You can count on me

Originaltitel
You can count on me
Land
Jahr
2000
Laufzeit
109 min
Genre
Release Date
Bewertung
9
9/10
von Frank-Michael Helmke / 23. Dezember 2010

Der Independent-Hype in den USA ist vorbei. Nachdem in den letzten Jahren mehr und mehr Vertreter wichtiger Filmkonzerne beim Sundance Festival (Robert Redford’s alljährlichem Schaulaufen der neuesten Indie-Hoffnungen) aufgeschlagen sind und die hoffnungsvollsten Stoffe für teures Geld erstanden, um dann bald festzustellen, daß die breite Masse sie nicht sehen wollte, ist ein bißchen Katerstimmung eingetreten. Es gibt halt nicht jedes Jahr ein „Blair Witch Project“, und so droht der amerikanischen Indie-Szene die Rückkehr in die Anonymität. Einer der wenigen Filme, die im letzten Jahr erfolgreich dagegen ankämpften, ist Kenneth Lonergans Debüt „You can count on me“, ein einfühlsames Drama über die schwierige Beziehung zweier erwachsener Geschwister, und in der Tat einer der beeindruckendsten Filme der letzten Monate.

Im Zentrum stehen Sammy (Laura Linney) und Terry (Mark Ruffalo). Ihre Eltern kamen bei einem Verkehrsunfall ums Leben, als die beiden noch Kinder waren. Ihre jeweilige Art, mit diesem Trauma fertig zu werden, könnte nicht viel unterschiedlicher sein: Während Sammy in dem verschlafenen Nest Scotsville geblieben ist, das die beiden Heimat nennen, einen bodenständigen Job in einer Bank annahm, fleißig zur Kirche geht, ihren achtjährigen Sohn allein aufzieht und eigentlich alles tut, um ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit aufrecht zu erhalten, ist Terry ein rastloser Vagabund, der durch das ganze Land zieht und sich oft monatelang nicht meldet. Sammy’s Freude ist groß, als ihr Bruder endlich mal wieder zu Hause auftaucht, doch diese verwandelt sich bald in Resignation, ist er doch nur gekommen, um sie wieder einmal um Geld zu bitten. Doch Terry bleibt ungeplant länger, worüber sich vor allem Sammy’s Sohn Rudy freut. Sein immenses Bedürfnis nach einer Vaterfigur wird endlich gestillt. Terry’s chronischer Hang dazu, Dinge in bester Absicht zu versaubeuteln, führt jedoch bald zu neuen Spannungen zwischen den Geschwistern.

Was sich hier nach Charakterkino anhört ist tatsächlich nichts anderes. Dafür aber auch ganz großes. Kenneth Lonergan (selbst im Part eines Priesters zu sehen) ist nicht daran interessiert, eine Geschichte mit Anfang, Mittelteil und Schluß zu erzählen. Er will eine Situation einfangen, eine Beziehungskonstellation, die sich auch aufgrund der statischen Verhältnisse im Handlungsort Scotsville so gut wie kaum bewegt. Woran auch überhaupt keine Notwendigkeit besteht, denn als Zuschauer ist man viel zu sehr damit beschäftigt, in jeder Szene neue Eigenheiten der Charaktere herauszulesen und über den ganzen Film hinweg die soeben entdeckten Stücke in die verschiedenen Figuren-Puzzle einzufügen.

Man nehme z.B. Sammy’s neuen Chef Brian (Matthew Broderick). Mit unflexiblem Beharren auf feste Regeln wird er als bürokratischer Spießer eingefangen, ein Eindruck, der jedoch durch zahlreiche Szenen der Unsicherheit gebrochen wird. Als Sammy dann aus einer Laune heraus eine Affäre mit Brian beginnt, dessen Frau im sechsten Monat schwanger ist, zeigt sich die egoistische Schizophrenie seines Charakters, der einerseits auf strenge Regeleinhaltung beharrt, andererseits aber genau dies für sich selbst nicht einsehen mag. Am Anfang noch ein ehrgeiziger Hardliner, entlarvt sich Brian zusehends als bemitleidenswerter Schwächling.

Eine ähnlich subtil umgesetzte Entwicklung macht in diesem Film jede wichtigere Figur durch, was schon allein eine beeindruckende Leistung von Autor und Regisseur Lonergan ist. Zum wahren Geniestreich gerät „You can count on me“ durch die Tatsache, daß es ihm gleichzeitig gelingt, seinen schlußendlich glasklar gezeichneten Figuren ihre kleinen Geheimnisse zu bewahren. Wie sich z.B. Sammy’s wahllos wirkendes Sexualleben mit ihrer Prinzipientreue vereinbaren läßt und wo der Grund dafür liegt, dafür bieten sich am Ende eine Handvoll Interpretationsansätze. Besonders realistische Figuren werden in vielen Filmen gelobt. Daß man sie hier am Ende wie gute Freunde zu kennen glaubt, die in der Wirklichkeit auch stets ihre unerklärlichen Eigenheiten haben, ist ein Fall von enormem Seltenheitswert.

Ganz entscheidenden Beitrag hierzu leistet das ohne Ausnahme famose Ensemble. Jeder Darsteller nähert sich seinem Charakter mit der unabdingbaren Subtilität und geht darin auf. Einen Sonderapplaus haben sich allerdings die beiden Hauptakteure verdient: Während Mark Ruffalo komplett hinter der Maske des leicht verwirrten, ziel- und rastlosen Terry verschwindet, liefert Laura Linney (bekannt als Jim Carrey’s Frau aus der „Truman Show“) eine Vorstellung ab, die schlichtweg überirdisch ist. Wie ein Klon der göttlichen Julianne Moore schreibt sie ganze Romane mit ihrer Körpersprache und macht die Hälfte ihres Dialoganteils so gut wie überflüssig. Zurecht wurde Linney für diesen Part mehrfach ausgezeichnet und auch für einen Golden Globe nominiert (den sie, objektiv betrachtet, eigentlich hätte gewinnen MÜSSEN).

Die Brillanz von „You can count on me“ liegt letztlich darin, daß man sie gar nicht bemerkt. Wie ein langer, ruhiger Fluß fließt der Film mit einer Natürlichkeit über die Leinwand, daß der Blick für das zugrundeliegende Genie beinahe vollkommen getrübt wird. Kein Film mit ausufernder Geschichte, Patentlösungen oder großen Botschaften, aber ein Paradebeispiel dafür, wie Figuren auf der Leinwand zu dreidimensionalen Menschen wie du und ich werden, und noch dazu die ehrlichste, unkonventionellste und tiefsinnigste Abhandlung über Familienwerte seit langer Zeit.

Bilder: Copyright

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