Spätausgabe

MOH (23): 5. Oscars 1932 - "Spätausgabe"

In unserer Serie "Matthias' Oscar History" (MOH) bespricht Matthias in jeder Folge jeweils einen der zwischen den Jahren 1929 und 2000 nominierten Oscar-Beiträge aus der Kategorie "Bester Film".

von Matthias Kastl / 2. Dezember 2023

Die fünften Academy-Awards wurden am 18. November 1932 verliehen, berücksichtigten Filme die zwischen dem 1. August 1931 und 31. Juli 1932 veröffentlicht wurden und brachten mal wieder ein paar Neuerungen. So wurden das erste Mal nun auch in drei Kategorien Trophäen für Kurzfilme vergeben, von denen sich eine gleich mal ein gewisser Walt Disney sichern konnte – mit seinen insgesamt 26 Oscar-Auszeichnungen ist er noch heute alleiniger Rekordhalter. Als ob er das geahnt hätte produzierte Disney eigens für das Bankett dann auch den animierten Kurzfilm "Parade of the Award Nominees", den ersten in Technicolor produzierten "Mickey Mouse"-Film, in dem Karikaturen von nominierten Stars einen Kurzauftritt haben.
 


Für unsere kleine Oscar-Reihe gravierender war aber die Aufstockung der nominierten Beiträge in der Kategorie “Outstanding Picture“ von fünf auf acht Filme. Neben etwas mehr Arbeit kommt in dem Jahr auch ein sehr illustres Staraufgebot auf uns zu. So treffen wir in den nominierten Filmen unter anderem auf Greta Garbo und Marlene Dietrich und damit zwei der wohl berühmtesten Schauspielerinnen ihrer Zeit. Der weltweite Siegeszug der Traumfabrik war inzwischen nicht mehr aufzuhalten, was uns vor unserer ersten Filmkritik ("Spätausgabe") dieses Jahrgangs aber noch einmal länger abschweifen lässt. Der wichtigste Grund für den Erfolg der amerikanischen Filmindustrie und der Grundstein für die sogenannte goldene Ära Hollywoods war nämlich die Etablierung des Studiosystems, das wir nun einmal kurz genauer anschauen wollen.
 

Hintergrund: Das Studiosystem – Ein Oligopol erobert die Welt

Die Geburtsstunde des Kinos wird heute ja sehr gerne auf den 28. Dezember 1895 datiert, als die beiden französischen Brüder Lumière das Publikum im Pariser Grand Café mit ihrem Kinematografen und dem Abspielen von zehn Kurzfilmen in Staunen versetzten. Das der deutsche Fotograf Max Skladanowsky einen Monat zuvor bereits im Berliner Wintergarten eine ähnliche Vorführung anbot und überhaupt ja noch viele andere Erfinder ebenfalls mit Filmprojektoren experimentierten fällt dabei oft unter den Tisch. Klar ist aber, dass in den nun folgenden Anfangsjahren des Kinos die Amerikaner gerade im Vergleich zu den Europäern erst einmal im Hintertreffen lagen.

Gerade europäische Länder, wie Deutschland, marschierten dabei vorneweg und so stammten anfangs in den USA viele der dort vorgeführten Filme aus Europa und nicht etwa der eigenen sich erst langsam formenden Filmproduktion. Die hatte in den USA übrigens anfangs ihr Standbein vor allem noch in New York, da dort das Herz der Theaterbranche pochte. Um das Jahr 1910 herum zog es viele Filmschaffenden allerdings dann nach Kalifornien, da dort billiges Land, günstige Arbeitskräfte, besseres Wetter und interessantere Landschaften für die Filmproduktion bereitstanden. Außerdem wollte man den Fängen der in New York ansässigen Motion Picture Patents Company entkommen, die kleinere Unternehmen rigoros bei Verstößen gegen viele der eigenen Patente zur Kasse bitten wollte. Und so eröffnete im Frühling 1911 die Nestor Motion Picture Company ihr erstes Filmstudio in einer kleinen kalifornischen Gemeinde namens Hollywood – und im selben Jahr sollten dort über ein Dutzend weitere Firmen nachfolgen.

Dass die Vormachtstellung Europas im Filmbereich fiel, lag aber vor allem am tragischen Lauf der Geschichte. Mit dem Einsetzen des ersten Weltkrieges 1914 kam die Filmproduktion in Europa praktisch komplett zum Erliegen. Eine Chance, welche die Amerikaner sich natürlich nicht nehmen lassen wollten – irgendjemand musste den Bedarf nach Ablenkung in diesen schweren Zeiten ja decken. Schnell avancierte man im eigenen Land zum Alleinherrscher im Bereich der Filmproduktion und bereits Anfang der 1920er Jahre deckte man mit seinen Produktionen auch fast 80 Prozent des ausländischen Marktes ab. Vor allem aber hatte man erkannt, dass man durch das Zusammenschließen von kleineren Unternehmen zu größeren Studios Kräfte bündeln und viel effizienter und vor allem mehr produzieren konnte.
 

Foto von Vincentas Liskauskas auf Unsplash

So bildeten sich bald die sogenannten Big Five von Hollywood, nämlich Paramount, Metro-Goldwyn-Mayer, Warner Brothers, 20th Century Fox und RKO. Diese Studios legten ihre kompletten Prozesse auf die Massenproduktion aus, in dem sie Autoren, Regisseure, Stars und Crews fest an sich banden. Dann kaufte man sich einfach erfolgreiche Stoffe von Theaterstücken oder Büchern ein, gab das an seine Autoren weiter und startete damit eine gut geölte Produktionsmaschine. Man ging sogar noch ein Stück weiter und kaufte oder gründete auch eigene Kinos, in denen man dann nach Belieben seine eigenen Filme veröffentlichen konnte. Von der Produktion bis zur Vorführung alles in einer Hand – man hatte sich eine Goldgrube geschaffen, zu der man Fremden ganz einfach den Zutritt verwehren konnte.

Damit sich das Oligopol nicht zu arg selbst den Kuchen streitig machte, entwickelte jedes der Studios übrigens schon bald seine eigene Stilrichtung inklusive Zielgruppe. Warner Brothers hatte vor allem die Arbeiterschaft im Blick und setzte so stark auf Realismus, raue Geschichten und noch rauere Charaktere (wie in ihren berühmten Gangsterfilmen) – und scheute dabei auch nicht vor sozialkritischen Aspekten zurück. MGM wiederum zielte eher auf die Mittelschicht und war für teure Hochglanzproduktionen von Dramen und Musicals bekannt, während Paramount zum Beispiel einen leichtfüßigeren europäischen Touch entwickelte und viele Komödien produzierte. Dieser Fokus auf bestimmte Arten der Produktionen machte natürlich auch Sinn, da das Personal ja immer das gleiche war und alle schon bald in den jeweiligen Genres mehr und mehr Erfahrung sammelten – ob vor oder hinter der Kamera.

Eine ähnliche Taktik fuhren übrigens auch kleinere Filmstudios, wie Columbia Pictures, Universal Pictures oder United Artists, die der Übermacht der großen fünf oft nur wenig entgegenzusetzen hatten. So hatte Universal am Anfang ebenfalls im Musical-Genre sein Glück probiert, allerdings gegen die aufwendigen Produktionen von MGM schlicht keinen Stich gesehen. Also stürzte man sich auf ein noch vernachlässigtes Genre und machte sich mit Figuren wie Frankenstein und Dracula schon bald einen Namen im sogenannten Monster-Genre. So schafft man sich eben seine eigene kleine Nische.

Und der Rest der Welt? Der konnte nur zuschauen angesichts dieser Dominanz. Da half es dann erst recht nicht, dass die Vormachtstellung Hollywoods (genau wie heute) Filmemacher und Filmemacherinnen aus der ganzen Welt (vor allem aus dem stark gebeutelten Europa) anzog – wie wir in dieser Reihe bereits an den Beispielen von Ernst Lubitsch oder F.W. Murnau gesehen haben. Zu dem "Brain Drain" kam später auch noch die Einführung des Tonfilms, bei dem der heimische Sprachflickenteppich für die europäische Filmindustrie zu einem weiteren Nachteil geriet. So lief nur die Hollywood-Maschine unbeeindruckt weiter wie am Schnürchen, gefüttert von einem gerade während und nach der großen Depression im Jahr 1929 immer größeren Hunger des Publikums nach mehr Filmen und damit Ablenkung. Im Schnitt gingen die Amerikaner damals fast einmal die Woche ins Kino – Zahlen, von denen Produzenten heute feuchte Augen kriegen dürften.

Die großen Studios thronten also im Olymp, da sie genau das in Massen produzieren konnten was die Menschen wollten. Und Hollywood hatte natürlich noch einen großen Trumpf in seiner Hand, nämlich die berühmtesten Stars. Auch deren Einsatz hatte in Hollywood System, aber darauf kommen wir ein anderes Mal zu sprechen. Genauso wie auf die Gründe, warum die Macht des Studio-Systems Ende der 1940er schließlich langsam zu bröckeln begann.

Jetzt aber erst einmal zurück in die goldene Ära Hollywoods und zu unseren acht nominierten Filmen in der Kategorie „Outstanding Picture“ der fünften Academy-Awards im Jahr 1932. Dabei mussten sich am Ende "Bad Girl", "Arrowsmith", "Der Champ", "Shanghai Express", "Spätausgabe", "Der lächelnde Leutnant" und "Eine Stunde mit Dir" dem Greta Garbo Star-Vehikel "Menschen im Hotel" geschlagen geben. Wir starten in diesen Jahrgang mit dem Drama "Spätausgabe" und einem für Warner Brothers so typischen da kompromisslosen Blick in die dunkle Seele der amerikanischen Gesellschaft.


Spätausgabe

Originaltitel
Five Star Final
Land
Jahr
1931
Laufzeit
89 min
Genre
Regie
Release Date
Oscar
Nominiert "Outstanding Production"
Bewertung
8
8/10

In der ersten halben Stunde von "Spätausgabe" werden Erinnerungen an den Vorjahresfilm "The Frontpage" wach. Und man stellt sich die Frage, wie unterschiedlich doch in den 1930ern anscheinend die Wahrnehmung der Menschen von Journalisten war. Wie in "The Frontpage" (und in zahlreichen anderen Filmen der Epoche) werden auch hier sowohl der Herausgeber der Zeitung als auch dessen komplettes Reporter-Team als moralisch verkommen und skrupellos hingestellt.

Von einem Porträt der mutigen und nach Wahrheit suchenden Journalisten vieler heutiger Filme ("Spotlight", "Die Verlegerin") ist man hier meilenweit entfernt. Doch im Gegensatz zu "The Frontpage" suhlt sich "Spätausgabe" nicht einfach nur ziellos im Sumpf des Boulevardjournalismus, sondern hat stattdessen eine Botschaft parat. Eine Botschaft, für die der Film so kompromisslos und überzeugend einsteht, dass man ihm einige seiner Schwächen leichter verzeihen kann.  

Der Herausgeber des Schmutzblattes "New York Evening Gazette" Bernard Hinchecliffe (Oscar Apfel) überredet seinen Chefredakteur Joseph Randall (Edward G. Robinson) einen alten Mordfall wieder auszuschlachten, um so die sinkenden Verkaufszahlen in die Höhe zu treiben. Für diesen Fall engagiert Randall unter anderem den zwielichtigen Reporter Isopod (Boris Karloff) und setzt diesen auf Nancy Vorhees (Frances Starr) an, die einst vor 20 Jahren ihren Ehemann erschoss.
 


Dass die sich inzwischen mühevoll ein neues Leben aufgebaut hat und die anstehende Hochzeit von Nancys Tochter Jenny (Marian Marsh) durch neue Schlagzeilen ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen werden könnte, kümmert unsere Sensationsreporter natürlich nicht wirklich. Und so beginnen die teuflischen Mühlen des Sensationsjournalismus mitleidslos zu mahlen.

So richtig angenehm und interessant ist die erste halbe Stunde von "Spätausgabe" nur bedingt. Ähnlich wie große Teile von "The Frontpage" besteht sie doch vor allem aus einem Haufen zynischer Sprüche von einem Haufen abstoßend wirkender Zeitgenossen. In dieser Zeitungsredaktion möchte man sich wahrlich nicht lange aufhalten und es ist dann schon fast ein bisschen bezeichnend, dass einer der Reporter von Boris Karloff porträtiert wird, der im gleichen Jahr seinen ersten Auftritt in seiner legendären Rolle als Frankensteins Monster hinlegte. Große Schauspielkunst ist das von Karloff hier leider nicht, irgendwie aber passt sein stets etwas debil grinsender Journalist ganz gut in dieses redaktionelle Gruselkabinett.

Doch glücklicherweise hat "Spätausgabe" eine Botschaft im Gepäck, die dieses zynische Bild rechtfertigt und eben nicht nur zum reinen Entertainment missbraucht. Ganz langsam verschiebt sich der Fokus des Films nämlich auf die Auswirkungen der Berichterstattung auf Nancy und deren Familie. Auf einmal gewinnt "Spätausgabe" eine interessante und vor allem auch richtig emotionale  Dimension. Wenn Nancy verzweifelt versucht die Reporter von deren Berichterstattung mit Hilfe von Anrufen abzubringen, von diesen aber (in einer wundervoll umgesetzten Dreier-Splitscreen-Sequenz) eiskalt abserviert wird, geht das schon ans Herz. Es ist aber kein Vergleich zu dem, was das Publikum hier noch alles erwartet.
 


Mit welcher Wucht hier die negativen Konsequenzen des Boulevardjournalismus dargestellt werden, lässt einen schon mehrfach schlucken und nimmt einen gerade in der zweiten Hälfte richtig mit. Und das, obwohl gerade einige der Nebenfiguren etwas zu theatralisch gespielt werden. Lediglich Edward G. Robinson kann schauspielerisch überzeugen und avancierte, unter anderem dank diesem Film, dann auch zu einem der größten Hollywood-Stars der 1930er Jahre.

Doch auch wenn "Spätausgabe" ein wenig unter den schwächeren Nebendarstellern leidet und am Anfang etwas das Sitzfleisch herausfordert, es ist einfach schön einen Film zu sehen, der sein Ziel so konsequent verfolgt und seine Botschaft am Ende so leidenschaftlich umsetzt. Das mag vielleicht nicht für ein Meisterwerk reichen, aber "Spätausgabe" ist definitiv ein Film, der im Gedächtnis bleibt.

"Spätausgabe" ist aktuell als DVD auf Amazon in Deutschland verfügbar.
 

Ein kleiner Blick in "Spätausgabe"


Ausblick
In unserer nächsten Folge stehen auch wieder moralische Fragen im Vordergrund, wenn eine berühmte Regie-Legende seine Hauptfigur vor eine folgenschwere Entscheidung über Leben und Tod stellt.


10
10/10

Jeden Samstag und Dienstag freue ich mich auf eine neue Folge. Diese Ausgabe ist besonders gut gelungen. Weiter so! 👍

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Antwort auf von Nico

Hallo Nico,
vielen Dank für das nette Lob, freut mich, dass dir die Reihe gefällt und du so regelmäßig vorbeischaust. Eine kleine Vorwarnung, ich denke ich werde irgendwann in den nächsten Monaten auf einen Beitrag die Woche reduzieren, damit ich etwas mehr Zeit für die jeweiligen Filme habe. Vorerst geht es aber erst einmal in dem Tempo weiter;-)

Grüße
Matthias

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