Robert S. McNamara arbeitete während des Zweiten Weltkrieges
im amerikanischen Führungsstab für den Pazifik-Feldzug
gegen Japan mit, gehörte anschließend zur Manager-Riege,
die aus der Ford Motor Company ein Weltunternehmen
formte, und wurde schließlich von John F. Kennedy zum Verteidigungsminister
berufen - einen Job, den er sieben Jahre ausübte, während
denen er sowohl die Kuba-Krise als auch den Ausbruch des Vietnam-Krieges
im Nervenzentrum der US-Regierung miterlebte. Zu seiner Amtszeit
mindestens eine so kontroverse Figur wie der heutige Verteidigungsminister
Donald Rumsfeld, ist der jetzt 85-jährige McNamara inzwischen
der vielleicht intelligenteste politische Analyst Amerikas.
Errol Morris ist für den Dokumentarfilm nicht weniger wichtig
als Alfred Hitchcock für den Suspense-Thriller. Sein Debüt
"Gates of Heaven" von 1978 - eine Dokumentation über
Tierfriedhöfe, ihre Kunden und Besitzer - zählt der amerikanische
Kritikerpapst Roger Ebert zu seinen persönlichen Film-Top Ten
aller Zeiten, 1988 klärte Morris mit seinem Film "The
Thin Blue Line" einen bereits abgeschlossenen Mordfall neu
auf und rettete so einen Unschuldigen vor dem elektrischen Stuhl.
Diese beiden Lichtgestalten ihres jeweiligen Metiers trafen 2003
aufeinander für eine Reihe von Interviews, die das Kernstück
bilden von "The Fog of War" - für den Morris dieses
Jahr endlich seinen ersten Oscar für die beste Dokumentation
gewann. Und das mehr als zurecht: Während der allgemeine Genre-Trend
immer mehr in Richtung Inszenierung und Unterhaltung geht (Michael
Moore und Morgan Spurlock
lassen grüßen), tritt Morris nie aus dem Kamera-Off heraus,
lässt fast nur sein Subjekt sprechen und präsentiert nichts
als die reinen Fakten - und erzielt damit Wirkung, die keinen Zuschauer
kalt lassen wird.
Dabei
klingt das Prinzip des Films absolut simpel: Ein Dauer-Interview
in klassischer talking head-Doku-Manier, untersetzt mit jeder
Menge historischem Bild- und Tonmaterial. So gehen Morris und McNamara
einige der wichtigsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts durch - eigentlich
alles altbekannt, doch mit McNamaras einzigartigem analytischen
Geist und Morris' beeindruckend detailtiefer Recherche werden hier
neue Sichtweisen und Fakten vermittelt, die gleichermaßen
fesseln wie faszinieren. Und nicht zuletzt ist es Morris' einzigartige
Interviewtechnik, die "The Fog of War" eine außergewöhnliche
Erzählperspektive gibt: Er führt seine Gespräche
mit dem selbst entwickelten "Interrotron", bei dem direkt
über der aufzeichnenden Kamera ein Bildschirm wie ein Teleprompter
angebracht ist, auf dem der Interviewte den befragenden Morris sieht.
Das Resultat: Der Interviewte unterhält sich mit Morris, als
würden sie sich Auge in Auge gegenüber sitzen, und redet
dabei doch direkt in die Kamera - ohne bewusst zum Publikum zu sprechen.
Das Ergebnis ist als Interview-Erlebnis einzigartig: McNamara spricht
mit dem Zuschauer ohne die Gesten und Attitüden, die direkte
Kommunikation in eine Kamera für gewöhnlich mit sich bringt.
Anstatt einfach nur der Chronologie der geläufigen Ereignisse
zu folgen, strukturiert Morris seinen Film zusätzlich nach
elf zentralen Lehrsätzen von McNamara, welche die Essenz seiner
Jahrzehnte langen Erfahrung in der Globalpolitik wiedergeben. Das
beginnt mit leicht ersichtlichen Grundsätzen intelligenter
Diplomatie ("Versetze Dich in Deinen Feind"), die aber
auch ranghöchste Führungspersonen ihrer Zeit erst einmal
lernen mussten, und geht weiter mit scheinbar simplen menschlichen
Wahrnehmungsproblemen ("Glauben und Sehen sind oft falsch"),
die fatale historische Folgen haben können. So gibt McNamara
hier offen zu, dass der vermeintliche Angriff auf ein US-amerikanisches
Kriegsschiff, der letztlich der Stein des Anstoßes für
die Eskalation des Vietnam-Konfliktes war, höchstwahrscheinlich
nie stattgefunden hat - Phantom-Torpedos, deren tatsächliche
Existenz mehr als angezweifelt werden muss.
Auf diese Art entwickelt sich eine - gerade und vor allem für
historisch Interessierte - enorm faszinierende und einsichtsvolle
Abhandlung über die Dynamiken und die Fragen taktischer Ethik
von Großmachtpolitik. Mit einer sachlichen Abgeklärtheit,
die zunächst enorm erschüttert, berichtet McNamara von
den Entscheidungsprozessen, die zur Feuerbombardierung zahlreicher
japanischer Städte gegen Ende des Zweiten Weltkriegs führten
- hunderttausende Zivilisten wurden damals getötet, und in
einer beeindruckenden Montage unterlegt Morris diese Statistiken
der betroffenen japanischen Städte mit vergleichbaren amerikanischen
Metropolen. Was nicht nur das Ausmaß dieser Angriffswelle
verdeutlicht, sondern auch McNamaras sachliches Fazit untermalt:
Moral ist eine Frage des Siegers, und wird wie die Geschichte selbst
vom Triumphator festgeschrieben. Natürlich haben die USA während
des Zweiten Weltkriegs Untaten begangen, die keinen Deut besser
waren als die der Diktaturen, die sie bekämpften - aber schließlich
haben sie die Welt von diesen Diktaturen befreit. Lehrsatz Nummer
9: Um Gutes zu tun, kann es notwendig sein, sich auf das Böse
einzulassen.
"The
Fog of War" gewährt seinen Zuschauern auf diese Weise
einen Einblick in Denkprozesse auf höchster politischer Entscheidungsebene,
wo man es sich schlichtweg nicht mehr leisten kann, über das
Schicksal all der einzelnen Seelen nachzudenken, die man in ihr
Verderben schickt, sondern nur noch Sinn und Zweck einer Aktion
für das große Ganze hinterfragen kann - eine Ebene, auf
der Fehlentscheidungen dann auch konsequent in historischen Katastrophen
münden. "Die Geschichte ist voll von Fehlern, die zu ihrer
Zeit wie die richtige Lösung klangen" resümiert McNamara,
und erscheint einmal mehr wie ein unterkühlter, seelenloser
Politiker. Dass er eben dies nicht ist, das herauszufinden ist mit
das spannendste Element von "The Fog of War". Wenn McNamara
durch ein Zittern in der Stimme hier und da Spuren freigibt von
der inneren Zerrissenheit und Erschütterung, die diese Ereignisse
damals wie heute in ihm auslösen, kann man für Sekunden
hinter die Fassade des treuen Staatsdieners blicken, dessen Professionalität
es nie zulassen würde, einen seiner früheren Chefs öffentlich
zu kritisieren oder bloßzustellen. Die tief schürfende
Recherche von Morris in alten Tonbändern aus dem Weißen
Haus fördert dabei Erstaunliches zu Tage, unter anderem Aufnahmen
die beweisen, dass McNamara zunächst Kennedy und dann seinem
Nachfolger Lyndon B. Johnson nachdrücklich den Abzug aus Vietnam
empfahl, bevor es zu spät ist und die Situation eskaliert -
und dass Johnson den Rat seines Verteidigungsministers ablehnte
und die Nation so ins Verderben stürzte, während McNamara
als Befehlsausführer zum Buhmann der freien Welt wurde. Die
Beweise sind da, und dennoch kommt kein schlechtes Wort über
Johnson über McNamaras Lippen. Die bewundernswerte Integrität,
die er hier beweist, wird nur noch übertroffen von der Neugier
des Zuschauers, all die Dinge zu erfahren, die McNamara noch weiß,
aber niemals preis geben wird.
"The Fog of War" macht Geschichte lebendig, eröffnet neue Perspektiven auf Ereignisse, über die man schon alles zu wissen glaubte, und stellt mit McNamara eine der zentralen politischen Figuren des 20. Jahrhunderts in ein völlig neues Licht, obwohl über ihn schon zahlreiche Biografien geschrieben wurden. Ein enorm faszinierender, aber schlussendlich auch enorm deprimierender Film, denn mit der Weisheit seines Alters und all seiner Erfahrungen kann McNamara als letzten Lehrsatz nur resümieren: "Du kannst die menschliche Natur nicht verändern." Heißt: Die Vernunft siegt nicht immer, sie siegt eigentlich nie. Der Mensch ist schwach, er ist verbohrt, er sieht sich grundsätzlich im Recht und liegt doch meistens falsch. Die Geschichte liegt wie ein offenes Lehrbuch vor uns, in dem wir unsere eigenen Fehler ablesen können, bevor wir sie wiederholen - und dann wiederholen wir sie trotzdem. Wenn man in alten Aufnahmen den Texaner Lyndon B. Johnson Kampfesreden gegen den Kommunismus schwingen hört, und das haargenau so klingt wie die Kampfesreden des Texaners George W. Bush gegen den globalen Terrorismus, dann untermauert dies leise und traurig eine andere weitläufig bekannte These: Geschichte dreht sich im Kreis. Solange bis wir umfallen, und nicht wieder aufstehen.
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