Manchmal braucht es nur einen Film, um aus einem Niemand einen Star zu machen, oder zumindest eine junge Hoffnung mit Starpotential. Ein solcher Film ist "Winter's Bone" und ein solcher vielleicht zukünftiger Star ist Jennifer Lawrence. Dieser Film wird fast allein von dieser jungen, bis hierhin nahezu vollkommen unbekannten Dame getragen, und mit welcher Leichtigkeit und Natürlichkeit sie die sture, eisenharte Ree hier verkörpert, ist absolut beeindruckend. Es beeindruckt so nachhaltig, dass "Winter's Bone" vor allem dank Lawrences famoser Leistung nach einem Sieg in Sundance zu einem Hit auf Filmfestivals wurde und auch verhältnismäßig gut an den Kinokassen abschnitt.
Eines war allerdings Pech für "Winter's Bone" und Jennifer Lawrence, nämlich dass es da einen anderen Independentfilm mit einer jungen Frau in der Hauptrolle gab, der mehr Einspielergebnis hatte, viel mehr Aufmerksamkeit auf sich zog und letztendlich dann auch die großen Preise für sich verbuchen konnte. Aber gegen Natalie Portman als schwarzem Schwan war halt kein Kraut gewachsen. Dass dies bei den Oscars so sein würde, davon war auszugehen, dass der vermeintliche Favorit "Winter's Bone" allerdings auch bei den Independent Spirit Awards (den "Oscars" der Independentszene) in den wichtigen Kategorien gegen den flashigeren "Black Swan" verlor, war denn doch ein bisschen bitter für Debra Graniks Werk, und auch ein kleines bisschen ungerecht. Wo "Black Swan" bei aller Klasse ein effektheischender "Guck mich an! Guck mal, was ich mache!"-Film ist (so wie eigentlich jeder Aronofsky-Film), ist "Winter's Bone" quasi die Antithese: ein karger, leiser Film ohne jegliche Showallüren.
Viel hat dabei natürlich mit Schauplatz und Geschichte zu tun. Entgegen der Östrogen-überdosierten und repressiven Welt des Balletts, in der man offenbar schon mal den Verstand verlieren kann, spielt "Winter's Bone" so weit weg von New Yorker Balletthäusern, wie es innerhalb der USA nur vorstellbar ist. Der Schauplatz ist der heimliche Hauptdarsteller von "Winter's Bone" und dieser Schauplatz sind die Ozark Mountains, eine Gebirgskette in Süd-Missouri/Nord-Arkansas. Bekannt sind die Ozarks nicht, außer für die dort lebenden Hinterwäldler, die zum Teil bettelarm sind.
Um genau so eine Person handelt es sich bei der 16-jährigen Ree Dolly, die sich quasi als Herrin des Hauses um ihre zwei jüngeren Geschwister und ihre Mutter kümmert. Letztere ist katatonisch (wohl aufgrund ihrer Drogenvergangenheit, der Film lässt dies allerdings offen) und starrt den ganzen Tag nur abwesend in die Gegend. Es liegt also an Ree, die Familie trotz ihrer Armut irgendwie durchzubringen. Eine Aufgabe, die fast gänzlich unmöglich wird, als der lokale Sheriff (Garret Dillahunt) die Nachricht überbringt, der von der Familie getrennte Vater Jessup sei nicht aufzufinden. Das Problem dabei: Er hat die Blockhütte der Familie als Kautionspfand hinterlegt. Wenn er nicht gefunden wird - tot oder lebendig - verlieren Ree und ihre Familie die Hütte und damit wirklich alles, was sie haben. Ree macht sich also auf die Suche nach ihrem Vater, und muss feststellen, dass man in der eingeschworenen Gemeinschaft der in den Ozarks lebenden Bevölkerung besser nicht zu viele Fragen stellt. Die Suche nach der Wahrheit über das Schicksal ihres Vaters wird so zu einer lebensgefährlichen Odyssee....
Kaum ein Autor kennt die Missouri Ozarks so gut wie Daniel Woodrell. Der Verfasser der Romanvorlage hat die meisten seiner Bücher dort angesiedelt (auch den Großteil seiner Bürgerkriegsgeschichte "Woe To Live On", die von Ang Lee als "Ride With the Devil" verfilmt wurde). Die meisten davon sind von ihm so bezeichnete "Country Noir"-Geschichten, die ein Verbrechen in dieser einsamen ländlichen Gegend mitsamt ihrer sehr speziellen Kultur behandeln. So auch in "Winter's Bone", aber mehr soll nicht verraten werden, denn diesen Film sollte jeder selbst entdecken. Inhaltlich trifft die Bezeichnung "Country Noir" sicherlich zu, jedoch nicht, was den Stil des Films betrifft. Hier bleibt Granik - die zusammen mit Produzentin Anne Rosellini auch das Drehbuch schrieb - stilistisch einem Naturalismus treu, der das Optimum aus den realistisch abgewrackten Schauplätzen herausholt. Das natürliche, kalte Licht und die trostlosen winterlichen Schauplätze lassen einen hier immer wieder frösteln.
"Country Noir" trifft aber ins Schwarze, was den Ton des Films trifft, denn es geht hier ausgesprochen düster zu. Hinterwäldlerhorror, aber mal ganz anders: Keine grenzdebilen Rednecks, keine Hünen mit Ledermaske und Kettensäge, keine schreienden Teenager auf der Flucht. Stattdessen: der kalte Wald, der lange Weg und eine Mauer des Schweigens, die kaum zu durchbrechen ist.
Die Leute in den Ozarks sind anders, dies wird schon in den Anfangsminuten deutlich. Man hält zusammen, komme was wolle, und mit Auswärtigen spricht man nicht. Wundervoll subtil setzt die Regisseurin Debra Granik dies um: Als etwa der Sheriff das Dolly-Haus besucht, um Ree die schlechten Nachrichten zu bringen, genügen schon kleine Details, meistens Blicke: der nervöse Blick des sich sehr unwohl fühlenden Sheriffs, die misstrauisch-feindseligen Blicke der Nachbarn. Probleme in den Ozarks werden nicht von der Polizei oder sonst einer anderen Behörde geregelt. So scheint auch keine Sozialbehörde so recht zuständig zu sein für die Leute hier, dafür zeigt der Film am Anfang schön das interne soziale System: Eine Nachbarin hat ein Kaninchen gefangen und zu Ragout verarbeitet und bringt den Dollys eine Schale vorbei, weil sie angeblich zu viel gekocht hat. Wieder genügen hier Blicke, um alles auszudrücken: Hilfe ohne das Stigma der Almosen, schweigender Dank. Man hilft sich aus, hier in den Ozarks, wo alle relativ arm sind. Außer jemand stellt zu viele Fragen, dann ist es schnell vorbei mit nachbarschaftlicher oder sogar familiärer Unterstützung. Dies stellt Ree schnell fest, als sie sich aufmacht herauszufinden, wo ihr Vater ist und was mit ihm geschehen ist. Keiner will ihre Fragen beantworten, dafür wird sie mehrmals gewarnt, die Dinge ruhen zu lassen. Sie wendet sich an ihren Onkel Teardrop (John Hawkes), aber auch er warnt Ree aufs Schärfste, nicht weiter zu forschen.
Aber natürlich tut sie dies, und hier wandelt sich der Film vom Drama langsam aber sicher zum Thriller, ohne jemals laut, pompös oder unrealistisch zu werden. Granik versteht, dass die Situationen selbst furchteinflößend genug sind und nicht durch Genrestereotypen verstärkt werden müssen. Und so gibt es hier keine "Buh"-Schockeffekte oder Verfolgungsjagden, sondern ein sich immer mehr steigerndes Gefühl der Bedrohung. Geschickt spielt "Winter's Bone" dabei mit Genres, ohne sich jemals einem komplett zu verschreiben. Er ist weder Horrorfilm noch Thriller, aber er vereint Elemente von beiden. Er ist kein klassisches Sozialdrama, hat aber auch davon Züge. Einem Multiplexpublikum wird dieser Film nicht zusagen, aber es ist auch kein schwer zugängliches Kunstkino. Es ist ein leiser, langsamer Film, dessen Brutalität und brutale Wahrheiten daher umso härter auf den Zuschauer einwirken.
Man will letztlich mit diesen (bis auf Ree) wenig sympathischen Figuren nicht viel Zeit verbringen, wird aber gepackt von der dichten Atmosphäre und dem grandiosen Spiel aller Beteiligten. Dazu gehört neben Jennifer Lawrence, die der Figur Ree eine eiserne Härte und fast schon gefährlichen Mut verleiht, auch John Hawkes. Dieser immer wieder in Nebenrollen gerne gesehene Charakterdarsteller darf hier zeigen, was er kann und hat dafür hoch verdient ebenfalls eine Oscarnominierung bekommen. Sein Teardrop ist in gewisser Weise die komplizierteste Figur in "Winter's Bone". Er kennt die Kodexe der eingeschworenen Ozark-Gemeinde genau, respektiert sie und will daher zuerst nichts mit der Mission seiner Nichte zu tun haben, bedroht sie gar körperlich, um sie davon abzuhalten. Aber er ist, versteckt hinter dem brutalen Äußeren und der im Knast eintätowierten Träne, die ihm seinen Spitznamen gibt, ein Mann der Recht von Unrecht unterscheidet und weiß, dass das seinen Nichten und Neffen drohende Schicksal Unrecht ist.
Großartig verkörpert Hawkes die Zerrissenheit zwischen einem privaten Ehrenkodex und den Regeln der Gemeinschaft um ihn. "Wenn du herausfindest, was mit deinem Vater geschehen ist, sag es mir nicht", erklärt er Ree, "denn dann müsste ich deswegen etwas tun, und ich möchte nicht auch mit den Zehen nach oben enden". Motivationen sind für ihn, wie für alle Charaktere hier, ein gefährlich zu navigierendes Labyrinth. In der Reihe der außergewöhnlichen Darstellerleistungen soll auch Dale Dickey erwähnt werden, die als Frau des örtlichen Gangsterbosses Thump Milton (Ronnie Hall) furchteinflößender als jeder Hüne mit Kettensäge ist.
Obwohl der Film nur anderthalb Stunden läuft, braucht man ein wenig Geduld für "Winter's Bone", denn er nimmt sich die Zeit um Schauplatz, Atmosphäre und Figuren herauszuschälen. Wer sich aber auf diesen Film einlässt, wird mit einem kleinen Meisterwerk belohnt, dessen Stärke die unvoreingenommene Sichtweise ist. Granik verurteilt ihre Charaktere und ihren alternativen Stil vom Miteinander und von Recht und Ordnung nicht, sie beobachtet sie. Kälte und Armut und einzigartige Charaktere, die nur das Nötige sagen und tun. "Winter's Bone" bedeutet im Roman ein kleines Geschenk, das der Winter bereit hält. Und auch wenn Rees Wintergeschenk eher schrecklicher Natur ist, so ist "Winter's Bone" ein winterliches Geschenk für alle Filmliebhaber.
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