Weiße Raben - Alptraum Tschetschenien

Jahr
2005
Laufzeit
92 min
Release Date
Bewertung
7
7/10
von Margarete Prowe / 23. Dezember 2010

Gute Dokumentationen berühren. Manche reizen die Lachmuskeln, wie "Die große Depression", manche sind verstörend und lassen das Publikum erschüttert zurück wie "Lost Children", ein Film über Kindersoldaten in Uganda. Zu dieser Kategorie gehört auch die deutsche Dokumentation "Weiße Raben - Alptraum Tschetschenien". Wie schon "Lost Children" thematisiert auch dieser Film die Schwierigkeit, wieder in das Leben zurückzufinden, nachdem man täglich mit Krieg, Verstümmelung und Vergewaltigung konfrontiert war. Über beide Konflikte (Uganda und Tschetschenien) wird in den Medien nur wenig berichtet, wodurch filmische Projekte wie diese umso wertvoller werden.

Die Filmemacher Tamara Trampe und Johann Feindt begleiteten mehrere Rückkehrer aus dem Tschetschenien-Krieg über einen Zeitraum von drei Jahren. Katja (32) geht als Krankenschwester nach Tschetschenien, um für sich und ihren Sohn eine eigene Wohnung finanzieren zu können. Sie arbeitet ohne Pause im OP, muss Vergewaltigungen durch Soldaten sehen, bricht irgendwann zusammen und ist nun wieder in St. Petersburg - ohne eigene Wohnung. Sie findet schwer Arbeit, weil man sagt, die Zurückgekommenen seien krank und nicht mehr in Ordnung. Petja (20) geht mit 18 Jahren zur Armee und kommt als Krüppel wieder. Er konnte noch nicht einmal ein Maschinengewehr bedienen, so früh wurde er verwundet. Kiril (24) schreibt Briefe an seine Angehörigen, in denen er immer nur schildert, dass alles normal ist. Worte fehlen ihm, um das zu beschreiben, was wirklich um ihn herum passiert. Dann wird er gefangen genommen und muss zwei Monate lang in einem Loch hausen. Nach seiner Flucht und der Entlassung aus dem Dienst findet er nicht wieder in sein Leben zurück. Drei Jahre später sitzt er im Gefängnis, verurteilt für 15 Jahre.

Die Eltern der jungen Männer sind überfordert, doch von staatlicher Seite gibt es keine Hilfe - weder finanziell noch psychologisch werden sie unterstützt. In ihrer Not wenden sich die Eltern an die einzige Anlaufstelle, die sich wie David gegen Goliath mit der Armee und dem Staat anlegt: das "Komitee der Soldatenmütter Russlands", welches 1989 von etwa 300 Müttern gegründet wurde, um sich für grundlegende Rechte ihrer Söhne bei der Armee einzusetzen. Im ersten Tschetschenien-Krieg fuhren sie ins Kriegsgebiet, holten ihre Söhne aus der Gefangenschaft und tauschten mit den Müttern der Tschetschenen Gefangenenlisten aus. 1998 billigte die Duma eine vom Komitee geforderte Amnestie für 40.000 Deserteure.
Da im zweiten Tschetschenien-Krieg keine Frauen mehr auf tschetschenisches Territorium dürfen, arbeitet das Komitee noch stärker mit den Eltern derzeitiger Soldaten oder denen, die gerade einberufen werden. Weil die Jungs als Kanonenfutter benutzt werden, fordern die "Mütter" eine Berufsarmee. Ihre Menschenrechtsaktivitäten wurden auch international gewürdigt. Das "Komitee der Soldatenmütter" erhielt 1996 den alternativen Nobelpreis und 2000 den Menschenrechtspreis der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Tamara Trampe und Johann Feindt haben mit "Weiße Raben" eine Dokumentation geschaffen, die durch sicheren und einfühlsamen Interview-Stil besticht. Junge, traumatisierte Männer, die nicht einmal den eigenen Eltern von den durchlebten Gräueln erzählen, öffnen sich vor der Kamera und berichten über das, was sie gesehen haben und was sie fühlen. Das Schweigen ist bei manchen Fragen die einzige Antwort, die sie geben können. Gerade ein lange zur Geheimhaltung verpflichteter Veteran des Afghanistan-Kriegs, der seine eigenen Erlebnisse hier preis gibt, führt den Zuschauern vor Augen, wie man im Krieg nicht als Unbeteiligter existieren kann. Die Interviewerin weist keine Schuld zu, sondern fragt nach der eigenen Meinung, was gerade dann wichtig ist, wenn der Einzelne unweigerlich Schuld auf sich geladen hat. So werden die ehemaligen Soldaten als Menschen porträtiert, nicht etwa als Monster, wie es manche ihrer Taten vielleicht suggerieren.

Auf der anderen Seite hätte dieser Film durchaus noch mehr leisten können - wenn die Filmemacher nur gewollt hätten. Doch Trampe und Feindt wollten keinen politischen Film machen, sondern (nur) eine Dokumentation über diese besonderen Menschen. An dieser Stelle drängt sich jedoch die Frage auf, ob man bei solch einem Thema überhaupt unpolitisch bleiben kann. Die Auseinandersetzung mit Behörden, höheren Militärs und Entscheidungsträgern wird in "Weiße Raben" ebenso verweigert wie Erklärungen zur russischen Innenpolitik und den eigennützigen Schandtaten, die unter dem Deckmantel des "Kampfs gegen den Terrorismus" begangen werden. Während Michael Moore ("Fahrenheit 9/11") dem Publikum zu demagogisch-politisch erscheinen mag, hätte ein Schuss Moorescher Berichterstattung hier gut getan.
Es fehlen wichtige Hintergrundinformationen über den Krieg, weswegen gerade das eingefügte Dokumentationsmaterial wenig verständlich für den Zuschauer ist, wenn man sich in der Materie nicht schon gut auskennt. Bedauerlich ist auch, dass ausgerechnet ein spezifischer Fall näher vorgestellt, bei dem ein ehemaliger Soldat straffällig wurde und sogar das Leben seiner Mutter zerstörte, die einige Tage nach der Urteilsverkündung gegen ihren Sohn starb. Diese Schwerpunktbildung ist für den Film nicht angemessen, da die Verallgemeinerung dieses speziellen Falles alles ausblendet, was davor berichtet wurde, und so am Ende eine Aussage stehen bleibt, die nicht zutrifft, da nicht alle Soldaten nach ihren traumatischen Erlebnissen straffällig wurden und anderen Gräuel zufügten.

So ist "Weiße Raben - Alptraum Tschetschenien" zwar eine sehenswerte Dokumentation, die sich intensiv mit ihren Subjekten auseinander setzt und ein Thema angeht, das in unserer Medienlandschaft zu oft ausgeblendet wird. Dafür mangelt es aber an Hintergrundinformationen und weitergehender thematischer Auseinandersetzung. Auch diese Doku berührt - nur leider nicht so sehr, wie sie gekonnt hätte.


9
9/10

Ich möchte auch gerne der Kritikerin ein wenig wiedersprechen. Ziel des Filmes war es nicht den Tscheschenien-Konflikt zu erklären. Es ging um Menschen. Und es stand so viel ungesagt im Raum, was nicht auszusprechen ist, was man aus den Gesten herauslesen kann.

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