
"Ich bestrafe Sie nun mit 400 Volt." Wer einmal die Dokumentation über das sogenannte Milgram-Experiment aus den frühen 80ern gesehen hat, dem bleiben die Bilder in Erinnerung. Bilder von ganz "normalen" Menschen, die für sie nicht sichtbare Probanden einen Fragekatalog stellten und bei falschen Antworten mit Stromstößen steigender Stärke bestraften, weil sie von einem Versuchsleiter dazu aufgefordert wurden. Die Gleichgültigkeit, mit denen Menschen von der Straße prinzipiell tödliche Stromstöße verabreichten, war mehr als erschreckend. Ein ähnliches Experiment, daß sich mit Autoritätsgehorsam und Aggressionspotential beschäftigte, ist Vorlage für den ersten Kinofilm des mehrfachen Grimme-Preisträgers Oliver Hirschbiegel. 1971 wurde an der Stanford University ein künstliches Gefängnis geschaffen, in das zwölf Freiwillige als Häftlinge eingeschlossen wurden, die von acht anderen Versuchspersonen als Wärter bewacht wurden. Damals mußte die Testreihe nach sieben Tagen abgebrochen werden, weil die Situation außer Kontrolle geriet.
In der Filmfassung, basierend auf Mario Giordanos Buch "Black Box", entfällt der Abbruch vor der Eskalation. Zentraler Charakter ist hier der Taxifahrer Tarek (Moritz Bleibtreu), der sich von dem Versuch eine heiße Story und damit die Rückkehr in seinen alten Beruf als Reporter verspricht. Und die 4000 Mark, die es für zwei Wochen geben soll, sind auch nicht von der Hand zu weisen. Im Simulationskäfig angekommen, setzt Tarek von Anfang an auf Provokation, damit er auch was zu berichten hat. Den spielerischen Spaß, den sich die "Gefangenen" machen wollen, sehen die "Wärter" allerdings gar nicht ein. Und so werden die Regeln bedingungslos eingehalten:
1. Die Gefangenen reden sich untereinander nur mit Nummern an.
2. Alle Gefangenen reden die Wärter mit "Herr Strafvollzugsbeamter" an.
3. Nach "Licht aus" redet keiner der Gefangenen mehr.
4. Die Mahlzeiten sind vollständig aufzuessen
5. Jeder Anweisung der Strafvollzugsbeamten ist unverzüglich Folge zu leisten.
6. Nichteinhalten der Regeln wird bestraft.
Den letzten Punkt wollen die Häftlinge nicht so recht ernst nehmen, ist Gewaltanwendung doch strengstens untersagt. Da bleibt es vorerst auch ungesühnt, wenn Nr. 53 beim Frühstück seine Milch nicht trinken will, weil ihm aufgrund eines Enzym-Mangels davon schlecht wird. Aber es dauert keine 36 Stunden, bis die Wärter auf den Trichter kommen, daß Demütigung nicht weniger effektiv als Gewalt ist. Am dritten Tag trinkt Nr. 53 seine Milch. Auch wenn er danach kotzen muß. Und die offene Konfrontation zwischen Tarek und Wärter Berus, der absolut im Sinne des Experiments zu handeln glaubt, dreht die Spirale der Aggressionen immer weiter.
Die gnadenlose Konsequenz, mit der die folgende Eskalation in ihrer Eigendynamik voran getrieben wird, ist nicht allein wegen der drastischen Ereignisse so erschreckend, sondern vor allem wegen ihrer realen Bestätigung. Schon früh will man sich von dem Gezeigten abwenden und es als Mumpitz abtun. Doch die eingangs erwähnten Versuche haben der Handlung bereits recht gegeben, so daß sich bei "Das Experiment" die Versuchsfragen nur noch in erhöhte Intensität steigern: Das Ausbleiben des Abbruchs einmal vorausgesetzt, wie weit würden die Beteiligten tatsächlich gehen? Der eigentliche Horror dieses Films ist die Unfähigkeit des Zuschauers, einen Zeitpunkt zu erkennen, ab dem das Verhalten der Beteiligten die Ebene des Wahrscheinlichen verläßt.
Das ist vor allem auch ein Verdienst der psychologisch hervorragend ausgearbeiteten Figuren. Die verschiedenen Charakteristika, die bei einem solchen Versuch die potentesten Variablen darstellen, sind alle versammelt. Übersteigertes Pflichtbewußtsein, absolute Hörigkeit gegenüber einer rückhaltlosen Autorität, latenter Sadismus, instabiles Selbstbewußtsein. Die enorme Dynamik zwischen den Figuren ist grandios eingefangen und macht "Das Experiment" bereits zu einer faszinierenden, wenn auch nur schwer erträglichen Studie der Bestie Mensch.
Mehr als unterstützt wird dies durch die großartige Inszenierung von Oliver Hirschbiegel. Der erwies sich bereits als enorm clever, für sein Kinodebüt einen solchen Selbstläufer von Stoff zu wählen, ruht sich darauf jedoch nicht aus. Eine in ständiger Bewegung gehaltene Optik unterstreicht die Unruhe der Situation, clevere dramatische Kniffe rechtfertigen Bilder ungemeiner Intensität mit grobkörnigen Videokameras, aus der Ich-Perspektive und nicht zuletzt den beeindruckendsten Einsatz von Infrarot seit "Das Schweigen der Lämmer". Hirschbiegel fängt die Kälte und Klaustrophobie seiner Sets mit quälender Direktheit ein und schnürt dem Betrachter so langsam die Kehle zu.
"Das Experiment" gehört zu jenen Filmen, die den Spaßanspruch des Kinos systematisch untergraben und es lieber für wesentlich aussagekräftigere Ziele gebrauchen. Womit viele Zuschauer vielleicht nicht zurecht kommen werden. Die gnadenlose Plausibilität der bis zum Exzess getriebenen Eskalation ist einfach zu einleuchtend, um ein denkendes Individuum kalt zu lassen. Einer der letzten Sätze des Films lautet "Du hast angefangen". Spätestens bei dieser Flucht in kindliche Verleugnungsformeln sollte sich jeder Zuschauer einmal fragen, wie gemütlich man es sich selbst in der warmen Decke der Verantwortungslosigkeit gemacht hat. Schuld sind immer die anderen. Das ist wohl die größte Leistung dieses genial-gemeinen Films: Der aufgezwungene Blick in den Spiegel.
Mehr Informationen über das Stanford-Experiment gibt es unter: http://www.prisonexp.org/
Neuen Kommentar hinzufügen