedliche Geschlechter, wie noch im Buch, im Film auch nicht gemeinsam nackt baden. Stattdessen bemüht sich die Filmversion, alles zumindest ein wenig aufzuhellen und einen positiven Spin zu finden. So dienen die Abgründe von Kings Row im Film letztlich dazu, dass unsere Hauptfigur das neue Feld der Psychiatrie für sich entdeckt und am Ende eine Art medizinischen Heureka-Moment feiert.

Das erinnert ein wenig an Filme wie "Louis Pasteur" – nur wird dieser Ansatz hier halt nicht wirklich konsequent durchgezogen. Vielmehr läuft er eher parallel mit, wird zeitweise (wenn es unsere Hauptfigur für das Studium der Psychiatrie nach Wien zieht, wir aber hauptsächlich im Ort bleiben) sogar fast ausgeblendet, nur um sich dann zum großen Finale wieder zurückzumelden. So richtig rund wirkt das nicht, was aber auch daran liegt, dass der Film diese psychologische Komponente auch nur bedingt tiefsinnig rüberbringt. Die Art wie psychische Krankheiten oder Traumata hier porträtiert werden, ist nämlich eher oberflächlich. Was nicht nur am Alter des Filmes liegt, sondern auch schlicht daran, dass man nicht viel Zeit dafür hat, da man ja gleich einen ganzen Haufen von diesen präsentiert. Es liegt aber auch an Hauptdarsteller Robert Cummings. Der kann zwar sehr gut den naiven Jüngling geben, ist in komplexeren Szenen aber spürbar überfordert. Von Betty Field, die Cassies "Wahn" extrem theatralisch und ohne jeglichen Anflug von Subtilität spielt, mal ganz zu schweigen.
 


Dass diese zentrale Liebesgeschichte so gar nicht glaubwürdig und überzeugend gespielt wird, wäre normalerweise das Todesurteil für einen Film. Die Sache ist nur die, dass diese scheinbar so zentrale Beziehung vom Film glücklicherweise schon bald komplett fallengelassen wird. Außerdem gibt es schon davor deutlich gelungenere andere Handlungsebenen, wie das kurze, aber charmante Porträt von Parris Kindheit oder dessen Studium bei Cassies Vater. Da darf Cummings mit einem wie immer großartigen Claude Rains interagieren, der ja einfach immer jeden Film bereichert. Überhaupt gibt es hier gerade bei den Nebenfiguren einige wirklich tolle Charakterdarsteller, die dem Film sehr guttun. Ob Claude Rains, die wundervolle Maria Ouspenskaya oder der von mir schon seit Langem ins Herz geschlossene Harry Davenport.

Und dann wäre da ja noch Ex-US-Präsident Ronald Reagan. Der feierte mit "Kings Row" seinen größten Kritikererfolg, und auch wenn dessen Leistung als lockerer Frauenheld nicht unbedingt Oscar-reif ist, macht er das schon ziemlich überzeugend. Gerade wenn er in der zweiten Hälfte seinen eigenen großen Handlungsstrang, zusammen mit der ebenfalls sehr charismatischen Ann Sheridan (die mich irgendwie an Claudia Cardinale erinnerte), spendiert bekommt. Da wünscht man sich, dass man davon doch bitte deutlich mehr bekommt. Irgendwie will der Film aber dann wieder alle Schicksale im Ort auf eher erzwungen wirkende Art zusammenbringen, und das gelingt halt wieder nur bedingt. Manche Momente wirken hier, gerade zwischen Drake und Randy, zwar authentisch, andere aber dann wieder zu melodramatisch und oberflächlich.
 


Interessant ist der Film aber trotzdem immer, weil dieses sich langsam zusammensetzende Mosaik der Kleinstadtabgründe schon irgendwie etwas Faszinierendes hat – und Regisseur Sam Wood einige stimmungsvolle Bilder zaubert. Man übernimmt sich halt nur thematisch hoffnungslos und macht so viele verschiedene Storyfässer auf, dass man unmöglich alles adäquat bedienen kann. Und da man ja auch nicht die Konsequenz aus dem Buch mitbringt, wirkt manches dann eben zwar interessant, aber um eine echte Wucht zu entfalten, einfach zu simpel. Immerhin einer kriegt das mit der Wuchtigkeit aber perfekt hin: Die Filmmusik von Erich Wolfgang Korngold ist ein Traum, auch wenn sie stellenweise auch mal eine Spur zu episch wirkt – was aber eher der Fehler der Story ist, die hier nicht mithalten kann. Gerade das musikalische Hauptthema ist ein Ohrwurm und entfaltet in einer clever inszenierten Szene, die den Übergang von Parris Kindheit zu dessen erwachsener Version markiert, eine unglaubliche Kraft. Die Musik war damals so beliebt, dass sich Warner Brothers vor Anfragen zum Soundtrack nicht retten konnte. Bis zu dessen Veröffentlichung sollte es aber ein paar Jahrzehnte dauern, da Hollywood damals das finanzielle Potenzial solcher Veröffentlichungen noch nicht für sich entdeckt hatte.

Am Ende fühlt sich "Kings Row" so trotz des episodenhaften Charakters und einiger deutlicher Schwächen dann doch zumindest ein wenig episch an. Wobei der Unterhaltungsfaktor hier natürlich eher speziell ist, da eigentlich kaum eine der vielen Wendungen irgendetwas Positives im Leben der Figuren bewegt. Ein Kritiker meinte damals zur Veröffentlichung des Filmes, dies sei ein Werk, bei dem man einfach nur Leuten zuschaut, denen es schlecht geht. Das trifft es ganz gut, sollte einen aber nur bedingt vom Anschauen abhalten, denn dies ist am Ende ein Melodrama der interessanten Sorte.

"Kings Row" ist aktuell als DVD auf Amazon in Deutschland verfügbar. Alternativ ist der Film auch auf der Webseite des Internet Archive kostenlos abrufbar. 
 


Trailer zum Film
 


Die Titelmusik von Korngold – inklusive Ausschnitte des Films.


Claude Rains und ein paar Worte, die heute schon fast prophetisch klingen

 


Ausblick
In unserer nächsten Folge treffen wir mal wieder auf Kinderstar Roddy McDowall und einen Film, dem es an Kriegspropaganda nicht mangeln wird.

Bilder: Copyright

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