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Der Independent-Hype in den USA ist vorbei. Nachdem in den letzten Jahren mehr und mehr Vertreter wichtiger Filmkonzerne beim Sundance Festival (Robert Redford’s alljährlichem Schaulaufen der neuesten Indie-Hoffnungen) aufgeschlagen sind und die hoffnungsvollsten Stoffe für teures Geld erstanden, um dann bald festzustellen, daß die breite Masse sie nicht sehen wollte, ist ein bißchen Katerstimmung eingetreten. Es gibt halt nicht jedes Jahr ein „Blair Witch Project“, und so droht der amerikanischen Indie-Szene die Rückkehr in die Anonymität. Einer der wenigen Filme, die im letzten Jahr erfolgreich dagegen ankämpften, ist Kenneth Lonergans Debüt „You can count on me“, ein einfühlsames Drama über die schwierige Beziehung zweier erwachsener Geschwister, und in der Tat einer der beeindruckendsten Filme der letzten Monate.
Im
Zentrum stehen Sammy (Laura Linney) und Terry (Mark Ruffalo). Ihre
Eltern kamen bei einem Verkehrsunfall ums Leben, als die beiden
noch Kinder waren. Ihre jeweilige Art, mit diesem Trauma fertig
zu werden, könnte nicht viel unterschiedlicher sein: Während
Sammy in dem verschlafenen Nest Scotsville geblieben ist, das die
beiden Heimat nennen, einen bodenständigen Job in einer Bank
annahm, fleißig zur Kirche geht, ihren achtjährigen Sohn
allein aufzieht und eigentlich alles tut, um ein Gefühl von
Sicherheit und Geborgenheit aufrecht zu erhalten, ist Terry ein
rastloser Vagabund, der durch das ganze Land zieht und sich oft
monatelang nicht meldet. Sammy’s Freude ist groß, als
ihr Bruder endlich mal wieder zu Hause auftaucht, doch diese verwandelt
sich bald in Resignation, ist er doch nur gekommen, um sie wieder
einmal um Geld zu bitten. Doch Terry bleibt ungeplant länger,
worüber sich vor allem Sammy’s Sohn Rudy freut. Sein immenses
Bedürfnis nach einer Vaterfigur wird endlich gestillt. Terry’s
chronischer Hang dazu, Dinge in bester Absicht zu versaubeuteln,
führt jedoch bald zu neuen Spannungen zwischen den Geschwistern.
Was
sich hier nach Charakterkino anhört ist tatsächlich nichts
anderes. Dafür aber auch ganz großes. Kenneth Lonergan
(selbst im Part eines Priesters zu sehen) ist nicht daran interessiert,
eine Geschichte mit Anfang, Mittelteil und Schluß zu erzählen.
Er will eine Situation einfangen, eine Beziehungskonstellation,
die sich auch aufgrund der statischen Verhältnisse im Handlungsort
Scotsville so gut wie kaum bewegt. Woran auch überhaupt keine
Notwendigkeit besteht, denn als Zuschauer ist man viel zu sehr damit
beschäftigt, in jeder Szene neue Eigenheiten der Charaktere
herauszulesen und über den ganzen Film hinweg die soeben entdeckten
Stücke in die verschiedenen Figuren-Puzzle einzufügen.
Man
nehme z.B. Sammy’s neuen Chef Brian (Matthew Broderick). Mit
unflexiblem Beharren auf feste Regeln wird er als bürokratischer
Spießer eingefangen, ein Eindruck, der jedoch durch zahlreiche
Szenen der Unsicherheit gebrochen wird. Als Sammy dann aus einer
Laune heraus eine Affäre mit Brian beginnt, dessen Frau im
sechsten Monat schwanger ist, zeigt sich die egoistische Schizophrenie
seines Charakters, der einerseits auf strenge Regeleinhaltung beharrt,
andererseits aber genau dies für sich selbst nicht einsehen
mag. Am Anfang noch ein ehrgeiziger Hardliner, entlarvt sich Brian
zusehends als bemitleidenswerter Schwächling.
Eine
ähnlich subtil umgesetzte Entwicklung macht in diesem Film
jede wichtigere Figur durch, was schon allein eine beeindruckende
Leistung von Autor und Regisseur Lonergan ist. Zum wahren Geniestreich
gerät „You can count on me“ durch die Tatsache, daß
es ihm gleichzeitig gelingt, seinen schlußendlich glasklar
gezeichneten Figuren ihre kleinen Geheimnisse zu bewahren. Wie sich
z.B. Sammy’s wahllos wirkendes Sexualleben mit ihrer Prinzipientreue
vereinbaren läßt und wo der Grund dafür liegt, dafür
bieten sich am Ende eine Handvoll Interpretationsansätze. Besonders
realistische Figuren werden in vielen Filmen gelobt. Daß man
sie hier am Ende wie gute Freunde zu kennen glaubt, die in der Wirklichkeit
auch stets ihre unerklärlichen Eigenheiten haben, ist ein Fall
von enormem Seltenheitswert.
Ganz
entscheidenden Beitrag hierzu leistet das ohne Ausnahme famose Ensemble.
Jeder Darsteller nähert sich seinem Charakter mit der unabdingbaren
Subtilität und geht darin auf. Einen Sonderapplaus haben sich
allerdings die beiden Hauptakteure verdient: Während Mark Ruffalo
komplett hinter der Maske des leicht verwirrten, ziel- und rastlosen
Terry verschwindet, liefert Laura Linney (bekannt als Jim Carrey’s
Frau aus der „Truman Show“) eine Vorstellung ab, die schlichtweg
überirdisch ist. Wie ein Klon der göttlichen Julianne
Moore schreibt sie ganze Romane mit ihrer Körpersprache und
macht die Hälfte ihres Dialoganteils so gut wie überflüssig.
Zurecht wurde Linney für diesen Part mehrfach ausgezeichnet
und auch für einen Golden Globe nominiert (den sie, objektiv
betrachtet, eigentlich hätte gewinnen MÜSSEN).
Die Brillanz von „You can count on me“ liegt letztlich darin, daß man sie gar nicht bemerkt. Wie ein langer, ruhiger Fluß fließt der Film mit einer Natürlichkeit über die Leinwand, daß der Blick für das zugrundeliegende Genie beinahe vollkommen getrübt wird. Kein Film mit ausufernder Geschichte, Patentlösungen oder großen Botschaften, aber ein Paradebeispiel dafür, wie Figuren auf der Leinwand zu dreidimensionalen Menschen wie du und ich werden, und noch dazu die ehrlichste, unkonventionellste und tiefsinnigste Abhandlung über Familienwerte seit langer Zeit.
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