MOH (55): 8. Oscars 1936 - "David Copperfield"
In unserer Serie "Matthias' Oscar History" (MOH) bespricht Matthias in jeder Folge jeweils einen der zwischen den Jahren 1929 und 2000 nominierten Oscar-Beiträge aus der Kategorie "Bester Film".
Nach dem wir uns das letzte Mal für “Der Verräter“ in Dublin aufgehalten haben, reisen wir für unsere nächste Geschichte nun ein paar hundert Kilometer in Richtung Osten. Und was für eine Geschichte das ist, schließlich treffen wir in “David Copperfield“ auf eine der berühmtesten Figuren der Literaturgeschichte.
David Copperfield
Manche Dinge ändern sich nie. So setzte man in Hollywood natürlich auch vor knapp 100 Jahren gerne auf bereits bewährte Geschichten – noch dazu, wenn diese beliebte Klassiker waren. Und so verwundert es nicht, dass schon in den Anfangsjahren des Kinos Charles Dickens wohl beliebtester Roman gleich mehrmals auf die Leinwand gebracht wurde. Nach einem amerikanischen Kurzfilm (1911), sowie einer britischen (1913) und dänischen (1922) Langversion durfte das Publikum 1935 zum ersten Mal die Geschichte David Copperfields auch mit Ton auf der Leinwand verfolgen. Das Ergebnis an der Kinokasse war beeindruckend und einige Kritiker bezeichneten das Werk gar als die wohl beste Literaturverfilmung in der Geschichte des noch eher jungen Mediums.
Dieses überschwängliche Lob ist zumindest angesichts einer wirklich wundervollen ersten Hälfte durchaus nachvollziehbar. Allerdings zeugt die zweite Hälfte, so unterhaltsam sie immer noch ist, dann auch von der Schwierigkeit, eine derart komplexe Geschichte in einem einzigen Film unterzubringen. Ursprünglich hatte Produzent David O. Selznick, einer der bekanntesten Produzenten seiner Zeit (“King Kong und die weiße Frau“, “Vom Winde verweht“) angesichts der sehr verästelt aufgebauten Romanvorlage noch mit dem Gedanken gespielt diese in zwei Filme aufzuteilen – was aber am Ende einfach das Budget gesprengt hätte.
So müssen am Ende 130 Minuten reichen, um uns die Erlebnisse des erst jungen (gespielt von Freddie Bartholomew) und später erwachsenen (gespielt von Frank Lawton) Protagonisten näherzubringen. Der junge David Copperfield wächst ohne Vater in der Obhut seiner liebevollen Mutter (Elizabeth Allan) auf, deren Heirat mit dem herrschsüchtigen Mr. Murdstone (Basil Rathbone) ihm das Leben aber schon bald zur Hölle macht. Selbst die warmherzige Haushaltshilfe Clara (Jessie Ralph) kann am Ende nicht verhindern, dass Mr. Murdstone David nach London schickt, damit dieser dort erste Arbeitserfahrung und vor allem Gehorsam und Tüchtigkeit erlernt. Fernab der heimischen vier Wände beginnt für den kleinen David nun ein neues Leben voller Ungewissheiten, bei dem auch so manch exzentrischer Zeitgenosse seinen Weg kreuzen wird.
Der neuseeländische Autor Hugh Walpole traf bei seiner Drehbuchadaption der Romanvorlage eine strukturelle Entscheidung, deren Konsequenz einen sehr großen Einfluss auf die Stärken und Schwächen des Films hat. Während im Buch die Kinder- und Jugendzeit Copperfields nur eines von vier Kapiteln ist, nimmt dieser Teil im Film knapp über die Hälfte der Laufzeit ein. Das ist für den Film erst Mal sehr gut, da man sehr viel Zeit hat um David einzuführen. Dabei dürfte man wohl auch (berechtigterweise) darauf spekuliert haben, dass gerade die dramatischen Kindheitsmomente das Publikum emotional mehr berühren würden als die späteren Probleme des erwachsenen Copperfields.
Diese Rechnung geht erst einmal voll auf. Die erste Stunde ist eine wundervolle Mischung aus vielen kleinen Wohlfühlmomenten und größeren dramatischen Ereignissen, die uns die Hauptfigur sehr schnell sehr nah ans Herz rücken lassen. Dabei sorgt die feinfühlige Inszenierung gerade zu Beginn für eine Atmosphäre, die einen fast ein wenig an die alter Märchen erinnert – was sicher auch dadurch unterstützt wird, dass die Figuren hier meist entweder ein ganz großes Herz haben oder einfach nur richtig böse sind. Im Zentrum von allem steht mit Freddie Bartholomew ein wirklich sehr gut spielender Kinderdarsteller, der auch mit den dramatischen Momenten nicht überfordert ist und genau das Charisma mitbringt, was man für diese Rolle braucht.
Überhaupt ist das Schauspielensemble eine der größten Stärken von “David Copperfield“. Nahezu jeder gibt sich hier auf wundervolle Art seiner Rolle hin und spielt diese auch oft mit einem kleinen Augenzwinkern, das vermuten lässt, dass man hier vor allem auch das jüngere Publikum mit auf die ja durchaus dramatische Reise nehmen möchte. Gerade in der ersten Stunde funktioniert das nahezu perfekt, gerade weil einem auch jede Nebenfigur direkt ans Herz wächst. Abgesehen natürlich von Basil Rathbone, der nur wenige Jahre später seine große Paraderolle des Sherlock Holmes übernehmen würde und hier noch genüsslich den kaltherzigen Bösewicht gibt.
Es ist dann auch der Spiellaune des Schauspielensembles zu verdanken, dass man in der zweiten Hälfte des Filmes trotz deutlicher Schwächen als Zuschauer am Ball bleibt. Dabei funktioniert die Übergabe des Schauspiel-Staffelstabs vom jungen Freddie Bartholomew zum erwachsenen Frank Lawton eigentlich noch sehr gut. Lawton schlüpft überzeugend in die Rolle des älteren David und bringt ebenfalls ordentlich Charisma und Wärme mit, um das Band zwischen Publikum und Hauptfigur nahtlos fortzuführen. Leider bleibt jetzt aber kaum noch Zeit die drei ausstehenden Kapitel des Buches halbwegs vernünftig in die verbleibende Stunde zu packen, weswegen nun das Inhaltstempo deutlich angezogen und die Storyschere ausgepackt wird.
So wirkt der zweite Teil eher wie ein hastig zusammengestelltes Best-Of der Ereignisse des restlichen Buches. Wer die Vorlage nicht kennt dürfte darum mehr als einmal ins Schwimmen kommen, zu viele Lücken tuen sich nun in der Geschichte auf – oder man bekommt lediglich kurze Andeutungen auf wichtige aber nicht gezeigte Ereignisse serviert. Und manch bedeutende Figur, wie Davids Schulfreund Steerforth oder Davids zukünftige Frau, werden etwas überhastet eingeführt und bekommen zu wenig Leinwandzeit für deren eigentlich wichtigen Rollen. Der Versuch hier irgendwie in der zweiten Stunde soviel wie möglich vom Buch unterzukriegen ist darum leider nicht so überzeugend und sorgt auch dafür, dass manchmal Figuren an Orten auftauchen, wo diese eigentlich nichts zu suchen haben. Aber nur so lässt sich die Geschichte eben noch halbwegs nachvollziehbar kondensieren, beraubt dem Geschehen aber dann doch deutlich seines angenehmen Erzählflusses der ersten Hälfte.
Was aber nicht abnimmt ist der Charme vieler Figuren und die immer noch wohlige Atmosphäre, weswegen “David Copperfield“ trotz mancher Widrigkeiten auch in der zweiten Hälfte immer noch Spaß macht. Unterstützt vom Schleier der Nostalgie, den ein alter Schwarz-Weiß-Film ja immer irgendwie mitführt, wird Charles Dickens berühmtes Werk so am Ende auf wirklich unterhaltsame Art und Weise zum Leben erweckt. Was in den folgenden Jahren aber natürlich niemanden davon abhielt, noch zahlreiche weitere Versionen der Geschichte zu produzieren.
"David Copperfield" ist aktuell als DVD auf Amazon in Deutschland verfügbar.
Trailer zu "David Copperfield"
Ausblick
In unserer nächsten Folge begeben wir uns nach Indien und auf ein genauso exotisches wie packendes Abenteuer.
Neuen Kommentar hinzufügen