Roman Polanski und Kinderfilm? Wie soll denn das bitte gehen, wird sich mancher fragen, der den Namen Polanski eher mit blutig-skurrilen Werken wie "Macbeth", "Rosemarys Baby", "Die neun Pforten" oder "Tanz der Vampire" assoziiert. Doch nach dem preisgekrönten Holocaust-Drama "Der Pianist" bleibt Roman Polanski den historischen Literaturverfilmungen treu, dreht das zeitliche Rad noch weiter zurück und setzt sich in "Oliver Twist" mit den grausamen sozialen Zuständen in der Mitte des 19. Jahrhunderts in England auseinander.
Der Waisenjunge Oliver Twist wird mit neun Jahren vom Waisenhaus in ein Armenhaus gebracht, um dort zukünftig für den täglichen Haferbrei zu schuften. Als er an einen Leichenbestatter "vermietet" wird, bei dem der ältere Lehrjunge ihn dauernd piesackt, flieht der junge Oliver zu Fuß nach London. Hier wird er aufgenommen von einer Bande von Jungen, die von dem alten Hehler Fagin (Ben Kingsley) versorgt und zu Dieben ausgebildet wird, um dem brutalen Gauner Bill Sykes (Jamie Foreman) zur Hand zu gehen. Als Oliver Twist von der Polizei erwischt und vor den Richter gebracht wird, rettet ihn der gutmütige Buchhändler Mr. Brownlow (Edward Hardwicke) und nimmt ihn bei sich auf. Oliver wähnt sich im Paradies, doch schon bald spürt ihn der böse Bill Sykes wieder auf….
Diese "Oliver Twist"-Verfilmung ist eine Geschichte von drei Jungen, die keine schöne Kindheit hatten: Die Romanfigur Oliver Twist, ihr Erschaffer, der berühmte englische Autor Charles Dickens, der mit zwölf Jahren schon in einer Fabrik arbeiten musste (nachdem sein Vater wegen Schulden ins Gefängnis kam), und schließlich Roman Polanski selbst, dessen Eltern aus dem Warschauer Ghetto verschleppt wurden. Alle drei mussten sich alleine durchschlagen und fanden doch ihren Weg. Hier verschmelzen autobiographische Erlebnisse von Dickens und Polanski, um ein atmosphärisch dichtes London zu erschaffen, in dem es immer dunkel zu sein scheint, der nächste Abgrund in die Tiefe menschlichen Handelns nicht weit und das Leben eines Kindes wenig wert ist.
Roman Polanski scharte hier fast die gesamte Crew von "Der
Pianist" erneut um sich. So sorgt der Kameramann Pawel Edelman
("Ray") für großartige
Bilder, an denen man sich gar nicht satt sehen kann, während
Anna B. Sheppards ("Sahara")
Kostüme der Epoche Leben einhauchen. Bilder, Ausstattung und
Beleuchtung sorgen in "Oliver Twist" für eine visuelle
Eindringlichkeit, die das erreicht, was Polanski sich wünschte:
Dieses London sollte nicht "real" aussehen, sondern so
düster, wie es ein Waisenkind empfinden würde. Und so
wurde in und um Prag ein kleines Dickens-London erschaffen, das
die Brutalität einer vergangenen Epoche zeigt und in dem Akte
der Menschlichkeit umso wundersamer erscheinen.
Doch
geht in dieser atmosphärischen Dichte und Darstellung sozialer
Gegebenheiten leider die Geschichte des jungen Oliver etwas unter.
Im Gegensatz zu den anderen Figuren (besonders herausragend: Ben
Kingsley) bleibt die Hauptfigur auch durch ihre manchmal farblose
Darstellung zu wenig im Gedächtnis haften. Allerdings ist dies
nur ein kleiner Kritikpunkt, denn interpretatorische Schwerpunktsetzung
sei einem Regisseur gegönnt, der sich ansonsten sehr nah an
der Romanvorlage bewegt, was die meisten Verfilmungen dieser Geschichte
nicht taten. Die hier vorgenommene Kürzung von Seitensträngen
und Geschehnissen des Buches ist schließlich angebracht, um
eine dramatische Einheitlichkeit zu ermöglichen.
Polanski wollte einen Film machen, den auch seine Kinder sehen können, was ihm größtenteils gelang - auch wenn der Meister des Blutigen hier leider nicht immer an sich halten konnte und darum auch mal ein Gehängter im Mondlicht schwingt, was jüngeren Kindern nicht unbedingt zugemutet werden muss. So ist die Frage, ob Polanski und Kinderfilm zusammenpassen, mit einem klaren "Jein" zu beantworten. Der Regisseur hat mit "Oliver Twist" eine schillernde und gelungene Literaturverfilmung geschaffen, die allerdings eher für größere Kinder geeignet ist.
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