Yes

Originaltitel
Yes
Jahr
2004
Laufzeit
95 min
Genre
Regie
Release Date
Bewertung
10
10/10
von Margarete Prowe / 31. Mai 2010

Es gibt Regisseure, die sich so weit über Konventionen hinwegsetzen, dass viele Kritiker vor Wut Schaum vor dem Mund bekommen. Sally Potter gehört definitiv dazu. War schon ihre Verfilmung von Virginia Woolfs "Orlando", in der die Hauptdarstellerin Tilda Swinton über Jahrhunderte hin lebt und zwischendurch auch noch das Geschlecht wechselt, reichlich unkonventionell, so ist "Yes" revolutionär. Potter machte einen Film, in dem es nicht um ein Thema geht, sondern irgendwie um alle. Eigentlich handelt es sich "nur" um eine Liebesgeschichte, doch in diese sind Motive eingewebt, die niemand in ihrer Vielzahl in einem einzigen Film erwartet hätte: die Welt nach dem 11. September, Leben und Sterben, Religion und Kultur, Jugend und Alter, Verlangen und Gefühllosigkeit, Libanon und Irland, London und Kuba, die Frage, ab wann ein Zellhaufen ein menschliches Leben ist, und das geheime Wissen der Putzfrauen. Als ob dies nicht schon genug wäre, um Zuschauer zu fordern, ist der Dialog im jambischen Pentameter verfasst, einer Versform, die seit Shakespeare doch ein wenig aus der Mode gekommen ist. Kopflastig und überfrachtet, jammern einige, doch wer sich auf diesen Film einlässt, wird aus dem Kino kommen und wissen, warum Film eine Kunstform ist, denn Potter hat mit "Yes" ein Meisterwerk geschaffen.

SIE (Joan Allen, "Pleasantville", "An deiner Schulter") ist eine amerikanische Molekularbiologin, die bei ihrer Tante in Nordirland aufwuchs. SIE lebt mittlerweile in London mit ihrem Mann Anthony (Sam Neill), einem englischen Politiker, der sie betrügt. Wo einmal Liebe war, ist nun nichts mehr außer dem täglichen aus dem Weg gehen. ER (Simon Abkarian) ist ein libanesischer Immigrant und ehemaliger Arzt, der in London als Koch arbeitet. Beide treffen sich zufällig und es beginnt eine Affäre, die zuerst von heißer Leidenschaft geprägt ist, bis sich der unterschiedliche kulturelle Hintergrund der beiden in immer heftiger werdenden Anklagen zwischen sie schiebt.

Sally Potter ist Tänzerin, Regisseurin und Songschreiberin. Sie entschloss sich direkt nach dem 11. September 2001 dazu, einen Film über die bald aufkommende Angst vor "den Arabern" und dem Hass auf "die Amerikaner" zu schreiben. Aus einem fünfminütigen Kurzfilm über eine westliche Frau und einen arabischen Mann entstand schließlich das Drehbuch zu einem Spielfilm.
In "Yes" findet Potter zu einer künstlerischen Ausdrucksform, die es so noch nicht gab. Das Drehbuch ist wohl das einzige der Filmgeschichte, in dem eine moderne Handlung in lyrischer Form geschrieben wurde, quasi der Urform des Geschichten Erzählens. Balladen und Epen wurden so geschrieben, weil man Geschichten aus dem Gedächtnis erzählte und sich diese mit Reimen einfacher merken konnte.
Die Schauspieler wurden von Potter angewiesen, den Dialog so zu strukturieren, wie es dem Inhalt entspricht, ohne Rücksicht auf die gereimte Form. Aus diesem Grund merkt man nicht sofort, dass sich alles reimt. Die Lyrik wird hier jedoch nicht nur gewählt, um die Worte und Sätze melodisch klingen zu lassen, so dass der gesprochene Text mit den Bildern durch den Film fließt, sondern auch, weil "Yes" von Themen der menschlichen Existenz und besonders der Beziehung zwischen Mann und Frau und zwischen Individuum und Identität handelt.
Die Figuren sagen sich Dinge, die normalerweise in Beziehungen nicht einmal klar in Worte gefasst werden können, die man fast nicht ausdrücken kann, und die hier durch die poetischen Dialoge beeindruckend verbalisiert werden. Die Sprache kann hier eine Waffe, aber auch eine Liebkosung des anderen sein. Es empfiehlt sich daher sehr, den Film in der Originalfassung zu sehen.
Auch die Kamera trägt die Figuren durch die Themen des Films. Sind die Bilder am Anfang noch statisch wie Gemälde, so scheinen sie sich mit der Handlung weiterzuentwickeln. Ansichten von Überwachungskameras, Zeitlupe und Unschärfe machen dem Zuschauer bewusst, wie konstruiert der Blick auf diese Welt ist und ziehen ihn doch förmlich in die Beziehung dieser beiden Menschen hinein.

Gleichzeitig gelingt es "Yes", alle seine Charaktere ernst zu nehmen und ihre innere Komplexität zu verdeutlichen. Die Probleme der Figuren werden nie lächerlich gemacht, sondern existieren alle gleichwertig nebeneinander. IHRE Patentochter, die pubertäre Angst davor hat, dass sie zu dick ist, wird ebenso liebevoll behandelt wie SIE, deren Ehe ohne Liebe ist. Auch Nebenfiguren wie Kate, die Mutter der Patentochter Grace, die in einer einzigen Szene auftaucht, verdeutlichen die Tiefe der Charaktere. SIE und Kate sind joggen und in einigen Sätzen wird klar, wie sie sich gegenseitig um ihr Leben beneiden. Kate als Mutter mehrerer Kinder beneidet SIE um ihre Arbeit, ihre Geschäftsreisen und ihre schönen Anziehsachen; SIE hingegen beneidet Kate darum, dass sie Mutter ist und ein Zuhause voll Liebe hat. Ebenfalls eine einzige Szene hat die Tante der Hauptfigur, die in Belfast im Koma liegend einen Monolog über das Älterwerden, das Sterben und ihren kommunistischen Traum von Kuba hält. Dieser Moment gehört zu den schönsten und doch traurigsten des Films.
Joan Allen, die schon in der Vergangenheit bewies, dass sie eine großartige Schauspielerin ist und deren Vorstellung in "An deiner Schulter" schon überragend war, zeigt in "Yes" ihre bisher beste Leistung. Ihre Sinnlichkeit, Fröhlichkeit und Traurigkeit sind so klar und deutlich, dass sie einen Oscar verdient hätte. Allein ihr Auftritt könnte diesen Film tragen, doch ist "Yes" so gut besetzt, dass die anderen Schauspieler davon nicht an die Wand gespielt werden. Ob Simon Abkarian, Sam Neill oder Sheila Hancock, sie alle füllen ihre Rollen mit Leben.

Das Verhältnis zwischen Mann und Frau wird in "Yes" dadurch noch komplizierter, dass es um eine Affäre zwischen einer Karrierefrau, die in den USA lebte, und einem libanesischen Immigranten geht, der vom Status her als Koch weit unter ihr steht. Sind sie anfänglich noch durch ihre Erfahrungen von Gewalt in Beirut und Belfast vereint, so bezeichnet er sie später als Imperialistin und schimpft seinen Arbeitskollegen gegenüber über den Exhibitionismus westlicher Frauen. Er sieht sich als unterlegen, weil sie im Restaurant für ihn zahlt, und versteht nicht, warum er sie liebt, diese Frau, deren Augen zu blau, deren Haar zu blond ist. Schönheitsideale und Machtverhältnisse zwischen Geschlechtern, das Gleichsetzen des Individuums mit dem Land oder einer Kultur entzweien diese Liebenden, denn sobald in der sicheren Nische ihres körperlichen Verlangens eine Annäherung statt findet, wird alles unsicher: die Außenwelt der Charaktere dringt ein, ihre Erziehung, ihr Glauben, ihre gesamte Identität.
Zeigt sich im Mikrokosmos ihrer Beziehung der Makrokosmos der Welt, so werden Mikro- und Makrokosmos auch an anderen Stellen sichtbar. "Yes" ist angesiedelt in einem Meer aus Putzfrauen, unter denen die Putzfrau der Familie, Shirley Henderson, das Geschehen kommentiert und formal als griechischer Chor fungiert, der zwischen den handelnden Figuren und dem Zuschauer steht. Sie spricht über die Welt der ganz kleinen Dinge, über Schmutz und Staub, über Bakterien und auch metaphysische Aspekte, wie zum Beispiel, ob wir nur eine Staubflocke des Universums sind, die irgendwo weg geputzt wurde. Mag sich dies seltsam anhören, so ist es doch eine Betrachtung dessen, was um uns ist und was wir nicht wahrnehmen. Es gibt Kleinstorganismen um uns und wir selbst sind nur ein Haufen von Zellen, die wir gar nicht wirklich wahrnehmen. Auch SIE versucht, das Leben zu erklären, doch tut sie es mit der Molekularbiologie. So glaubt SIE nur an die Wissenschaft, während SIE früher katholisch war. Es gibt eine Szene in "Yes", in der sie Gott beichtet - mit Hilfe einer Videokamera. Doch auf der anderen Seite der Linse - sind wir, die Zuschauer.

Der Mensch ist nicht einfach; der Mensch ist kompliziert. Wie verworren und vielschichtig Glück und Unglück, Identität und Körper sein können, davon erfahren wir im Kino viel zu selten. "Yes" endet mit dem letzten Wort aus James Joyces "Ulysses", dem einfachen "Ja" und ist damit so lebensbejahend wie wohl kaum ein anderer Film seit "American Beauty" (1999) es war. Wie Sam Mendes und sein Drehbuchautor Alan Ball vermag uns Sally Potter diese Welt zu zeigen, wie wir sie viel zu selten bewusst wahrnehmen.

Bilder: Copyright

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