Die Klasse

Originaltitel
Entre Les Murs
Land
Jahr
2008
Laufzeit
128 min
Release Date
Bewertung
9
9/10
von Patrick Wellinski / 11. Juni 2010

Am Anfang sind die Schulräume noch leer. Nur ein paar Putzfrauen wischen die Böden und putzen die Flure. Auch wenn man noch keine Schüler sehen kann, sind die Lehrer schon vollzählig versammelt. Es gibt eine Begrüßungsrunde, in der die neuen Kollegen willkommen geheißen werden und auch die aktuellen Lehrpläne verteilt werden. Doch einen Tag später ist es dann mit der beschaulichen Ruhe in Laurent Cantets ("In den Süden") beeindruckendem Film "Die Klasse" auch schon vorüber. Mit den Schülern kommt der Alltag und mit dem Alltag die großen und kleinen Probleme des Schullebens. Der Film fokussiert sich besonders auf dem Verhältnis des jungen Lehrers François Marin (François Bégaudeau) zu seiner Klasse, die weniger durch herausragende schulische Leistungen als durch strikte Verweigerung glänzt.

Es war eine große Überraschung als "Die Klasse" 2008 die Goldene Palme in Cannes gewann. Auf den ersten Blick könnte man annehmen, dass die Jury rund um ihren Präsidenten Sean Penn einen Film ausgezeichnet hatte, der sich fast ausschließlich mit französischen Problemen beschäftigt. Doch spätestens wenn man "Die Klasse" sieht und vollkommen in dieses packende Doku-Drama hinein gesogen wird, kann man der Entscheidung der Jury nur wohlwollend zustimmen. Ein ganzes Schuljahr lang beobachtet Cantet die Konflikte, die zwischen den Schülern und Lehrern entstehen, ohne dabei einen konstruierten Plot zu verfolgen. Indem er fast ausschließlich nur beobachtet und die Kamera klaustrophobisch in den Klassenraum einsperrt (der Originaltitel "Entre les murs" bedeutet übersetzt so viel wie "Zwischen den Mauern") erzeugt der Film ein aktuelles und überaus überzeugendes Porträt der Zustände des französischen Schulsystems. Obwohl man eigentlich im selben Atemzug betonen sollte, dass "Die Klasse" genauso gut den sozialen Alltag anderer Einwanderungsländer wie Deutschland oder auch Großbritannien abbilden könnte.

Die von Monsieur Marin unterrichtete Schulklasse besteht zu über 80 Prozent aus Schülern mit Migrationshintergrund. Es sind Kinder und Jugendliche aus Tunesien, Marokko, Algerien, China oder den Antillen. Viele von ihnen beherrschen kaum die französische Sprache. Das wird besonders im Französischunterricht deutlich, wenn Monsieur Marin verzweifelt versucht die vermeidlich komplizierten Wörter eines Textes der Klasse zu erläutern. Niemand hört zu. Die einzelnen Meldungen der Schüler dienen vielmehr dazu sich selbst in den Vordergrund zu spielen, als sich aktiv am Unterricht zu beteiligen. Das hier wohl nie so etwas wie eine einigermaßen konstruktive Lernatmosphäre entstehen kann, wird schnell ersichtlich.
Da beschwert sich beispielsweise eine Schülerin darüber, dass der Lehrer in seinen Beispielsätzen ständig europäische, sprich "weiße", Vornamen benutzt und nicht Namen aus dem arabischen Kulturkreis. So banal das im ersten Augenblick auch klingen mag - mit dem Blick auf die soziale Zusammensetzung der Klasse erscheint der Einwand durchaus berechtigt. So jagt eine Grundsatzdebatte die nächste und man bewundert François Marin für seine Engelsgeduld, die er immer wieder aufs Neue den Schülern gegenüber erbringt. Dabei stößt auch er an seine Grenzen und gerät hin und wieder in Erklärungsnot. Zum Beispiel dann, wenn er hilflos erklären muss, warum man denn heutzutage noch das Subjonctif (ein Zeitform der französischen Sprache, für die es im Deutschen keine vergleichbare Entsprechung gibt) lernen muss. "Es spricht doch keiner mehr so", lautet der wiederum sehr berechtigte Einwand von den Schülern. Doch auch diese Diskussion wird nicht durch ein natürliches Interesse oder eine Neugier befördert, sondern folgt einem schlichten destruktiven Modus. Der Unterricht soll sabotiert werden, der Widerwille etwas zu lernen, was keine direkte Auswirkung auf die eigene Lebenspraxis hat, zum Ausdruck gebracht werden.

Laurent Cantet zeigt, wie die Lehrer versuchen die Schüler zum Lernen zu ermutigen, wie einige von ihnen scheitern und im Lehrerzimmer weinend zusammenbrechen, wie sie am Elternabend oft mit Unverständnis seitens der Eltern konfrontiert werden, so weit diese überhaupt die französische Sprache sprechen. Dabei ist "Die Klasse" kein verklärtes Schulmärchen wie "Der Club der toten Dichter". Man kann den Film auch nicht mit dem Sozial-Drama "Dangerous Minds" vergleichen, denn Cantet bleibt in der Schule und verfolgt die Schüler nicht nach Hause. Die Familienverhältnisse offenbaren sich nur indirekt und peu à peu. Man kann daher nur erahnen, dass zwischen Mathe und Sport viele Schüler zu Hause den Geschwistern und Eltern unter die Arme greifen und oftmals den ganzen, am Existenzminimum balancierenden Haushalt schmeißen müssen.
"Die Klasse" fragt nach dem Sinn und dem Aufgabenbereich der Schule von Heute. Was kann sie leisten? Wie weit soll sie eingreifen? Fragen, die seit langem auch die bundesdeutsche Bildungspolitik beschäftigen. Damit schließen sich auch Fragen an den Zuständigkeitsbereich des Lehrerstandes an. Es scheint, dass Lehrer mittlerweile mehr die Funktion eines Sozialarbeiters übernehmen müssen als die des Wissensvermittlers. "Die Klasse" ist auch deshalb ein so wichtiger und interessanter Film, da er uns unmissverständlich vor Augen führt, dass die Beziehung zwischen Schüler und Lehrer in den letzten zehn Jahren eine enorme Veränderung vollzogen hat. Da spielen technische Entwicklungen wie Handys und Internet nur eine untergeordnete Rolle.
Cantets Film entstand nach den Erinnerungen des ehemaligen Lehrers François Bégaudeau, der auch sein Alterego auf der Leinwand verkörpert. Doch das eigentliche Herz von "Die Klasse" sind die Schüler. Alle samt Laiendarsteller, die aus verschiedenen "Problemschulen" Frankreichs gecastet worden sind und die immer wieder vergessen lassen, dass es sich hierbei um einen Spielfilm handelt und nicht doch um eine Dokumentation. Esmeralda, Souleyman, Achmed und wie sie alle heißen, verhindern, dass der Film in einem Sumpf von Klischees stecken bleibt und erinnern gleichzeitig daran, wie unübersichtlich, komplex und teilweise auch hoffnungslos das menschliche Schicksal einer gesellschaftlichen Randgruppe sein kann.

Laurent Cantet hat kein belehrendes, sondern ein mutiges und weises Werk geschaffen, das ständig am Puls der Zeit ist. Am Schluss ist in "Die Klasse" das Schuljahr um und die Kamera bleibt allein zurück in den leeren Räumen des Schulgebäudes. Doch dann gönnt sich Cantet nach all den sozialkritischen Tönen einen nahezu utopischen Blick auf den Schulhof. Ein Fußballspiel: Lehrer gegen Schüler, und doch erscheint hier zum ersten Mal das Gegeneinander als ein Miteinader. Ein kurzer Moment des Friedens. Kurz und vergänglich.


7
7/10

Hab den Film gestern in der Sneak gesehen und muss sagen, dass er wirklich interessant ist. Dadurch, dass der Film aber eigentlich eher zusammenhanglos ist und keinen richtigen roten Faden samt Story und eigentlichem Spannungsbogen hat, ist der Film mMn allerdings nicht für das Kino geeignet. Eher sollte der Film in Schulen den etwas älteren Kindern und Eltern mal vorgespielt werden.

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9
9/10

Ein wirklich guter Film! Ganz großartige, glaubwürdige Schauspieler, eine unaufgeregte, respektvolle Erzählweise.
Unglaublich, die Geduld und Ruhe des Lehrers und die Kontrolle, die er meistens über sich behält. Verständlich, dass er auch mal ausflippt. Allerdings unveständlich, warum er sich für seinen Ausrutscher nicht entschuldigt, als er sich wieder beruhigt hat - die Schüler müssen es doch auch.
Klasse fand ich die teilweise nicht nur witzigen, sondern auch sehr intelligenten verbalen Duelle. Wenn das in deutschen Schulklassen auch so abgeht, dann bin ich gar nicht so schlechter Dinge. Nur braucht es dann gut ausgebildete, kluge und schlagfertige Lehrer mit einem extrem dicken Fell und viel Einfühlungsvermögen.

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9
9/10

Ich finde, dass dieser Film auch die heutige Schulzeit widerspiegelt. Die Schüler haben keine Lust und dadurch macht es den Lehrern auch kein Spaß mehr Wissen zu vermitteln, da den Schülern die eigenen Noten so ziemlich egal sind. Das war zu unserer Schulzeit zum Glück noch anders. Im Film ist es dem Lehrer nicht zu verdenken das er am Ende des Jahres auchmal verbal die Beherschung verliert.
Ein wirklich sehr gut gemachter Doku-Film mit sehr sehr viel Realitätssinn.

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