Die Schneegesellschaft

Originaltitel
La sociedad de la nieve
Jahr
2023
Laufzeit
143 min
Genre
Regie
Release Date
Streaming
Bewertung
9
9/10
von Matthias Kastl / 1. Januar 2024

Mit “Die Schneegesellschaft“ veröffentlicht Netflix zum Jahresstart den spanischen Oscar-Beitrag in der Kategorie “Bester ausländischer Film“ des Jahres 2023. Ein klein wenig Hollywood schwingt bei dieser Produktion allerdings auch mit, schließlich hat der spanische Regisseur J.A. Bayona (nach seinem einstigen Durchbruch in der Heimat mit “Das Waisenhaus“) in Hollywood bereits so starbesetzte Großproduktionen wie “Jurassic World: Das gefallene Königreich“ und “The Impossible“ umgesetzt. Letztere war ein überzeugend inszeniertes Drama rund um den verheerenden Tsunami im indischen Ozean von 2004, und einer genauso wahren wie nicht minder dramatischen Katastrophe widmet Bayona sich nun in seinem neuesten Werk. Dank einer überzeugenden Cast, viel Fingerspitzengefühl und einem packenden Spannungsbogen wird die Schilderung der Ereignisse rund um einen dramatischen Flugzeugabsturz in den Anden dabei zu einem unglaublich intensiven Überlebensdrama und dem ersten großen Filmhighlight des Jahres.

Das dem Film als Vorlage dienende Ereignis ist allerdings auch an Dramatik schon kaum zu überbieten und gilt als eines der größten Wunder in der Geschichte der Luftfahrt. Am 13. Oktober 1972 stürzte ein Flug mit der uruguayischen Rugbymannschaft Old Christians über den schneebedeckten Anden ab. 29 der 45 Passagiere, viele davon erst Anfang 20, überlebten den Absturz, sehen sich angesichts von Kälte und mangelnder Nahrung aber mit schier unlösbaren Herausforderungen konfrontiert. Die Moral droht schließlich völlig zu brechen, als die Gruppe nach ein paar Tagen via Radio erfährt, dass die Suche nach ihnen eingestellt wurde. Angesichts des drohenden Hungertods beginnt in der Gruppe zögerlich eine Diskussion über den möglichen Fleischverzehr der toten Kameraden, der vor allem bei Numa (Enzo Vogrincic) auf Ablehnung stößt. Der 23-jährige Nando (Agustín Pardella) wiederum pocht auf diese “Notlösung“ für alle, denn die Energie könnte man für eine mögliche eigene Erkundungsexpedition dringend gebrauchen. 
 


Die Tragödie, die sich damals in den Anden abspielte, ist natürlich wie gemacht für großes Hollywoodkino, und es verwundert darum auch nicht, dass die Traumfabrik diese Geschichte bereits 1993 umgesetzt hat. Frank Marshalls “Überleben!“ mit Ethan Hawke in der Hauptrolle erntete damals aber nur lauwarme Kritiken, ganz im Gegensatz zu den Lobeshymnen, die aktuell auf die Neuauflage des Stoffes einprasseln. Das ist aber nicht der einzige Unterschied zwischen den beiden Werken. Im Gegensatz zur Hollywoodversion aus den 1990ern setzt man in “Die Schneegesellschaft“ nicht auf bekannte oder wenigstens erfahrene Schauspieler und Schauspielerinnen, sondern auf ein Reihe relativ frischer Namen und teils sogar Laiendarsteller aus Südamerika. Doch gerade diese unverbraucht wirkende Cast ist einer der größten Pluspunkte des Filmes. Nicht nur erledigt das komplette Schauspielensemble seine Aufgabe mit Bravour, durch die Unvertrautheit mit den Gesichtern ist auch ziemlich schnell eine hohe Glaubwürdigkeit und Identifikation mit den jeweiligen Rollen möglich.

Geschickt nutzt der Film dabei zu Beginn relativ wenige Szenen, um effektiv und überzeugend die Gruppendynamik innerhalb des Rugbyteams zu etablieren. Der neckische Umgangston und das Gefühl der Kameradschaft stellt sich sehr schnell ein und bietet einen starken emotionalen Unterbau für die schrecklichen Ereignisse, mit denen die Figuren im weiteren Verlauf der Geschichte konfrontiert werden. Dass dies bei einem relativ großen Ensemble so gut funktioniert ist schon ungewöhnlich. Zwar gibt es mit Numa eine Figur, die klar im Vordergrund steht, anstatt aber noch zwei oder drei weitere Figuren weiter auszubauen entscheidet man sich hier lieber dafür den Fokus auf die Dynamik in der Gruppe und den Umgang mit den vor ihnen liegenden Herausforderungen zu legen. Das gelingt so gut, dass man es sich erlauben kann viele Figuren nur relativ oberflächlich zu zeichnen. Und selbst Enzo Vogrincic, der ein klein wenig an den jungen Adam Driver erinnert, spielt Numa erfrischend low-key und wird weder vom Drehbuch noch der Inszenierung in die Rolle des klassischen Hollywoodhelden gedrängt, der jede Szene an sich reißen muss.


Überhaupt vermeidet der Film elegant jegliche Form der Glorifizierung und des Kitschs, was angesichts des Szenarios und der Tatsache, dass viele der Protagonisten aus stark religiös geprägten Elternhäusern kamen, nicht selbstverständlich ist. Stattdessen wohnen wir oft schon fast erschreckend rationalen Diskussionen und Entscheidungen bei (die es damals tatsächlich auch so in dieser Form gegeben hat), die gerade beim Thema Kannibalismus für Gänsehaut sorgen, ohne aber zu voyeuristisch oder reißerisch zu wirken. Es ist dann auch die größte Stärke des Filmes, dass er zwar ein packend inszeniertes Drama ist, gleichzeitig aber immer unglaublich feinfühlig und respektvoll mit dem Schicksal aller Beteiligten umgeht.
 
Dazu passt dann auch die Entscheidung, nach jedem Tod kurz den Namen und das Alter der jeweiligen Opfer einzublenden. Ein einfaches Stilmittel, das aber jedes Mal seine beklemmende Wirkung nicht verfehlt – gerade angesichts des jungen Alters vieler der Opfer. Teilweise baut Bayona auch noch kurze Rückblenden zu den Figuren ein, selbst wenn diese bisher eigentlich nur im Hintergrund rangierten. Mit jedem weiteren Nackenschlag, und davon bietet diese Geschichte leider einige, steigt die emotionale Wucht des Geschehens, so dass selbst wenn man mit dem Ausgang der Ereignisse vertraut ist dies zu einem unglaublich aufwühlenden Schlusspunkt führt. Am Ende dürfte es zwar für die goldene Statue als bester ausländischer Film angesichts der übermächtigen Konkurrenz (dem britischen “The Zone of Interest“) nicht reichen, ein dickes Ausrufezeichen setzt “Die Schneegesellschaft“ zum Start des neuen Filmjahres aber allemal.

Bilder: Copyright

10
10/10

Lange nicht mehr so einen guten Film gesehen. Der respektvolle Umgang mit den Überlebenden im Film ist einfach nur gut und man hätte ein so schwieriges Thema nicht besser rüberbringen können

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