Die Voraussetzungen waren wahrlich nicht die Besten: Aus der "X-Men"-Franchise war nach dem durchwachsen aufgenommenen dritten Teil erstmal die Luft raus und der erste Ableger mit dem beliebten "Wolverine" sorgte zwar für eine ordentliche Einnahme, aber ob seiner dünnen Geschichte auch für einige enttäuschte Gesichter unter den Fans. Wenn sich die Produktionsfirma dann entschließt als nächstes ein Werk aus der Kategorie "Prequel" aufs Publikum loszulassen, riecht das daher zunächst mal nach dem üblichen gnadenlosen Ausquetschen einer eingeführten Marke, ohne größere Ambitionen in Sachen Originalität. Da man bei so einer Vorgeschichte zudem bequem auf die prominenten Darsteller der Vorgängerfilme verzichten kann, gesellte sich dazu dann auch gleich noch ein weiterer unangenehmer Geruch, nämlich der nach einem möglichst kostengünstigen Werk das im Grunde nur den bekannten Markennamen für sich nutzt.
Allesamt Befürchtungen also, die aufgrund jahrelanger Erfahrungen mit der Art und Weise wie in Hollywood Entscheidungen getroffen werden zweifelsohne ihre Berechtigung haben. Und so gehörte dieser kleine neue "X-Men"-Film sicher zu den Comicverfilmungen des aktuellen Jahrgangs, bei dem man eher geringe Erwartungen hegen durfte. Wie schön ist es deshalb, dass "Erste Entscheidung" sich nun aber als unglaublich liebevolles, wohldurchdachtes und nahezu makelloses Genre-Meisterstück entpuppt. Wie schön und wie verblüffend.
Freude bereitet bereits die allererste Szene, denn die geht ganz zurück an den Anfang des ersten "X-Men"-Films, der vor mehr als zehn Jahren die Welle der modernen Superhelden-Verfilmungen einleitete: Der junge Erik Lehnsherr wird im deutschen Konzentrationslager wütend und verbiegt nur mit Gedankenkraft ein Eisentor. Und nun erfahren wir, wie es damals weiterging, denn natürlich versuchten die Nazis prompt aus der ungewöhnlichen Begabung des Jungen Kapital zu schlagen, mit ganz und gar nicht freundlichen Mitteln. Rund 15 Jahre später befindet sich der erwachsene Erik (Michael Fassbender) auf der Jagd nach seinem Peiniger von damals, der sich mittlerweile Sebastian Shaw (Kevin Bacon) nennt und in seinem mysteriösen "Hellfire Club" weitere Menschen mit besonderen Fähigkeiten um sich sammelt. Sein Ziel ist ein globaler Krieg, aus dem die Mutanten als neue herrschende Rasse hervorgehen sollen. Aber auch die Gegenseite in Form einer kleinen Spezialabteilung des CIA ist auf Shaws Umtriebe aufmerksam geworden und die Agentin Moira MacTaggert (Rose Byrne) sichert sich dafür die Hilfe des jungen Spezialisten Charles Xavier (James McAvoy), der ebenfalls Mutantenkräfte besitzt und zudem von der Gestaltwandlerin Raven alias "Mystique" (Jennifer Lawrence) begleitet wird. Es kommt zum ersten Einsatz und der Begegnung zwischen Charles und Erik, die schnell Freundschaft schließen und fortan genau wie ihr Gegenspieler nach anderen Mutanten Ausschau halten, um diese auszubilden. Doch der Hass und die Gewalttätigkeit, von denen Erik dabei getrieben wird, entpuppen sich bald als genauso großes Problem wie der neueste Plan des rücksichtslosen Shaw, der mitten im kalten Krieg die russischen Militärs davon überzeugt ein paar Raketen auf Kuba zu stationieren.
Man höre und staune: Endlich erfahren wir also die wahren Hintergründe der legendären Kubakrise, deren Geschichte demnach ganz neu geschrieben werden muss. Im Ernst: Die Einbindung der Mutanten ins historische Zeitgeschehen der 60er Jahre ist nicht nur eine hübsche Idee, sondern genauso clever und gelungen umgesetzt wie der gesamte Rest dieser erstaunlich runden Geschichte. Was ja nun keine einfache Aufgabe war, angesichts des vorgegebenen Rahmens aus den bereits vorhandenen drei Filmen, in den sich hier alles möglichst passgenau einzufügen hat. Und das tut es ganz hervorragend, sofern man nicht bei jedem einzelnen der Charaktere haargenau das Lebensalter und die Jahreszahlen nachrechnet und auf Plausibilität prüft.
Aber sonst: Selten wurde wohl das Zerbrechen einer innigen Freundschaft im Popcorn-Kino (denn darum handelt es sich natürlich immer noch) so überzeugend entwickelt und präsentiert wie hier. Wozu die beiden herausragenden Darsteller ihren gehörigen Anteil beitragen, denn James McAvoy (nach "Wanted" nun zum zweiten Mal im Action-Kino präsent) legt seinen Charles Xavier zwar sehr lakonisch und ein ganzes Stück lockerer als in der Version von Patrick Stewart an, was aber durch die persönliche Entwicklung der Figur problemlos erklärbar ist. Noch mehr Eindruck hinterlässt allerdings Michael Fassbender, und das nicht nur weil der in Heidelberg geborene Schauspieler in den in der Originalfassung des Films deutsch gesprochenen Szenen natürlich besonders gut aufgehoben ist. Nach einer kleinen Rolle in "Inglourious Basterds" und einem beeindruckenden Auftritt im britischen Drama "Fish Tank", dürfte der Part als von seinem Zorn zerfressener und zwischen den Polen Gut und Böse hin- und hergerissener Erik Lehnsherr, aus dem schließlich der Menschenfeind "Magneto" wird, wohl den endgültigen Durchbruch für Fassbender bedeuten.
Aber damit nicht genug, denn das Ensemble beinhaltet schließlich auch die bei Drehbeginn noch weitgehend unbekannte, mittlerweile aber durch ihre Oscar-Nominierung für "Winter's Bone" ins Blickfeld getretene Jennifer Lawrence als "Mystic", eine junge Frau, die ihre besondere Fähigkeit eher als Fluch empfindet und der Lawrence auch hier eine unglaubliche Attraktivität und Ausstrahlung verleiht. Apropos Attraktivität: Das auffälligste Futter für die Augen stellt natürlich die kurvenreiche Helferin des Bösewichts mit Namen "Emma Frost" dar, und wer hätte gedacht, dass die einstige "American Pie"-Nebendarstellerin January Jones (zur Zeit auch in der TV-Serie "Mad Men" aktiv) ein Jahrzehnt später so dick im Geschäft sein würde.
Aber es geht noch munter weiter: Veteran Kevin Bacon hat zwar fast noch die eindimensionalste Figur abbekommen, versprüht aber sichtlich Spaß als Oberschurke Sebastian Shaw, und selbst die diversen Nachwuchsmutanten sind so gut besetzt, dass es ihren Darstellern gelingt in der relativen Kürze ihrer Leinwandzeit eine beachtliche Tiefe und Glaubwürdigkeit zu entwickeln, allen voran Nicholas Hoult als Hank "Beast" McCoy und Caleb Landry Jones als "Banshee". Ein wirklich perfekter Cast bis in die Nebenrollen, und gerade dort gibt es dann noch haufenweise kleine Bonbons für die Kenner der Comicvorlage zu entdecken, sowie einen prominenten Cameo-Auftritt, der derart gelungen ist, dass er das eine oder andere Kino zum Beben bringen dürfte.
Obwohl der Haupthandlung diesmal keine konkrete Comicstory zugrunde liegt, sondern lediglich unzählige Versatzstücke aus den unterschiedlichsten Vorlagen verwendet wurden, ist dies mit soviel Herzblut und Fachkenntnis geschehen, dass es für versierte Comic-Fans die reine Freude ist und einen sogar davon überzeugen kann, dass die insgesamt sechs (!) Drehbuchautoren hier wirklich für etwas gut gewesen sind.
Tja, so ist das in den herrlichen Weiten des Kinos: Während der eine von einem sich jeglicher "normaler" Narration verweigernden Experimentalfilm wie "The Tree of Life" tief bewegt wird, verspürt der andere bei einem für die große Masse konstruierten "X-Men"-Abenteuer doch tatsächlich einen kleinen Kloß im Hals, weil sich darin alles so wunderbar zusammenfügt und auch die emotionale Seite ganz hervorragend funktioniert. Denn genau so und nicht anders inszeniert man packend und überzeugend eine Vorgeschichte, deren Ausgang bereits bekannt ist (ja, das geht an Dich, George Lucas!).
Wer hätte es gedacht, aber das Einzige was an "X-Men: Erste Entscheidung" nicht stimmt, ist der deutsche Titel. Der Rest ist ein praktisch perfektes Beispiel für die Neubelebung und gleichzeitige Erweiterung einer bereits bekannten Marke. Ein großes Vergnügen für Jeden und für den überzeugten Comic-Fan im Besonderen - der darf dann auch gerne noch das letzte Auge drauflegen.
Neuen Kommentar hinzufügen