Quentin Tarantino gelang mit "Django Unchained" nicht nur einer der erfolgreichsten Filme des letzten Jahres, er brachte damit auch ein Thema auf die Leinwand, das in der Filmgeschichte bis dato sträflich vernachlässigt worden war: Sklaverei. Es entbehrt nicht einer gewissen bitteren Ironie, dass diese Aufgabe ausgerechnet Tarantino und seinem eigenwilligen Ansatz einer historisch angestrichenen Rache-Fantasie zukam, da die amerikanische Filmindustrie sich ansonsten herzlich wenig für die (jenseits der Ausrottung der Indianer) größte Schandtat in der Geschichte ihrer eigenen Nation interessiert hat - so wenig, dass die berühmtesten Sklavenfiguren der Kinogeschichte bis hierher ausgerechnet Scarlett O'Haras treu ergebene Hausdiener aus "Vom Winde verweht" waren, deren klischierte Darstellung das rassistische Konstrukt dankbarer, unbedarfter Untergebener sogar noch unterstrich. Nun ist dieser blinde Fleck endlich Vergangenheit, denn Steve McQueens "12 years a slave" ist für die filmische Repräsentation dieses dunklen Kapitels der Geschichte mindestens so relevant und bedeutsam wie "Schindlers Liste" für die Dokumentation des Holocaust. Ein Film, der nicht einfach nur wichtig ist, sondern zugleich eine cineastische Kraft ausstrahlt, dass es einem beizeiten fast den Atem rauben kann.
"12 years a slave" basiert auf dem gleichnamigen, historischen Tatsachenbericht von Solomon Northop, der Mitte des 19. Jahrhunderts im US-Bundesstaat New York als freier schwarzer Mann und angesehener Tischler und Musiker lebte, bis er unter dem Vorwand eines Engagements für eine künstlerische Tournee gen Süden gelockt und in der Hauptstadt Washington schließlich kurzerhand gekidnappt, in Ketten gelegt und - seiner Identität beraubt - als Sklave nach Louisiana verkauft wurde. Sein anschließendes Martyrium dauerte über ein Jahrzehnt, bevor Northop der Sklaverei entkommen und seine Erlebnisse für die Nachwelt festhalten konnte.
Um den einzig möglicherweise in den Sinn kommenden Kritikpunkt gleich vorne weg zu nehmen (und zu entkräften): Das einzige, was einen an "12 years a slave" stören könnte, ist das Fehlen eines gängigen dramaturgischen Bogens, dass dies eben keine Geschichte einer heldenhaften Flucht aus den Fesseln der Unterdrückung ist und die Hauptfigur über weite Strecken zu Passivität verdammt ist. In dieser Hinsicht ist das Hauptplakat des Films mit seiner Darstellung eines rennenden Solomon auch irreführend: Die Unmöglichkeit der Flucht, die absolute Ausweglosigkeit der Situation ist eines der zentralen Motive des Films, elementarer Teil seiner Kernaussage. Er würde seinem Thema nicht gerecht werden, würde er dem Zuschauer suggerieren, dass es nur genug Mumm und Durchhaltewillen gebraucht hätte, um der Sklaverei zu entkommen.
Wie unmöglich es selbst einem Menschen wie Salomon ist, der eigentlich "nur" den Beweis seiner wahren Identität antreten muss, um seine Freiheit zurückgewinnen zu können, zeigt die gesamte Unmenschlichkeit des Systems Sklaverei in all seinen Facetten. Da wird es bereits zu einer kaum zu bewältigenden Herausforderung für Solomons Durchhaltewillen, sich von der allgegenwärtigen Ungerechtigkeit nicht brechen zu lassen, sein Seelenheil zu bewahren obschon ihm zum Überleben nichts anderes übrig bleibt, als sich den Regeln des Systems zu unterwerfen.
Und die Regeln des Systems sind unerbittlich: Dass es lebensgefährlich für ihn sein kann, seine Belesenheit und Bildung zu offenbaren, muss Solomon auf dem Anwesen seines ersten "Besitzers" William Ford (Benedict Cumberbatch) lernen, als er die Missgunst eines tumben Vorarbeiters auf sich zieht. Ford steht dabei repräsentativ für die "guten" Sklavenhalter: Sich der Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit der Institution Sklaverei durchaus bewusst, beruhigt Ford sein Gewissen, indem er Güte zeigt und seinen Sklaven wohlmeinend das Wort Gottes predigt.
Die Grenzen seiner Menschlichkeit sind jedoch erreicht, sobald das Wohlergehen der Sklaven mit seinen persönlichen wirtschaftlichen Interessen kollidiert - und so wird Solomon "zu seinem eigenen Besten" weiterveräußert an Edwin Epps (Michael Fassbender), der im Gegensatz zu Ford die so ziemlich schlimmste Sorte Sklavenhalter ist: Ein durch und durch verkommenes Subjekt, der sein "Eigentum" nicht allein dadurch erniedrigt, dass er jeden Arbeiter auspeitschen lässt, der beim Baumwollpflücken weniger Ertrag als am Tag zuvor erbringt, sondern auch sein sadistisches Vergnügen mit ihnen treibt - und sei es, indem er sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf reißt, damit sie für ihn tanzen. Auch Epps zitiert aus der Bibel, pervertiert das Wort Gottes allerdings zur Rechtfertigung, seine Sklaven zu knechten und zu bestrafen. Epps und seine eifersüchtige Frau Mary (Sarah Paulson) belegen, wie sehr der Mensch innerlich verrohen kann, wenn ihm absolute Macht über andere Menschen gegeben wird.
Diese fortwährende Grausam- und Hoffnungslosigkeit mitanzusehen, ist stellenweise schwer erträglich, dass man die Augen doch nicht abwendet, gehört zu den größten Leistungen, die Regisseur Steve McQueen hier vollbringt. "12 years a slave" ist erst sein dritter Film, und während das IRA-Gefängnisdrama "Hunger" und das Porträt eines Sexsüchtigen in "Shame" noch einem sehr überschaubaren Arthouse-Publikum vorbehalten waren, stößt McQueen nun in Gefilde vor, die nicht nur deutlich mehr Aufmerksamkeit seitens des Publikums bekommen, sondern garantiert auch von der Oscar-Akademie gewürdigt werden. Tatsächlich ist es kaum vorstellbar, dass im März irgendjemand anders für Film und Regie ausgezeichnet wird. McQueens Film strahlt eine unglaubliche Kraft aus, nicht nur weil er sein Thema so facettenreich, klischeebefreit und ungeschönt darlegt, sondern weil es dem Regisseur zusammen mit seinem Kameramann Sean Bobbitt gleichzeitig gelingt, "12 years a slave" eine so bedrückende wie betörende Schönheit zu geben. McQueens Herkunft aus der Video- und Installationskunst ist unverkennbar, zahllose Einstellungen sind wahre Gemälde, so perfekt sind sie komponiert. Resultat ist ein Werk eines wahren visuellen Künstlers - ein Film, der gleichzeitig ästhetisch und erschütternd ist.
Unter McQueens Führung und dank des enorm starken Drehbuchs von John Ridley läuft auch das Ensemble zu reihenweise Höchstleistungen auf. Die relativ kurzen Auftritte von Paul Dano und Paul Giamatti sind von beängstigender Intensität, Sarah Paulson ist ein Teufel in Gestalt einer erhabenen Hausherrin. Lupita Nyong'o als Sklavin Patsey, deren Leben gerade aufgrund ihrer Schönheit zur besonderen Hölle auf Erden wird, ist eine Oscar-Nominierung als beste Nebendarstellerin ähnlich sicher wie für Michael Fassbender, der hier nun schon zum dritten Mal unter Steve McQueen agiert und für den eine Auszeichnung mit dem wichtigsten Filmpreis der Welt ohnehin längst überfällig ist. Über allem thront indes Chiwetel Ejiofor, dessen Karriere bislang auf charismatischen Nebenrollen fußte und der hier nun in der Tat die Leistung seines Lebens vollbringt. Seine Darstellung von Solomons Kampf um einen Rest Würde und den Erhalt seiner eigenen Menschlichkeit ist bravourös. Einzig Brad Pitt (der auch als Co-Produzent agierte) wirkt in seiner kleinen, aber sehr bedeutsamen Rolle etwas aufgesetzt und unüberzeugend.
"12 years a slave" ist auch darum ein solch enormer filmischer Triumph, weil er sich eigentlich auf konventionellem Oscar-Futter-Territorium bewegt, quasi der Mainstream des Kinos mit Anspruch, sich dabei aber den Konventionen immer noch weit genug widersetzt, um sich seine Eigenständigkeit und individuelle Kraft zu erhalten. McQueens Mut zur fragmentarischen Erzählung, zu kleinen aber wichtigen Brüchen mit den üblichen Sehgewohnheiten sorgt immer wieder dafür, dass sein Film mehr und anders ist, als man es erwartet hätte. Und dass er es sogar schafft, einem Hans Zimmer einen Soundtrack zu entlocken, der gerade dadurch besticht, dass seine Orchestrierung im Kontrast zum historischen Material der Geschichte steht und eben daraus seine beachtliche Wirkung entfaltet, spricht ebenfalls Bände darüber, dass hier ein wahrer Künstler mit einer echten Vision bei der Arbeit war.
Es hat viel zu lange gedauert, bis das Kino endlich seinen definitiven Beitrag zum Thema Sklaverei hervorgebracht hat. Hier ist er nun. Genug gesagt. "12 years a slave" gebührt der nächste Platz im Pantheon der Filmgeschichte.
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