
„Toni Erdmann“ ist ein Phänomen. Als erster deutscher Film im Hauptwettbewerb der Filmfestspiele von Cannes seit acht Jahren begeisterte der Film von Maren Ade dieses Jahr dort Kritiker wie Publikum gleichermaßen und wurde von vielen als Favorit auf die Goldene Palme gehandelt. Als der Film bei der Preisverleihung dann komplett übergangen wurde, war die Empörung nicht nur der deutschen Kritiker groß. Aber ist „Toni Erdmann“ denn wirklich so gut und preiswürdig?
Im Mittelpunkt von Maren Ades drittem Spielfilm steht eine Vater-Tochter-Beziehung: Winfried Conradi (Peter Simonischek) ist Mitte Sechzig und Musiklehrer. Seine Tochter Ines (Sandra Hüller) arbeitet äußerst erfolgreich in einer Unternehmensberatung und lebt zurzeit in Bukarest. Nachdem Winfrieds Hund gestorben ist, schaut er auf einen Überraschungsbesuch bei seiner Tochter vorbei, die davon allerdings überhaupt nicht begeistert ist. Alle Versuche Winfrieds, in Gesprächen zu seiner Tochter vorzudringen und die längst abgekühlte Beziehung zu ihr wieder emotional zu vertiefen, scheitern. Ines lebt vor allem für ihren Job, der Besuch ihres Vaters stört da nur. Also reist Winfried wieder ab, ohne dass es zu einer Aussprache oder auch nur Annäherung zwischen Vater und Tochter gekommen ist. Doch er gibt nicht auf, ganz im Gegenteil, und kehrt schließlich zurück – nicht als er selbst, sondern als sein Alter Ego "Toni Erdmann". Mit schiefen Zähnen, Langhaarperücke und schlecht sitzenden Anzügen rückt er Ines immer wieder in unpassenden Momenten auf die Pelle, zum Beispiel wenn diese mit Freundinnen essen geht oder auf der Dachterrasse des Firmengebäudes im Gespräch mit Kollegen ist. Ines, die noch nicht bereit ist, sich wirklich mit ihrem Vater auseinanderzusetzen, ist gezwungen, dieses Spiel mitzuspielen und den peinlichen, alten Herrn Erdmann in ihr Leben zu lassen. Das führt zu einigen haarsträubend witzigen, aber auch äußerst emotionalen Szenen. Und allmählich kommen sich Vater und Tochter über den Umweg „Toni Erdmann“ tatsächlich wieder näher.
Eine der großen Stärken des Films ist es, dass er sich nur schwer in Kategorien und Genres einordnen lässt. Vordergründig mag er als Komödie erscheinen und ist immer wieder auch zum Brüllen komisch, doch dieser Humor entsteht stets auf der Basis der dramatischen und emotional lebensechten Elemente des Films. Maren Ade erweist sich nach „Alle Anderen“ erneut als eine äußerst präzise Beobachterin der menschlichen Gesellschaft, und zwar im großen Ganzen ebenso wie in Details. Das zeigt sich unter anderem darin, dass im Mittelpunkt von „Toni Erdmann“ zwar die Beziehung zwischen Ines und ihrem Vater steht, der Film aber darüber hinaus auch zahlreiche weitere gesellschaftlich relevante Themen abarbeitet. Da wäre zum Beispiel das Arbeiten allein um des Erfolges Willen, wie es sich in der Besessenheit zeigt, mit der Ines ihre Karriere verfolgt. Von Work-Life-Balance kann da keine Rede mehr sein, denn Ines‘ Job ist ihr Leben. Und wenn sie ihrem Vater – und großen Teilen des Kinopublikums – erklären muss, was eine Unternehmensberatung denn eigentlich so macht, dann mischen sich sozialkritische Elemente in den Film. Denn an dieser Stelle kommt man nicht umhin sich darüber zu wundern, wie es denn so weit kommen konnte, dass es Firmen gibt, deren Existenzberechtigung allein in der „Beratung“ anderer Firmen liegt und ob es denn erstrebenswert und erfüllend sein kann, für solche Firmen zu arbeiten.
Ein weiteres Thema, das der Film anspricht, ist das Aufeinandertreffen von Menschen verschiedener Schichten und Kulturen. Oder manchmal eben auch das Nicht-Aufeinandertreffen, denn Ines und ihre Kollegen, die aus zahlreichen verschiedenen Ländern stammen, arbeiten zwar in Bukarest, bleiben aber meist unter sich und kommen mit der Kultur und den Menschen Rumäniens kaum in Kontakt (auch dies ändert sich als Toni Erdmann in Ines' Leben tritt). Toni Erdmanns Hereinbrechen in den Kollegen- und Bekanntenkreis seiner Tochter kann dabei als eine Art soziologisches Krisenexperiment gesehen werden. Unter Missachtung zahlreicher sozialer Konventionen bringt er die geordneten Verhältnisse durcheinander und sorgt mit seiner derben Art und seinem Furzkissen-Humor für hochgezogene Augenbrauen. Auch auf gesellschaftlicher Ebene wird das Eindringen des Fremden im Film diskutiert: Kann sich Rumänien angesichts von ins Land drängenden ausländischen Firmen und Investoren in Zeiten der Globalisierung seine Identität bewahren?
Nicht zuletzt ist „Toni Erdmann“ natürlich auch ein Film über das Schauspiel, über die Lust in eine andere Figur zu schlüpfen, und damit zumindest ein bisschen auch ein Film über das Kino selbst (was in der Filmindustrie ja immer gut ankommt). Der verspielte Winfried wählt in seiner Verzweiflung das Schauspiel als letzten Ausweg, um seiner Tochter näher zu kommen. Er muss erst zu jemand anderem werden, bevor Ines ihn wieder ins Herz schließen kann. Dabei zwingt er sie quasi mehrmals zur Teilnahme an einer Art Improvisationstheater, in der Ines auch an sich selbst neue oder lang vergessen geglaubte Seiten ihrer Persönlichkeit entdeckt.
Der eine oder andere Leser mag sich nun vielleicht denken, „Globalisierung, Krisenexperimente, Schauspiel-Metaübung – klingt wie schwere Kost, taugt denn der Film auch etwas?“. Ja, er taugt etwas, und zwar eine ganze Menge. Denn die Bearbeitung all der genannten persönlichen und gesellschaftlichen Themen wäre natürlich nur wenig wert, wenn der Film nicht eine im Kern berührende und in der Ausführung exzellente Geschichte erzählen würde. Das ist nämlich die vielleicht größte Stärke des Films: dass Maren Ade es schafft, all die hier aufgezählten Dinge in der Geschichte um die Annäherung zwischen Vater und Tochter zu vereinigen, ohne dass der Film dabei ausfranst und von dieser zentralen Handlung weggleitet. Im Kern ist „Toni Erdmann“ die Geschichte von Ines und Winfried/Toni und bleibt stets bei einer dieser Figuren.
Dabei sind die Leistungen der beiden Hauptdarsteller von einer entwaffnenden Natürlichkeit, die ihre Figuren von Anfang an glaubwürdig macht und auch niemals in Rührseligkeit abdriften lässt. Natürlich speist sich der Unterhaltungswert des Films zu einem Großteil aus den seltsamen Einfällen, mit denen Toni immer wieder für Peinlichkeiten sorgt. Doch diese Situationen sind nicht zum Selbstzweck Teil des Films, sondern eben Teil der Entwicklung, die Winfried/Toni und die Beziehung mit seiner Tochter durchmachen. Dementsprechend legen es die beiden Darsteller Peter Simonischek und Sandra Hüller auch nie darauf an, komisch zu sein. Die Komik ergibt sich hier von ganz allein und ist dadurch umso wirkungsvoller. Man muss sich nur einmal ausmalen, wie die gleiche Geschichte vielleicht in einer Hollywood-Komödie ausgesehen hätte und spätestens dann weiß man die Zurückhaltung zu schätzen, die Ade und ihre Darsteller hier an den Tag legen.
Das Ende des Films mag für manche Zuschauer interpretationsbedürftig sein, aber auch hier macht sich diese Zurückhaltung positiv bemerkbar: Ade widersetzt sich so mancher Erwartung und bringt die Geschichte zwar zu einem Abschluss, klärt aber nicht alles auf (um hier einmal vage zu bleiben). Dadurch – und durch das intelligente Drehbuch und die natürlichen, lebensecht wirkenden Schauspielleistungen – können die Figuren als Projektionsflächen für die Zuschauer wirken. Tatsächlich kann man in „Toni Erdmann“ viel aus dem eigenen Leben wiederfinden, auch wenn man selbst weder Vater noch Tochter ist. Und so fühlt man sich nach dem Kinobesuch nicht nur sehr gut und geistreich unterhalten, sondern erhält auch so manchen Denkanstoß. Zum Beispiel den, dass wir alle hin und wieder ein wenig wie Toni Erdmann sein sollten.
Neuen Kommentar hinzufügen