Gerade erst mussten wir in "Blitz" enttäuscht feststellen, dass die großartige Saoirse Ronan schauspielerisch unterfordert blieb. Doch als hätte man unsere Kritik erhört, zeigt Ronan jetzt im Drama "The Outrun" eindrucksvoll, wozu sie fähig ist, wenn ihr eine vielschichtige Rolle angeboten wird. Das Ergebnis ist eine herausragende Schauspielleistung in einem überwiegend ruhigen und einfühlsamen Drama über Alkoholsucht, dessen gelegentliche emotionalen Ausbrüche richtig tief unter die Haut gehen.
Ein exzessives Leben voller Partys und zu viel Alkohol hat bei der jungen Rona (Saoirse Ronan, "Brooklyn – Eine Liebe zwischen zwei Welten", "Wer ist Hanna?") deutliche Spuren hinterlassen. Nachdem ihr Freund Daynin sie verlassen hat fürchtet sie, trotz einer erfolgreichen Reha, in London den Verlockungen des Alkohols erneut zu erliegen. Daher kehrt sie nach über einem Jahrzehnt in ihre alte Heimat auf den abgeschiedenen Orkney-Inseln zurück, wo ihre getrennt lebenden Eltern wohnen. Doch auch hier warten Herausforderungen: Während Rona regelmäßig mit ihrer religiösen Mutter (Saskia Reeves) aneckt, pflegt sie zwar eine harmonischere Beziehung zu ihrem Vater (Stephen Dillane, "Game of Thrones", "Die dunkelste Stunde"), doch auch der hat mit inneren Dämonen zu kämpfen. Vielleicht wird ja ihr neuer Job als Vogelbeobachterin für innere Ruhe sorgen, doch selbst die größte Abgeschiedenheit bietet Rona keinen kompletten Schutz vor einem Rückfall in selbstzerstörerische alte Gewohnheiten.
Rein auf dem Papier besitzt "The Outrun" alle Elemente, die man von einem Film über Alkoholabhängigkeit erwartet: Party- und Alkoholexzesse einer emotional instabilen Hauptfigur, der Seelen-Striptease in der Selbsthilfegruppe und natürlich die ständige Gefahr, rückfällig zu werden. Oft ist aber eben nicht entscheidend, was erzählt wird, sondern wie. "The Outrun" entscheidet sich für einen vielleicht langatmig klingenden, aber am Ende emotional sehr befriedigenden Weg. So nimmt man sich hier extrem viel Zeit, um vor allem den Alltag und die kleinen Fortschritte Ronas im Kampf gegen ihre Alkoholsucht zu schildern. Verknüpft wird das mit einer behutsamen Charakterentwicklung und einer kleinen Liebeserklärung an die ganz eigene Atmosphäre und Bevölkerung der fernab des Trubels liegenden Orkney-Inseln nördlich des schottischen Festlands.
Über all dem, was hier passiert, schwebt dabei stets die Gefahr eines Rückfalls und damit auch der mögliche Kollaps des fragilen neuen Lebens, das sich Rona in ihrer alten Heimat gerade mühevoll zusammenzimmert. Das erreicht "The Outrun" vor allem durch eine teils fragmentarisch aufgebaute Erzählstruktur, in der das Leben auf der Insel immer wieder durch Rückblenden auf einstige wilde Partynächte oder die Reha unterbrochen wird. Diese Struktur mag anfangs etwas irritieren, da sie den Fluss der Geschichte etwas ausbremst, sie ist aber mehr als nur ein auf billiges Drama ausgerichtetes Stilmittel: Sie verdeutlicht, wie die Vergangenheit die Protagonistin immer wieder einholt, egal wie ruhig oder stabil das Leben gerade erscheinen mag.
Eng verbunden ist das mit einem tief sitzenden Schmerz von Rona, den sich diese mit der Hilfe von Alkohol am liebsten "wegdröhnen" möchte. Welcher Schmerz das ist, wird vom Film ganz behutsam aufgedeckt, wodurch "The Outrun" mit weiterer Laufzeit immer mehr an emotionaler Tiefe gewinnt. Was sich vor allem in den Momenten auszahlt, in denen das Leben von Rona plötzlich wieder in sich zusammenzubrechen droht. Gerade weil man so viel eher ruhige Zeit an ihrer Seite verbringt und Zeuge ihres mühevollen Weges zurück in den Alltag wird, fühlen sich die späteren emotional aufwühlenden Momente noch einmal deutlich intensiver an. Weil man eben versteht und mitfühlt, wie viel Aufwand Rona bis dato für das Aufrechterhalten des Status Quo betreiben musste.
So entwickelt sich der Film Schritt für Schritt zu einem kraftvollen Charakterdrama, das von der deutschen Regisseurin Nora Fingscheidt auch noch mit dem dazu nötigen Fingerspitzengefühl inszeniert ist. Fingscheidt, die in einem der besten deutschen Filme der letzten Jahre ("Systemsprenger") ja bereits den Kampf einer Figur mit ihren inneren Dämonen großartig herausgearbeitet hat, nutzt besonders das ungewöhnliche Setting geschickt für einige sehr stimmungsvolle Bilder. Und zeigt nach dem etwas schwächeren Sandra-Bullock-Streifen "The Unforgivable", dass mit ihr in Zukunft wieder zu rechnen sein dürfte.
Der Hauptgrund für die emotionale Wucht von "The Outrun" steht aber vor allem vor der Kamera. Es ist dabei Zeit, mal wieder das Offensichtliche auszusprechen, nämlich was für eine absolut fantastische Schauspielerin Saoirse Ronan ist. Wenn man von den großen weiblichen Kinostars der heutigen Zeit spricht, geht ihr Name gefühlt immer ein wenig unter, schließlich haftet ihren Rollen meist nur wenig Glamour an – Superheldenfilme für das Mainstreampublikum hat sie bisher ja erfolgreich umkurvt. Statt dickem Gehaltsscheck wählt Ronan ihre Rollen viel lieber nach interessanten Regisseuren, Stoffen und Figuren aus – womit man sie dann ganz klassisch mit dem Label "Charakterdarstellerin" versieht.
Bei aller Wertschätzung klingt dieser Begriff aber selbst nach eindrucksvollen vier Oscar-Nominierungen immer noch irgendwie nach zweiter Reihe in Hollywood. Dabei spielt sie gerade in "The Outrun" schauspielerisch in einer Liga, von der fast alle ihrer Kolleginnen nur träumen können. Ihre Figur erlebt extreme Höhen und Tiefen, und Ronan wechselt dabei so perfekt zwischen Zurückhaltung und explosiver Intensität, dass man emotional förmlich an diese Figur gekettet wird. Das ist hier schlichtweg eine absolute schauspielerische Meisterleistung, wird garantiert die nächste Oscar-Nominierung nach sich ziehen und hoffentlich jetzt endlich auch mal die überfällige Trophäe bedeuten. Ronan hebt diesen Film einfach auf ein komplett anderes Level und produziert mit jeder Szene Lehrbuchbeispiele der Schauspielkunst. Ganz großes Kino, ganz großer Star.
Ronan sorgt gerade bei einer Sequenz, in der das ganze Leben und die Charakterzüge ihrer Figur in einer längeren Bildmontage zusammengefasst werden, für eine schier unglaubliche emotionale Wucht, die einen als Zuschauer ziemlich umhaut. Die ruhigen Momente sind aber teils genauso schön gelungen, gerade im Zusammenspiel mit Saskia Reeves als Ronas Mutter. Was zunächst wie eine eher distanzierte und nur bedingt sympathische Figur wirkt, entwickelt sich durch Reeves’ subtile Wärme schon bald zu einer ebenfalls berührenden Charakterdarstellung. Wenn Rona so voller Energie ihrer Mutter von ihren großen neuen Plänen erzählt, während diese mit einer Mischung aus Faszination, Sorge und Liebe einfach nur lächelnd zuhört, gelingt "The Outrun" dank seiner Darstellerinnen einfühlsames Charakterkino.
Ein wenig ärgerlich ist lediglich die etwas überstrapazierte Symbolik in den Voice-over-Passagen des Films. Angesichts der oft wortkargen Hauptfigur wirkt deren Einsatz zwar naheliegend, wäre aber angesichts einer so starken Darstellerin nun wirklich nicht nötig gewesen, um deren Innenleben nach außen zu kehren. Gerade die ein oder andere Naturmetapher wirkt einfach zu bemüht. Ein kleiner Wermutstropfen eines ansonsten starken Charakterdramas, dem man zwar ein wenig Zeit geben muss, dafür aber am Ende reichlich belohnt wird.
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