The Black Phone

Land
Jahr
2021
Laufzeit
102 min
Genre
Release Date
Bewertung
7
7/10
von Marc Schießer / 23. Juni 2022

Das schwarze Telefon klingelt und du nimmst ab: „Hallo, unbekannter glücklicher Zuschauer.“

Warum glücklich? Weil du keine Ahnung hast, worum es in der neuen Blumhouse-Produktion „The Black Phone“ eigentlich geht und du weder den Trailer noch die offizielle Synopsis mitbekommen hast.

Gratulation. Dir steht ein spannendes und überraschendes Kinoerlebnis bevor, für das du nur genau so viel wissen darfst:

1978 in einer Kleinstadt in Denver leidet der 13-jährige Finney Shaw (Mason Thames) nicht nur unter den Schikanen von bösartigen Mitschülern, sondern auch unter den willkürlichen Gewaltausbrüchen seines Alkoholiker-Vaters (Jeremy Davies). Zusammen mit seiner scheinbar übersinnlich begabten jüngeren Schwester Gwen (Madeleine McGraw) versucht er, sich in der feindlichen Umgebung zu behaupten, in der grauenvollerweise auch noch ein Kindes-Entführer, genannt „The Grabber“, sein Unwesen treibt…
 

Und mehr Informationen bekommst du von mir nicht.

Denn der größte Spaß von „The Black Phone“ besteht darin, beim Aufbau der diversen Plot-Bausteinchen zuzuschauen, deren Zusammenhang eine ganze Weile lang nicht wirklich ersichtlich ist und einige Überraschungen bereithält. In bester Stephen King-Manier, dessen Sohn Joe Hill mit seiner Kurzgeschichte die Vorlage für diesen Film lieferte, wird die unerwartet einfühlsame Erzählung der Lebenswelt von Teenagern in den 70er Jahren hier sowohl mit realer Gewalt, als auch mit geheimnisvollen übernatürlichen Elementen kombiniert, was der ersten Stunde einen sehr einnehmenden, speziellen Thrill verleiht.

Der für Fans des Genres sehr zu empfehlen ist, denn die jugendlichen Figuren sind überdurchschnittlich liebevoll gestaltet und werden von den zwei sehr talentierten Jungdarsteller:innen auch überzeugend verkörpert. Ebenso überzeugend und ebenso liebevoll ist die Umsetzung der Zeitperiode, für deren authentische und nie zu vordergründige Retro-Ästhetik Regisseur Scott Derrickson ("Sinister", "Der Exorzismus der Emily Rose", "Doctor Strange") ein Faible zu haben scheint. Neben den offensichtlichen größeren, inszenatorischen Freiheiten vielleicht auch einer der Gründe, warum er zugunsten dieser knapp 19 Millionen Dollar günstigen Low-Budget-Produktion den neunmal (!) so teuren „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ verlassen hat. Interessanter als die neueste Reißbrett-Episode aus der Feder des Marvel-Algorithmus ist „The Black Phone“ allemal, wenn auch definitiv nicht frei von Schwächen.

Am ärgerlichsten ist es jedoch, dass sowohl die offizielle Synopsis als auch vor allem der Trailer den kompletten Film und sämtliche Wendungen vollständig preisgeben und so den Spaß deutlich trüben. Deswegen hier noch einmal die deutliche Warnung vor den Auswüchsen rücksichtlosen Studiomarketings und eine Schau-Empfehlung des Films für alle interessierten Genre-Fans.

Du hast den Trailer echt nicht gesehen? Gut. Wir sehen uns im Kino. Du kannst jetzt auflegen. Klick.
 

Das schwarze Telefon klingelt erneut und du nimmst ab: „Hallo, unbekannter bedauernswerter Zuschauer.“

Du hast nichtsahnend den „The Black Phone“-Trailer gesehen und jetzt praktisch den kompletten Film in einer 2:20 Minuten-Version „genießen“ dürfen?

Mein Beileid.

Du weißt also auch längst Bescheid, dass wir es hier im Grunde mit einer Kombination aus Geister- und Serienkillerfilm zu tun haben, der Kinder-„Grabber“ von Ethan Hawke dargestellt wird, dass er unseren wuschelköpfigen Helden nach ca. 25 Minuten zu fassen kriegt und in ein düsteres Kellerverließ sperrt. Dort klingelt ständig ein eigentlich defektes Telefon, an dessen anderem Ende sich die ermordeten vorherigen Opfer des Maskenfans mit Zauberer-Affinität melden, um unseren Helden mit Verhaltens- und Ausbruchstipps zu versorgen. Auch welche das sind und mit welcher Methode Finney den fiesen Sack letztendlich überwältigen will, weißt du ja bereits aus dem Trailer.

Eine Schande ist das, die so mit Sicherheit nicht im Sinne der Kreativen ist.

Aber dann können wir ja zumindest auch offen über die Schwächen des von Derrickson zusammen mit Co-Autor C. Robert Cargill adaptierten Drehbuchs sprechen. Denn so unvorhersehbar und interessant die vielen unterschiedlichen Elemente und Tonalitäten der Geschichte auch sind – leider laufen sie nicht wirklich in einem vollständig überzeugenden Ende zusammen und hinterlassen das deutliche Gefühl, dass hier noch mehr drin gewesen wäre.   

Ethan Hawke, dessen Gesicht stets unter wechselnden Masken versteckt ist, deren großartiges Design ziemlich an den hierzulande viel zu unbekannten japanischen Klassiker „Onibaba“ erinnert, liefert eine tolle, creepy Performance ab und lässt gerade zu Beginn angenehm offen, wie bösartig oder vielleicht doch vertrauenswürdig sein Grabber eigentlich ist. Doch je mehr die telefonische Ausbruchsplanung des Geister-Teen-Komitees an Bedeutung gewinnt, desto mehr rückt die faszinierende Psychopathen-Figur in den Hintergrund und bekommt leider unterm Strich nicht genug Profil und einen zu schwachen Abschluss, um das große Potenzial, was Hawke und das geschickte Design vorgeben, voll auszuschöpfen.

Das steht exemplarisch für den ganzen Film - gegen Ende häufen sich hastige Plot-Twists, unnötige Zufälle und eine gewisse Ziellosigkeit im Storytelling (gerade den halb lustig gemeinten Subplot um den dauerkoksenden Bruder eines Charakters hätte man sich der Glaubwürdigkeit halber wirklich sparen können), die leider im starken Kontrast zu den detaillierten und genauen Schilderungen des Teen-Dramas der ersten Hälfte stehen. Denn auch wenn dort sehr klischeehafte Figuren wie der aggressive Rabenvater, der in seine Hände ausschließlich Bierflaschen und Gürtelriemen lässt, auftreten, gehen einige der häuslichen Gewalt-Szenen deutlich weiter, als man erwarten würde.

Besonders eine Schulweg-Prügelei, bei dem die Schläfe eines Mobbers ungewollte Bekanntschaft mit einem großen Stein machen muss, ist von einer derartigen Konsequenz, dass man das Szenario sehr ernst nehmen und den Behauptungskampf des zusammenhaltenden Geschwister-Duos dementsprechend engagiert und mitfühlend verfolgen kann. Regisseur Derrickson schöpft laut eigener Aussage von den Erfahrungen echten Missbrauchs in seiner eigenen Kindheit und ist auch im wahren Leben dem christlichen Glauben zugetan. Weswegen die entsprechenden Elemente der Geschichte sich allesamt einen Tick aufrichtiger und glaubhafter anfühlen, als in so mach anderem Horror-Reißer.

Als „Stand by me in hell“ hat Genre-Großmeister Stephen King himself den Film bezeichnet. Und ohne, dass diese Qualität jemals ganz erreicht wird, ist der Ansatz damit gut umschrieben. Denn auch wenn nicht alles restlos funktioniert, gibt’s hier einige frische Ideen und eine über weite Strecken packende Intensität zu bewundern, die darüber hinaus die allermeisten Zuschauerinnen und Zuschauer mindestens an einer Stelle so richtig zusammenzucken lassen wird.

Ähnlich wie in diesem Moment, als das schwarze Telefon schon wieder klingelt. Geh nicht dran. Geh lieber ins Kino.


Spoilerfreie Wertung:
Auch ich bin der Meinung, dass da irgendwie etwas mehr drin gewesen wäre und ein bisschen mehr Intensität wäre bestimmt gut gewesen (Sinister ist ja SEHR intensiv, das kann der Regisseur also). War aber vielleicht gar nicht gewollt. Die Schauspieler waren durchgehend super, die Optik und Settings stimmten, die Kinder hatten eine coole, recht erwachsene Art, das war mal neu. Insgesamt sehr gut für einen Kinoabend, wenn die Leute ihre Klappe halten können. Gelegentliches kurzes Aufschreien ist natürlich erlaubt und erwünscht. ;)

Ganz sanfter Spoiler: Manchmal hab ich mich gefragt, warum etwas nicht ausprobiert oder zu Ende geführt wurde. Es war nicht immer deutlich, dass etwas nicht geklappt hat und dann hängt man mit den Gedanken daran fest.

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