The White Parade

MOH (41): 7. Oscars 1935 - "The White Parade"

In unserer Serie "Matthias' Oscar History" (MOH) bespricht Matthias in jeder Folge jeweils einen der zwischen den Jahren 1929 und 2000 nominierten Oscar-Beiträge aus der Kategorie "Bester Film".

von Matthias Kastl / 6. Februar 2024

Was man nicht so alles für sein Hobby auf sich nimmt. Anstatt im USA-Urlaub am Venice Beach zu entspannen sitze ich hier nun in Los Angeles in einer kleinen Glaskabine einer amerikanischen Universität und starre auf einen Fernseher. Und all das nur, weil der Komplettist in mir keine Lücke in dieser Oscar-Reihe ertragen kann. Zu verdanken habe ich die Situation den siebten Academy-Awards, über die wir jetzt erst noch ein paar kurze Worte verlieren, bevor wir dann wieder in unsere kleine amerikanische Universitätskabine zurückkehren.

Die siebten Academy Awards wurden am 27. Februar 1935 vergeben und berücksichtigten zum ersten Mal in der Geschichte der Awards ein klassisches Kalenderjahr (1.1.1934 – 31.12.1934) als gültiges Release-Zeitfenster für die jeweiligen Nominierungen. Wie es auch heute noch der Fall ist, wenn nicht gerade eine Pandemie um die Ecke kommt. Nach dem in den Jahren zuvor die Anzahl der nominierten Filme in der Kategorie “Bester Film“ erst von fünf auf acht und dann sogar auf zehn Filme erhöht wurde, setzte man in diesem Jahr sogar noch eins drauf und nominierte ganze 12 Beiträge. Einer davon, die romantische Komödie “Es geschah in einer Nacht“, schrieb dabei Oscar-Geschichte und gewann als erster Film die berüchtigten Big Five (“Bester Film“, “Beste Regie“, “Bester Hauptdarsteller“, “Beste Hauptdarstellerin“ und “Bestes Drehbuch“).

Das ebenfalls für den besten Film nominierte Drama “The White Parade“ ging an dem Abend zwar ohne Auszeichnung nach Hause, wirbelt dafür aber knapp 90 Jahre später meine eigentlich schon längst ausgearbeitete Reiseroute durcheinander. Für meinen dreiwöchigen Roadtrip durch den Westen der USA war ein Aufenthalt in Los Angeles (Fazit meines ersten Besuchs: wenig Glamour, viel Verkehr) eigentlich nicht eingeplant. Zumindest solange bis ich realisierte, dass die einzige Möglichkeit “The White Parade“ zu sehen in einem Besuch des Filmarchivs der University of California (UCLA) bestand. Und es ja offensichtlich schon so etwas wie göttliche Fügung sein musste, dass ich genau passend zum Zeitplan meiner Oscar-Reihe zumindest grob in der Gegend war.

Irgendwo dahinten im Smog liegt Downtown L.A.


Glücklicherweise sah meine weibliche Begleitung das genauso (oder freute sich einfach nur auf die Aussicht ein paar Stunden für sich zu haben) und so wurde ohne mit der Wimper zu zucken der geplante Stop im Joshua Tree National Park zugunsten eines Kurztrips nach Los Angeles geopfert. “The White Parade“ here I come. Was es außer einer verständnisvollen Begleitung allerdings noch so braucht, um an der UCLA diesen Film schauen zu können erfahrt ihr in unserem heutigen kleinen Blick hinter die Kulissen.

Hintergrund: UCLA – Jäger der verlorenen Filme

Wir haben in unserer Reihe ja schon einmal darauf hingewiesen, dass viele alte Filme leider für immer verschollen und selbst Oscar-nominierte Werke manchmal schwierig in die Finger zu bekommen sind. Glücklicherweise gibt es ein paar Institutionen, die zumindest manche dieser Schätze restaurieren und konservieren. Das Film- und Fernseharchiv der University of California in Los Angeles ist so ein Ort. Über 350.000 alte Filme und Fernsehsendungen lagern hier und können auf Anfrage im hauseigenen Research and Study Center auf Anfrage angeschaut werden.

Im Archiv finden sich dabei auch einige der älteren Oscar-Beiträge, von denen manche dank Restaurierungsarbeiten des Instituts auch in einen zumindest annehmbaren Zustand gebracht wurden. Viele dieser Filme sind leider nie auf DVD erschienen, werden aber glücklicherweise wenigstens vom amerikanischen Fernsehsender TMC (Turner Classic Movies) gezeigt oder an der UCLA für Vorstellungen im hauseigenen Billy Wilder Theatre hervorgeholt. Manche dieser Werke sind dann auch irgendwie semi-legal im Internet gelandet, wie zum Beispiel das hier bereits besprochene “East Lynne“. Doch es gibt eben genau einen Film in der langen Geschichte der “Best Picture“-Kategorie, der tatsächlich nur hier im Archiv der UCLA und nur auf Anfrage zu sehen ist: “The White Parade“.

Der Campus der UCLA


Wer in den Genuss des Streifens kommen möchte muss also nicht nur vor Ort sein sondern auch noch in einem Art Bewerbungsschreiben die Gründe für seinen Besuch offenlegen. Der Prozess entpuppt sich glücklicherweise in meinem Fall als entspannte Gelegenheit, denn nach einer Woche trudelt schon die Zusage ein – offensichtlich reicht es also einfach ein motivierter Filmliebhaber zu sein. Im Anschluss muss man dann noch schriftlich versichern vor Ort keine heimlichen Video- oder Tonaufnahmen des Films zu machen und schon beginnt die Terminfindung. Auch die läuft in meinem Fall reibungslos und mein anvisierter Wunschtermin wird direkt akzeptiert.  

Und so steigt an einem sonnigen Mittwochmorgen in Los Angeles ein deutscher Blogautor schließlich voller Vorfreude in einen Bus und macht sich auf zum Campus der UCLA. Dort angekommen wird erst mal melancholisch in eigenen Studienerinnerungen geschwelgt, die ja dann doch ein paar Jährchen zurückliegen. Gefühlt war früher bei mir an den Unis aber um 9 Uhr morgens mehr los, der riesige Campus der UCLA mit seinen vielen Grünflächen wirkt dagegen fast wie leergefegt. Am Ende meines kleinen morgendlichen Rundgangs strömen sie dann aber aus allen Ecken. Angesichts der Geschichte der Uni fragt ich mich dabei, ob vielleicht gerade irgendeine zukünftige Hollywoodgröße an einem vorbeiläuft. So zählt die UCLA im Bereich Schauspiel und Drama zu einer der angesehensten Universitäten der Welt und kann auf so namhafte Alumni wie Francis Ford Coppola, Rob Reiner, Paul Schrader oder James Dean verweisen.

Die Powell Library


Auf deren Spuren geht es dann hinein in das schmucke Gebäude der Powell Library, in der das Research and Study Center des Filmarchivs seinen Sitz hat. Zwei breite Treppen führen in dem knapp 100 Jahre alten Gebäude in einen Lesesaal im ersten Stock, dessen hohe Decken die Totenstille darin gefühlt noch mal doppelt so intensiv wirken lassen. Irgendwie schwer vorstellbar, dass hier einst The Doors Frontsänger Jim Morrison, ebenfalls ein berühmter Alumni des Filmprogramms, so brav wie die Studenten an denen ich jetzt vorbeigehe an einem Tisch gebüffelt hat.

Mit dem netten Flair des Gebäudes, das irgendwie zu meiner (subjektiv empfundenen) feierlichen Mission passt, geht es dann aber schnell zu Ende. Am Ende des Lesesaals muss ich nämlich in einen hässlichen weißen Bürogang abbiegen, der zu allem Überfluss auch noch renoviert wird. An dessen Ende wartet auch schon das Ziel auf mich: Raum 270. Dieser strahlt bei Betreten leider den Standard-“Charme“ einer typischen Medienverleih-Station einer x-beliebigen Universität aus. Im Raum sind ein paar Tische mit Computern und farblosen Trennwänden verteilt, am Rand finden sich ein paar ebenso spärlich eingerichtete Kabinen mit Glaswänden an der Vorderseite, während ich auf eine halbrunde Theke zusteuere, von der mich zwei studentische Hilfskräfte etwas gelangweilt wirkend anblicken.

Der Eingang der Powell Library


Die beiden entpuppen sich dann aber doch als ziemlich freundlich und gut gelaunt, was natürlich typisch für die amerikanische Mentalität ist, vielleicht aber auch einfach der Tatsache geschuldet ist, dass dies hier nach einem sehr entspannten Job aussieht. Außer mir ist nämlich kein Gast zu sehen, was sich auch in den nächsten beiden Stunden nicht ändern wird. Nach meiner Anmeldung werde ich von den beiden noch einmal eindrücklich auf das Verbot jeglicher Film- und Tonaufnahmen hingewiesen – zur Verdeutlichung wird mir noch eine kleine laminierte Folie mit einem durchgestrichenen Fotoapparat in die Hand gedrückt, die ich doch bitte mit in den Vorführraum nehmen soll. So ganz traut man dem deutschen Touristen hier wohl nicht.  

Als nächstes führt man mich in eine der etwa 3x3 Meter großen Kabinen, durch deren große Glasfront man mich sehr gut im Auge behalten kann. Mit entspannter Kinoatmosphäre hat das hier nichts zu tun, stattdessen ist Minimalismus angesagt – außer einem Tisch, einem Stuhl und einem Fernseher an der Wand kann hier nichts den Geist ablenken. Feierlich wird mir dann noch eine Fernbedienung in die Hand gedrückt, mit der ich den Film stoppen oder neu starten kann. Eine DVD vertraut man mir natürlich nicht an, die wird zentral von einem anderen Ort aus gestartet. Da bin ich vom eigenen Heimkino doch etwas mehr Komfort gewöhnt, aber die Vorfreude auf den Film lasse ich mir durch das Kühlschrank-Ambiente hier trotzdem nicht nehmen.  

Glücklicherweise entpuppt sich der Film, wie gleich in der Kritik zu lesen, als durchaus kurzweilige Angelegenheit. Angesichts der Schutzmaßnahmen hier hatte ich irgendwie damit gerechnet eine qualitativ arg in Mitleidenschaft gezogene Version präsentiert zu bekommen, doch “The White Parade“ ist sowohl in Sachen Bild als auch Ton in einem ordentlichen Zustand. Ganz vereinzelt schleicht sich mal ein schwarzes Bild und ein etwas abrupt wirkender Schnitt ein, es macht aber hier eher den Eindruck, dass nur ein paar Frames fehlen und nicht ganze Szenen. Eigentlich ein Zustand der für ein ordentliches DVD-Release reichen würde. Und so schön sich das auch anfühlt hier dem kleinen Kreis der Menschen anzugehören, die den Film gesehen haben, es ist schon frustrierend, dass offensichtlich niemand die Lust oder Mittel hat diesen Film auch einem breiteren Publikum zur Verfügung zu stellen. Nach knapp zwei Stunden ist das kleine Abenteuer dann auch vorüber und es ist Zeit Raum 270 wieder zu verlassen. Meine beiden studentischen Gastgeber sind inzwischen bereits abgelöst worden, doch auch das neue Duo hinter der Theke verabschiedet sich gut gelaunt von mir. Aber bei so kurzen Arbeitszeiten wäre ich sicher auch gut drauf.

Auch die eigenen Werbeplakate des Archivs könnten eine Restauration vertragen.


Meine richtige Arbeit beginnt wiederum jetzt erst, schließlich braucht diese Reihe ja noch den passenden Review-Text. Das der in diesem speziellen Fall etwas länger als sonst üblich ausfallen wird ist denke ich mal verständlich – wer also diese Textwüste bisher mit mir durchquert hat sollte nun noch mal tief durchatmen. Bevor wir mit der Kritik zu “The White Parade“ starten hier aber noch einmal ein Überblick über die restlichen nominierten Filme der Kategorie "Outstanding Production" der Verleihung des Jahres 1935 – alle glücklicherweise deutlich leichter auffindbar als “The White Parade“. Sieger des Abends war Frank Capras "Es geschah in einer Nacht", der neben dem großen Epos “Cleopatra“ auch noch die Filme "Scheidung auf amerikanisch", "Here Comes the Navy", "Schrei der Gehetzten", "The Barretts of Wimpole Street", "Das leuchtende Ziel", "Der dünne Mann", "Imitation of Life" und "Die Rothschilds" ausstechen konnte.

The White Parade

Land
Jahr
1934
Laufzeit
80 min
Genre
Release Date
Oscar
Nominiert "Outstanding Production"
Bewertung
7
7/10

Angesichts der Tatsache, dass vermutlich kaum jemand diesen Film je zu Gesicht bekommen wird brechen wir heute mal mit einer alten Kritikerregel. So wird die Handlung des Filmes hier nun etwas ausführlicher als sonst diskutiert und Spoiler dabei wissentlich in Kauf genommen. Das wird sich für die Besprechung von “The White Parade“ nämlich auch als ganz nützlich erweisen, denn der interessanteste Aspekt des Filmes ist sicherlich der Weg den dieser im Schlussdrittel einschlägt. Zu Beginn scheint der Film dagegen noch ziemlich berechenbar sein Setting für ein paar harmlose Albernheiten und klassische Rom-Com-Elemente zu nutzen.

Basierend auf einer Buchvorlage erzählt “The White Parade“ von 1934 von der Ausbildung der jungen June Arden (Loretta Young) an einer Schule für Krankenschwestern Anfang des 19. Jahrhunderts. Inspiriert vom Spirit der berühmten Florence Nightingale legt Oberschwester Roberts (Jane Darwell) bei ihren Azubis dabei vor allem Wert auf knallharte Disziplin, worunter unter anderem Junes Zimmerkollegin Zita (Dorothy Wilson) zu leiden hat. June hält mit viel Selbstbewusstsein dagegen, wird aber dafür immer wieder Opfer von den Lästereien ihrer Mitschülerin Gertrude (Astrid Allwyn).


Als June eines Tages die ständige Frage der Mitschülerinnen nach ihrem Beziehungsstatus mit einer kleinen Notlüge kontert, nach der sie mit dem berühmten Polospieler Ronald Hall III. (John Boles) liiert sei, bringt sie sich aber so richtig in die Bredouille. Die misstrauische Gertrude hat nämlich nichts besseres zu tun als besagtem Ronald einen Brief zu schreiben und sich nach dem Wahrheitsgehalt dieser Behauptung zu erkundigen, woraufhin der das Verhältnis aus Scherz in einem Antwortschreiben allerdings von seiner Sekretärin bestätigen lässt. Einmal Lästermaul, immer Lästermaul und so bleibt Getrude natürlich skeptisch. Und als sie erfährt, dass Ronald bald Station in der Stadt machen wird bietet sie June an diesen gemeinsam mit anderen Mitschülerinnen am Bahnhof zu empfangen. Um nicht als Lügnerin dazustehen willigt June ein, fürchtet aber bei ihrer Ankunft am Bahnhof eine riesige Blamage und vor allem eine wütende Reaktion des nichtsahnenden Ronalds.

Man muss jetzt nicht dutzende Liebeskomödien gesehen haben um zu ahnen, dass Ronalds Reaktion am Bahnhof wohl nicht so schlimm wie befürchtet ausfallen wird. Stattdessen entdecken die beiden natürlich ihr Herz füreinander und ihr Liebeszug schwenkt direkt auf das Gleis mit Richtung Happy End ein. Wo sie aber überraschenderweise nie ankommen werden, denn der Film möchte dann doch deutlich mehr als nur eine entspannte romantische Komödie sein. Davon ist in der ersten halben Stunde aber noch nicht viel zu spüren. Hier nimmt man sich erst einmal die Zeit, um in eher humorvollem Ton das Ankommen und den Alltag der jungen Frauen in der Pflegeschule zu schildern.

So dürfen sich die Auszubildenden in den ersten Minuten erst mal in Ruhe gegenseitig beschnuppern, mit Münzwurf die Bettenbelegung klären und sich gemeinsam über die unmenschlich frühen Weckzeiten aufregen. Dabei macht man es sich relativ einfach und greift in die gut vorsortierte Klischeekiste und präsentiert uns unter anderem eine lästernde Zicke, ein dummes Blondchen und eine etwas korpulentere Dame, die natürlich nur ans Essen denkt. Unsere Hauptfigur dagegen ist hübsch, tough aber natürlich herzensgut, also genau so wie man sich in Hollywood gerne die ideale Leading Lady schnitzt.


Gemeinsam darf diese bunte Truppe nun an Puppen erste Praxisübungen absolvieren und wer damals diesen Film im Kino gesehen hat dem dürfte wohl beim nächsten Krankenhausbesuch die nackte Panik ins Gesicht gestanden haben. Unsere Mädels-Clique stellt sich dabei nämlich extrem tollpatschig an. Babys werden kopfüber gehalten, lädierte Gliedmaßen den Puppen fast abgerissen und ein Glas Wasser landet auch schon mal eher im Gesicht als im Magen des Patienten.

Ja, Florence Nightingale hätte sich hier im Grab umgedreht. Aber auch wenn dieser humorvoll gedachte Ansatz etwas ungelenk übertrieben wirkt ist das Ganze doch irgendwie halbwegs nett anzuschauen. Das liegt mit an der flotten Inszenierung, mit der Regisseur Irving Cummings zumindest ein bisschen Kredit bei mir wieder aufbauen kann, den er mit dem fürchterlichen “In Old Arizona“ vor ein paar Folgen verspielt hatte. Hier hält er die Kamera immer flott in Bewegung, schafft gerade bei den Sequenzen mit vielen Beteiligten ein paar schöne Bildkompositionen und die Übergänge zwischen den Szenen wirken auch schwungvoll, wenn zum Beispiel immer wieder Protagonisten nicht vollendete Sätze von der vorherigen Szene aufnehmen und vervollständigen.
 
Dazu gesellt sich eine durchaus überzeugend aufspielende Hauptdarstellerin, die mit ihrem toughem Tomboy-Auftreten ein klein wenig an die junge Katherine Hepburn erinnert. Ganz deren Niveau erreicht Loretta Young zwar nicht, erfüllt aber die Funktion in dieser wilden Truppe den emotionalen Anker für das Publikum zu geben souverän – auch weil sie mit einigen schön schnippischen Dialogzeilen ausgestattet wird. Harmlos aber nett, so kann man das Geschehen am Anfang wohl am Besten beschreiben und das ändert sich auch nicht als der erste Mann in den Mix geworfen wird – was erst nach einer guten halben Stunde passiert. Wie man sich dabei das romantische Storygerüst hier zusammenkonstruiert ist eigentlich ganz nett geraten auch weil June die ganzen Verstrickungen hin und wieder mit lockeren sarkastischen Kommentaren garniert. Als sie zum Beispiel von dem Besuch ihres erfundenen Lovers hört entfährt ihr da schon mal ein lakonisch-süffisantes „Please shoot me“ und irgendwie kann man da nicht anders als mit ihr zu sympathisieren.


Eine Waffe muss hier aber glücklicherweise nicht zum Einsatz kommen. Am Bahnhof angekommen reißt sich June von ihren Stalkerinnen los und stürmt ins Auto von Ronald um die ganze Situation aufzuklären. Der ist erst irritiert aber dann vor allem neugierig, möchte die Unbekannte besser kennenlernen (gibt ja auch schlimmeres als schöne Frauen, die sich zu einem auf den Rücksitz setzen) und spielt dafür die Scharade natürlich weiter brav mit. Die nächste Viertelstunde scheint man dann auch direkt die Segel auf Kurs Happy End zu setzen in dem man beide sich erfolgreich gegenseitig beschnuppern lässt – was angesichts der harten Regeln in der Schwesternschule natürlich etwas Einfallsreichtum erfordert. Aber dann fällt auf einmal ein Satz von Ronald, der unserer Romanze spürbar beginnt ein wenig den Wind aus den Segeln zu nehmen.

“You are more in love with that hospital than me“ merkt Roland vorwurfsvoll an und beginnt von nun an immer wieder darauf hinzuweisen, dass er ja gerne mehr Zeit mit June verbringen würde. Erst mal ja nichts Verwerfliches, schließlich haben wir ja gerade heute Verständnis für eine gute Work-Life-Balance. Das Problem ist aber die Begründung, die Roland dafür liefert. Er findet nämlich, dass es im Leben doch generell wichtiger sei einfach nur Spaß zu haben als Kranken und Bedürftigen zu helfen. Puh, das gibt jetzt doch erste Abzüge auf der Sympathieskala.

June möchte dagegen erst mal Liebe und Arbeit weiter unter einen Hut bringen, gerät dabei aber so langsam an ihre Grenzen. Ein Dilemma, für das der Film dann auf melodramatische Art und Weise eine scheinbar billige Lösung parat hat. Man lässt Roland nämlich einfach mit im Auto verunglücken und diesen natürlich genau in das Krankenhaus einliefern, in dem June gerade weitere Praxiserfahrungen sammelt. Aha, denkt man sich, wenn Roland jetzt am eigenen Leib erfährt wie wichtig eine gute Pflege ist wird er sicher einlenken und der Konflikt sich in Luft auflösen. Pustekuchen, der gute Roland ändert seine Meinung nicht. Im Gegenteil. er möchte stattdessen das sein Schatz ihre Schichten so tauscht, dass sie ihn betreuen kann – obwohl June lieber bei einer sterbenskranken Person sein möchte, die ihre Hingabe dringender benötigt. Da darf man vor dem Drehbuch doch mal wirklich den Hut ziehen. Eine Figur mit romantischem Potential so konsequent Arschloch sein zu lassen sieht man echt selten.


Überhaupt zeigt sich in der zweiten Hälfte des Films, dass man nach dem albernen Anfang jetzt keine Scheu mehr hat auch ein paar dunklere Seiten aufzuziehen, um ein klein wenig mehr der Realität des harten Krankenhausalltags gerecht zu werden. Das beginnt mit Kleinigkeiten, wie dem Scheitern mancher der Krankenschwesteranwärterinnen während der Ausbildung. Da nimmt sich der Film nämlich tatsächlich die Zeit, um deren Schmerz und Ängste zu zeigen angesichts einer nun ungewissen beruflichen Zukunft. June wiederum konfrontiert man mit dem Tod eines von ihr betreuten Babys, was jetzt auch nicht wirklich zum heiteren Tonfall des Anfangs passt. Auch wenn dieses Ereignis schon sehr melodramatisch umgesetzt und auch zu schnell abgehandelt wird, der Film gewinnt nach seinem flachen Beginn jetzt doch deutlich mehr an Tiefe.

Der interessanteste Aspekt dieses Kurswechsel sind aber die im Film gezeigten Konsequenzen, die der kräfteraubende Job im Gesundheitswesen auf das Privatleben mancher unserer Protagonisten hat. Auch hier nimmt man sich erfreulicherweise wieder Zeit für das Innenleben von Nebenfiguren, wie das eines idealistischen aber überarbeiteten Chefarztes. Der wird von seiner sich vernachlässigt gefühlten Frau erst betrogen und dann verlassen und bekommt vom Film dann eine einfühlsame Szene geschenkt, bei der er in sich gekehrt die Trennung verarbeitet. Über all dem thront aber natürlich die Frage, ob sich June nun für ein Leben mit ihrem Lover oder ihre Berufung als Krankenschwester entscheiden wird. Auch hier nimmt der Film glücklicherweise die interessantere Route und lässt June realisieren, dass beide einfach zu verschieden sind. Ronald zeigt sich wiederum als schlechter Verlierer und verkündet, dass June sicher eines Tages realisieren wird, „dass es besser ist einem Mann zu dienen als vielen anderen“. Und in irgendeinem Keller hört man dessen Sympathiewerte gerade schmerzhaft aufprallen.

Das June als Frau ihren Traum lebt und Chauvinismus aufs Abstellgleis gehört ist eine starke Botschaft, die man dem Film so nach der ersten Hälfte gar nicht zugetraut hätte. Ein bisschen Wasser muss man aber trotzdem in den Wein schütten, denn der Weg dahin ist in der zweiten Hälfte durchaus holprig. Das June und Roland wirklich verliebt sind kauft man dem Film zum Beispiel nie ab. Dafür geht diese Entwicklung einfach zu schnell, so dass sich nie wirklich eine halbwegs ordentliche Chemie zwischen den beiden Turteltauben entwickeln kann. Auch kommt Roland von Anfang an zu glatt und eigenschaftslos daher und zeigt zu schnell bereits seine dunklen Seiten. Da passt es dann auch irgendwie nicht ins Bild, dass die sonst so konsequente und clevere June so lange für ihre Einsicht bezüglich dessen wahrem Charakter benötigt.

Anstatt aber die Zeit zu nutzen, um die Beziehung zwischen June und Roland glaubhafter zu gestalten wirft man stattdessen lieber noch mehr unnötige Melodramatik mit in den Mix. Darunter ein Versäumnis von June auf der Arbeit, dass es einer der Schwestern ermöglicht an Medikamente für einen Suizidversuch zu gelangen – was wiederum June ordentlich Ärger einbringt und deren Abschluss gefährdet. Das ist dann irgendwann doch zu viel des Guten und lenkt leider etwas von den viel spannenderen Fragen des Filmes ab. Doch auch wenn es hier und da spürbar knirscht und der Film am Ende einfach zu viel Drama will, er bietet immer noch genug interessante Aspekte für einen kurzweiligen Filmabend. Und so bleibt zu hoffen, dass man in Zukunft nicht mehr den Kontinent wechseln muss nur um in den Genuss von “The White Parade“ zu kommen.

"The White Parade" ist aktuell nur an der UCLA verfügbar. Wir drücken die Daumen, dass sich das bald ändert.

Aus Ermangelung von einem Trailer hier zumindest ein kleiner Blick hinter die Kulissen dank ein paar Behind-the-scenes Aufnahmen.


Ausblick: In unserer nächsten Folge gehen wir gemeinsam auf dem “Flirtation Walk“ spazieren und treffen dabei auf drei alte Bekannte.


10
10/10

Hallo Matthias,
Ich möchte mich hier nochmal bedanken für die tollen Texte, die du Woche für Woche lieferst. Zwar kann ich mir denken, dass es als Filmfan schlimmeres gibt, als in LA an einem derart historischen Ort einen Film anzusehen - dennoch muss man da doch schon sehr viel Leidenschaft und Herzblut investieren, um das alles auf eigene Faust und mit der Genehmigung der Begleitung hinzubekommen. 😉 ich hoffe, dass hältst du noch viele Wochen und somit hunderte von Oscarfilme durch. Ich drück dir die Daumen und wünsche weiterhin einen tollen Urlaub. Viele Grüße Nico

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