Flucht aus Paris

MOH (67): 9. Oscars 1937 – "Flucht aus Paris"

In unserer Serie "Matthias' Oscar History" (MOH) bespricht Matthias in jeder Folge jeweils einen der zwischen den Jahren 1929 und 2000 nominierten Oscar-Beiträge aus der Kategorie "Bester Film".

von Matthias Kastl / 6. August 2024

Nach dem wir schon in der letzten Folge eine durchaus gute Zeit im Paris des 19. Jahrhunderts hatten, schauen wir dort jetzt gleich wieder vorbei. Diesmal wird es qualitativ sogar noch besser, denn die Oscar-nominierte Verfilmung von Charles Dickens “Eine Geschichte von zwei Städten“ wartet gleich mit einem ganzen Haufen interessanter Charaktere und spannender innerer Konflikte auf. 

Flucht aus Paris

Originaltitel
A Tale of Two Cities
Land
Jahr
1935
Laufzeit
128 min
Release Date
Oscar
Nominiert "Outstanding Production"
Bewertung
9
9/10

Auch wenn es in den letzten Jahren gefühlt etwas besser geworden ist, schüttelt man auch heute noch manchmal den Kopf angesichts manch “kreativer“ deutscher Filmtitel, die sich hiesige Verleiher für ausländische Filme so einfallen lassen. Dass dies kein neues Phänomen ist zeigt der deutsche Name unseres heutigen Oscar-Beitrags der 9. Academy Awards des Jahres 1937. Wieso Charles Dickens Literaturklassiker “A Tale of Two Cities“ zur Erstveröffentlichung im Jahre 1952 in Deutschland unter seinem (noch heute geläufigen) Namen “Flucht aus Paris“ erschien gibt Rätsel auf. Die deutschen Buchtitel hatten sich über die Jahre stets nah am Original gehalten und so bleibt wohl nur die Erklärung, dass man mit dieser mehr nach Action klingenden Variante wohl auf ein größeres Publikum hoffte. Dann hätte man sich aber auch gleich der richtig reißerischen Variante der Österreicher bedienen können, die den Film zu deren Kinostart im Jahre 1937 schlicht mit “Guillotine“ betitelten.
 
Immerhin spielen eine Flucht und eine Guillotine in Dickens “A Tale of Two Cities“ tatsächlich  wichtige Rollen. Und irritierende Übersetzung hin oder her, “Flucht aus Paris“ entpuppt sich am Ende auf jeden Fall als verdammt gutes Stück Kino. Der 1937 in den Kategorien “Bester Film“ und “Bester Schnitt“ nominiert Film punktet dabei mit einer über weite Strecken guten Besetzung und manch beeindruckendem Set. Es sind am Ende aber vor allem die feinfühlig inszenierten inneren Konflikte einer ganz bestimmten Figur, die dem Film ein großes Herz und ordentlich Wucht verleihen.


Dickens Werk ist ja dafür bekannt etwas “durcheinander“ geschrieben zu sein – einige Puzzleteile fügen sich erst relativ spät ineinander. Das will man dem Publikum hier aber nicht antun und geht in Sachen Drehbuch relativ geradlinig vor. Kurz vor der französischen Revolution erfährt die in England lebende Lucie (Elizabeth Allan, “David Copperfield“), dass ihr Vater (Henry B. Walthall) entgegen ihrem Wissen noch am Leben ist. Sie macht sich direkt auf nach Paris, wo der rücksichtslose Marquis St. Evremonde (Basil Rathbone, “Unter Piratenflagge“) ihren Vater 18 Jahre lang unschuldig im Gefängnis hatte schmoren lassen. Nach dem emotionalen Treffen lernt sie auf ihrem Rückweg nach London dann den jungen Charles Darnay (Donald Woods, “Louis Pasteur“) kennen, ohne allerdings dessen wahre Identität zu erahnen. Darnay ist nämlich der deutlich angenehmer geratene Neffe des Marquis und hat sich mit seinem humanistischen Gedankengut gar den Zorn des mächtigen Onkels zugezogen. Kein Feind, den man unbedingt haben möchte und so wird Darnay schon bald Opfer eines hinterlistigen Komplotts, das ihn in London auf die Anklagebank bringt. Ausgerechnet der vor allem für seinen Alkoholkonsum bekannte Anwalt Sydney Carton (Ronald Colman, “Arrowsmith“) soll Darnay verteidigen, doch das ist schon fast ein Kinderspiel angesichts der Irren und Wirrungen der französischen Revolution, die bald alle Protagonisten zum Spielball der Geschichte werden lassen.

In den 1930ern produzierte Hollywood eine ganze Serie von Dickens-Verfilmungen – so zum Beispiel “David Copperfield“ im Jahr zuvor. Solche aufwendigen und sehr klassisch angehauchten Stoffe waren natürlich ein Fall für das Studio Metro-Goldwyn-Mayer (über die Vorlieben der großen Studios in dieser Zeit hatten wir ja hier schon einmal gesprochen). Für “Flucht aus Paris“ engagierte man dann auch gleich ein paar alte Bekannte aus “David Copperfield“ – inklusive ähnlicher Rollenprofile. So darf Elizabeth Allan ihre Rolle als Frau mit großem Herz nun deutlich ausbauen, Edna May Oliver weiterhin grantelnd daneben stehen und Basil Rathbone natürlich wieder genüsslich den arroganten Bösewicht geben.
 


Klingt berechenbar und klischeehaft, ist aber trotzdem ganz nett anzuschauen. Weil man nämlich eine weitere Sache aus “David Copperfield“ übernimmt: das Bedürfnis auch Nebenfiguren möglichst dreidimensional und interessant wirken zu lassen. Das zeigt sich gleich zu Beginn, als der Bankier Barsard (Walter Catlett) Lucie die Kunde vom doch nicht verstorbenen Vater eigentlich möglichst einfühlsam vermitteln möchte, am Ende dabei aber an seiner mangelnden Sozialkompetenz scheitert. Die Szene ist so nett gespielt und geschrieben, dass man gleich mit einem kleinen Lächeln in die Geschichte startet. So ähnlich geht das dann auch weiter und immer wieder ertappt man sich dabei, selbst kleine Randfiguren irgendwie interessant zu finden. Was auch an wirklich guten Darstellerinnen und Darstellern liegt, die ihre Charaktere häufig mit einem liebevollen kleinen Augenzwinkern portraitieren.

So nett die Nebenriege auch anzuschauen ist, die größte Faszination geht hier aber vor allem von einer Hauptfigur aus. Es ist dabei spannend zu beobachten, dass man bei der Verfilmung deutlich spürt, wer es den Machern hier besonders angetan hat. Während bei Dickens sowohl Darnay als auch Carton im Fokus stehen, sind es im Film vor allem die inneren Konflikte des Anwalts, die besonders viel Aufmerksamkeit erhalten. Eine clevere Entscheidung, denn der sich als gescheiterte Existenz betrachtende Anwalt Sydney Carton ist aufgrund seiner Tragik der deutlich spannendere Charakter. Und er wird obendrauf auch noch vom besten Schauspieler des Ensembles gespielt: dem ein klein wenig an Gabriel Byrne erinnernden Ronald Colman.
 


An der Stelle müssen wir mal kurz ins Schwärmen kommen. Colman gibt über weite Strecken wirklich grandios einen genauso scharfzüngigen wie auch verletzlich wirkenden Zyniker, dessen unerfüllte Sehnsucht nach menschlicher Nähe immer wieder kurz aufbricht und mit dem man wirklich mitfühlen kann (lediglich ganz am Ende wirkt dessen perfekte Wortgewandtheit angesichts der dramatischen Situation ein wenig deplatziert). Angesichts von eindrucksvollen vier Oscar-Nominierungen soll Colmans Karriere hier zumindest einmal kurz gewürdigt werden. Colman war einst in der Stummfilmzeit an der Seite der ungarischen Schauspielerin Vilma Bánky zu Ruhm gelangt. Der Wechsel zum Tonfilm riss das berühmte Leinwandpaar damals aber auseinander, da Bánkys von vielen als “unattraktiv“ wahrgenommene Stimme deren Karriere praktisch zum Stillstand brachte (ein Schicksal, das einige Stummfilmstars ereilte). Das nahezu perfekte da sehr geschmeidig wirkende britische Englisch von Colman katapultierte diesen dagegen in noch höhere Spähren – lange Zeit galt seine Stimme als die schönste Hollywoods. Seinen Ruhm nutzte Colman um ab 1934 als einer der ersten großen Stars sich von den Fesseln des Studiosystems und seinen Knebelverträgen zu befreien und als Freelancer zu arbeiten. Trotz jeder Menge Charisma und einer erfolgreichen Karriere ist sein Name heute den meisten Menschen aber nicht geläufig, da er nie in einem der ganz großen Filmklassiker mitwirkte.

Die Faszination mit dessen Figur wird aber nicht nur durch Colman sondern auch durch die Inszenierung unterfüttert. Gerade Carton werden immer wieder viele ruhige Momente gegönnt und teils bleibt die Kamera schon sehr lange einfach nur auf dessen Gesicht stehen. Was es noch mal einfacher für das Publikum macht direkt in dessen tragisches Seelenleben zu blicken. Schade nur, dass dessen unerfüllte Liebe zu Lucie auch Potential liegen lässt, da Elizabeth Allan nur ein mittelgutes Charisma mitbringt. Ebenso wie bei Donald Woods fehlt da einfach das gewisse schauspielerische Etwas, um deren beiden Figuren auf ein ähnliches Niveau wie bei Carton zu heben. 128 Minuten sind für ein solch großes und komplexes Figurengerüst natürlich auch etwas wenig, doch gefühlt machen viele Nebenrollen aus deutlich weniger Leinwandzeit einfach mehr aus ihren Figuren.
 


Zumindest am Anfang ist die “kurze“ Laufzeit des Filmes auch ein Problem für den Erzählrhythmus, denn da macht man es sich mit dem Überspringen von wichtigen Ereignissen schon sehr einfach (und nutzt dafür zum Beispiel Texttafeln – ein in dieser Reihe bereits schon öfters beobachtetes Relikt aus der Stummfilmzeit). Im weitere Verlauf wird das Handlungstempo aber glücklicherweise etwas geschmeidiger und es gesellen sich dann auch noch ein paar wirklich schöne Schauplätze hinzu. Gerade die Erstürmung der Bastille ist für die damalige Zeit wirklich beeindruckend geraten und auch heute noch ein kleiner Hingucker. Das ist dann auch gerade das schöne an dieser Inszenierung – man kann hier eben sowohl Spektakel als auch ruhige Momente. Wen man dafür nun loben soll ist gar nicht so leicht, denn Regisseur Jack Conway war mehrere Wochen krank (das war ihm schon bei "Schrei der Gehetzten" passiert) und wurde bis zu seiner Rückkehr von Robert Z. Leonard ("The Divorcee", "Tolle Marietta") ersetzt – was man dem Film aber nicht anmerkt.

Der wiederum spielt am Ende dann nochmal eine seiner größten Stärken aus und sorgt mit Hilfe einer eigentlich unbedeutenden Randfigur für ein wirklich eindrückliches Ende. Und so haben die Macher hier schlussendlich genau die richtigen Stärken von Dickens Vorlage identifiziert und diese über weite Strecken sowohl einfühlsam als auch packend auf die Leinwand gebracht. Denn bei all dem Tohuwabohu rund um eine Revolution, am Ende sind es die Einzelschicksale, die wirklich bewegen. Und das sorgt in diesem Fall einfach für einen richtig gelungenen Filmabend.

"Flucht aus Paris" ist aktuell als Blu-ray-Import auf Amazon in Deutschland verfügbar. Alternativ ist der Film auch auf der Webseite des Internet Archive kostenlos abrufbar.  

 


Die Erstürmung der Bastille in "Flucht aus Paris"

 


Trailer zu "Flucht aus Paris"


Ausblick
In unserer nächsten Folge könnten wir gleich wieder über die deutsche Übersetzung schimpfen. Stattdessen haben wir aber doch lieber einfach eine gute Zeit mit einer Gruppe junger Damen.

Bilder: Copyright

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