John Irving und wie er die Welt sieht

Originaltitel
John Irving und wie er die Welt sieht
Jahr
2012
Laufzeit
93 min
Release Date
Bewertung
6
6/10
von Margarete Prowe / 29. Februar 2012

Einen Tag vor dem 70. Geburtstag des weltweit geliebten Bestseller-Autors John Irving startet André Schäfers („Perry Rhodan – Unser Mann im All“, „Lenin kam nur bis Lüdenscheid“) poetische, wenn auch behäbige Hommage „John Irving und wie er die Welt sieht“ in Deutschland, wo viele seiner treuesten Fans wohnen. Mit Werken wie „Garp und wie er die Welt sah“ (auf das sich der Filmtitel natürlich bezieht und das Irving einst seinen internationalen Durchbruch brachte), „Gottes Werk und Teufels Beitrag“John Irving und wie er die Welt sieht (für dessen Verfilmung Irving selbst das Drehbuch schrieb, wofür er sogar mit einem Oscar ausgezeichnet wurde), „Bis ich dich finde“ und „Letzte Nacht in Twisted River“ schrieb er sich in die Herzen seiner Leser, obwohl er in seinen fiktiven Welten Tabus wie Gewalt, Inzest und Co. mit großer Selbstverständlichkeit beschrieb. John Irving ist zwar weltweit bekannt, dabei jedoch, wie man in dieser Dokumentation durchgängig sieht, wunderbar freundlich und bodenständig geblieben. Der Filmcrew bietet er zwischendurch vor der Kamera eine selbstgebackene Pizza an und sorgt sich, ob jemand vielleicht keine Pilze mag (was er netterweise auch noch auf Deutsch fragt). Ihn treibt nicht der Sinn nach Ruhm und Ehre, sondern er liebt das Schreiben an sich, den Prozess daheim im stillen Kämmerlein in Vermont oder auf der kanadischen Insel der Familie seiner Frau, wo vor dem Fenster die berühmte windschiefe Kiefer steht, die er in seinem Werk „Letzte Nacht in Twisted River“ literarisch verewigte. 

Für Fans ist „John Irving und wie er die Welt sieht“ ein Genuss. Für alle anderen eine überaus öde Hommage, die besser ins Fernsehprogramm eines vor sich hin plätschernden Sonntagnachmittags auf ARTE gepasst hätte. André Schäfer verwendet durchgehend die immer gleiche Struktur: - Das Publikum hört eine Textpassage aus einem von Irvings Romanen. - Dazu werden Bilder aus dem Alltag von Irving oder aus der realen Stadt (zum Beispiel Wien oder Amsterdam) gezeigt, die inhaltlich zum Textausschnitt passen. - Dann werden Menschen interviewt, die John Irving während seiner Recherchephase besucht und befragt hatte zu den Details ihrer Arbeit oder auch zu dem Handlungsort, den er gerade suchte. - Im Anschluss wird mit Irving über seinen Besuch bei der jeweiligen Person gesprochen.John Irving und wie er die Welt sieht Mag dies auch einmal schön sein, so verliert es hier Mal um Mal um Mal an Wirkung. Natürlich ist es für einen Irving-Leser spannend, den Tätowierer Henk Schiffmacher und seine Frau zu sehen, der der Autor sogar selbst ein kleines Tattoo auf den Arm stechen durfte, um zu sehen, wie sich das so anfühlt, während der Recherche für „Bis ich dich finde“, welches unter Tätowierern spielt. Für einen begleitenden Kinobesucher, der die Bücher nicht kennt, wird die filmische Struktur jedoch todlangweilig sein.

Trotzdem ist es schön, wie viel Irving hier über den Prozess des Schreibens spricht. Er vergleicht es immer wieder mit dem Ringen, seiner zweiten Passion, der er 20 Jahre seines Lebens widmete. Beide, der Ringer und der Schriftsteller, verbringen den größten Teil ihrer Zeit nicht vor Publikum und werden beklatscht und gefeiert, sondern widmen sich den immer gleichen Wiederholungen kleiner Bewegungen: Irving ist bis heute schlecht in Rechtschreibung, dies sagt er selbst, so muss er das Wörterbuch immer in seiner Reichweite liegen haben. Er nimmt hier ein Wort weg, setzt es dort wieder hin, setzt dort ein anderes, dann beginnt es wieder von vorn. John Irving recherchiert sehr viel und sehr genau und betrachtet kein Detail als zu klein, um nicht einen Experten dazu zu befragen (wie zum Beispiel seinen Arztfreund Marty Schwartz zu den genauen Möglichkeiten, an einer abgehackten linken Hand zu sterben) und verwirrt seine Frau Janet manchmal, wenn er plötzlich sagt: „Wir müssen nach Amsterdam, um mit den Prostituierten zu sprechen“ und sie erst Monate später im fertigen Manuskript liest, warum sie überhaupt nach Amsterdam gefahren waren.

John Irving und wie er die Welt siehtSeine Geschichten dramatisiert er in seinen Geschichten. So sagt er selbst, dass biografische Details immer wieder den Weg hinein finden, er die Figuren oder Settings aber entweder besser oder schlimmer macht, je nachdem, in welche Richtung die Geschichte sich gerade entwickelt. George Gurnon vom „Pastis“ spricht davon, dass Irving vor „Letzte Nacht in Twisted River“ in seiner Küche stand und ewig alles beobachtete, um sich die Hektik und die Handgriffe einzuprägen, damit er diese in seinem Roman genau wiedergeben konnte. Die beiden Köchinnen, auf denen zwei Figuren aus dem selben Roman basieren, haben sich nach der Veröffentlichung des Romans dazu entschlossen, ab sofort auch Honig in ihren Pizzateig zu tun, eine Handlung, die Irving als Plot-Element in „Letzte Nacht in Twisted River“ verwendet hatte. Hier zeigt sich, wie ein literarisches Werk, das auf minutiöser Recherche und realen Beobachtungen basiert, am Ende diese Realität selbst wieder verändern kann.

So ist „John Irving und wie er die Welt sieht“ am Ende eine Dokumentation, in der Irving-Fans sich in Bildern und Personen aus seiner Welt verlieren können und die sie als bereichernd empfinden werden, die aber für unbedarfte Zuschauer ungeeignet ist, da sie zu wenig zum Autor und seinem Werk erklärt. Dennoch ist dieser Dokumentarfilm ein schönes Geschenk an John Irving und so soll es auch an dieser Stelle heißen: Happy Birthday, Mr. Irving!

Bilder: Copyright

10
10/10

Über einem großartigen Menschen und Schriftsteller kann nur eine großartige Dokumentation entstehen !

Hallo, weiß Jehmand, ob die Dokumentation auf DVD erscheinen wird oder schon erschienen ist?

Bernhard

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