"Der Kaufmann von Venedig" ist ein Stück von William
Shakespeare, das Kontroversen ausgelöst hat, seit es existiert.
Ist es anti-semitisch? Kritisiert es Anti-Semitismus? Zeigt es Anti-Semitismus
ohne ihn zu befürworten oder ihn zu verurteilen? Shakespeare
konnte zur damaligen Zeit jedenfalls noch nicht erahnen, welche
Möglichkeiten und Probleme eine multikulturelle Gesellschaft
mit sich bringen würde. Es ist unwahrscheinlich, dass er jemals
Kontakt mit Juden gehabt hatte, denn im 16. Jahrhundert waren alle
Menschen, die nicht dem christlichen Glauben angehörten, aus
weiten Teilen Europas
verbannt worden. Venedig war eine große Ausnahme als Umschlagplatz
für Güter aus Asien, die von hier nach Westeuropa verschifft
wurden. Die Stadt war bevölkert von den verschiedensten Nationalitäten
und Glaubensrichtungen. Die Juden wurden dennoch schon hier gezwungen
in einem abgetrennten Ghetto zu leben, dessen Tore nachts abgesperrt
wurden und welches sie tagsüber nur mit einer roten Kappe,
die sie sofort als Juden identifizierte, verlassen durften.
In diesem historischen Umfeld spielt "Der Kaufmann von Venedig"
im Jahr 1594. Zwischen den christlichen Kaufleuten und den Juden
herrscht ein schwelender Konflikt, der immer wieder in Protestversammlungen
der Kaufleute zum Ausdruck kommt. Die Juden betätigen sich
als Geldverleiher, die hohe Zinsen verlangen, aber notwendig für
den Handel sind. Die Christen missbilligen dies und verleihen selbst
untereinander zinslos Geld, was wiederum die Juden aufbringt, da
das ihr Geschäft verdirbt. Der Kaufmann Antonio (Jeremy Irons),
der eigentlich ein gutmütiger Mensch ist, lässt sich durch
die hasserfüllte Atmosphäre auf dem Marktplatz dazu anstacheln,
den Juden Shylock (Al Pacino) zu demütigen und ihm ins Gesicht
zu spucken. Als der leichtlebige Bassanio (Joseph Fiennes) die reiche
Portia (Lynn Collins) heiraten möchte, bietet sich Shylock
die Chance, Antonio sein schändliches Verhalten zurückzuzahlen,
denn Bassanio bittet Antonio um Geld. Da der Kaufmann aber zurzeit
knapp bei Kasse ist, will er für seinen Freund bei Shylock
einen Kredit aufnehmen. Dieser verlangt merkwürdigerweise keine
Zinsen, aber
sollte Antonio das Geld nicht zurückzahlen können, so
steht es Shylock frei ein Pfund Fleisch aus Antonios Körper
herauszuschneiden. Antonio sieht den zinslosen Kredit als Großherzigkeit
des Juden an und nimmt die Rückzahlungsklausel nicht ernst.
Während Bassanio in Belmont bei Portia weilt, werden Shylock
und Antonio von Schicksalsschlägen ereilt. Shylocks Tochter
Jessica (Zuleikha Robinson) verlässt den Vater aus Liebe zu
einem Christen, und Antonio wird in den finanziellen Ruin getrieben,
weshalb er seine Schulden bei Shylock nicht begleichen kann. In
einer Gerichtsverhandlung soll Shylocks Anspruch geprüft werden.
Dieser scheint kein Mitleid zu empfinden und besteht auf sein Recht:
ein Pfund Fleisch von Antonios Körper.
Während
Belmont von Regisseur Michael Radford als eine Art Zauberwelt inszeniert
ist, voll von Licht und Farben, wirkt Venedig düster und grau.
Auf den Gesichtern der Menschen liegen Schatten, die ihre Zerrissenheit
und ihren Kummer widerspiegeln. Die originalgetreue Ausstattung
trägt ihren Teil dazu bei, Venedig als glanzlosen, dreckigen
Ort darzustellen. Radford, der auch das Drehbuch schrieb, legt somit
den Schwerpunkt darauf, die Stadt als Schauplatz von gesellschaftlichen
und menschlichen Konflikten zu zeigen. Die Christen handeln zwar
offensichtlich nach christlichen Maßstäben, die sie aber
nur bei ihresgleichen anzuwenden scheinen. So ist Antonio zwar bereit
aus Nächstenliebe seinem Freund Bassanio Geld zu leihen, das
er selbst gar nicht hat, aber von Nächstenliebe oder Toleranz
gegenüber Juden ist nichts zu spüren.
Im
Kino gab es "Der Kaufmann von Venedig" bisher nur als
Stummfilm. Nebenher existieren - wie bei allen Shakespeare-Dramen
- noch zahlreiche, zumeist britische Fernsehproduktionen. Höchste
Zeit also, dass der Stoff nun noch einmal auf der Leinwand zu sehen
ist, mit hochkarätiger Besetzung. Shylock, grandios gespielt
von Al Pacino, wird gezeigt als isolierte, sich grämende Figur.
Verlassen von seiner Tochter die er über alles liebt, gedemütigt
aufgrund seiner Religion, die er ebenso liebt. Er erleidet Schmerzen,
die sein grausames Verhalten rechtfertigen. Er will kein Mitleid
schenken, weil ihm und seinesgleichen auch kein Mitleid zuteil wird.
Irons und Fiennes, die beide für die Royal Shakespeare Company
auf der Bühne standen, zeichnen sich aus durch perfektes, unauffälliges
Spiel, das Shylock den nötigen Raum gibt. Shakespeares Verse
bleiben dabei bis auf sinnvolle Kürzungen ziemlich wortgetreu
erhalten, was für den ungeübten Zuschauer allerdings etwas
gewöhnungsbedürftig sein dürfte.
Auf der einen Seite kritisiert der Film mit der menschlichen Figur
von Shylock den Anti-Semitismus. Auf der anderen Seite sind aber
gerade seine Gegenspieler Bassanio, Portia und der bemitleidenswerte
Antonio die Sympathieträger des Stückes. Als gelungene
Interpretation von Shakespeares Drama zeigt "Der Kaufmann von
Venedig" also, wie schwer die gesellschaftlichen Konflikte
sind, die selbst die Menschlichkeit versagen lassen, bei Juden und
Christen gleichermaßen.
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