Es gibt Menschen, deren Körperhaltung schon alles verrät. Traude Krüger ist so ein Mensch. Die alte Dame hat einen sehr gebückten Gang. Wenn sie unterwegs ist, dann schlurft sie langsam und doch irgendwie dynamisch durch die Straßen. Dabei hält sie sich dicht an der Häuserfassade, presst sich so eng wie es nur geht an sie. Nein, diese Frau möchte nicht mehr im Mittelpunkt stehen. Die Vergangenheit hat ihr tiefe Furchen ins Gesicht gedrückt. Vergangene Ereignisse, mit denen sie nicht mehr konfrontiert werden möchte, die sie meidet, so wie die Mitte des Gehwegs.
Aber genau darum wird es in Chris Kraus' grandiosem Film "Vier Minuten" gehen. Um die Unausweichlichkeit des Schicksals und die Angst, die in uns Menschen tief verborgen ist und nur dann zum Vorschein kommt, wenn die Vergangenheit auf das Hier und Jetzt trifft. Ein genauer und kühler Blick auf unser Verhalten, wenn wir begreifen, dass dieses Treffen unser Leben verändern wird und längst vergrabene Wunden wieder hochkommen lässt. Kraus erzählt von einem innerlichen und äußerlichen Kampf, dessen Ausgang bis zum Ende ungewiss bleibt.
Alles beginnt in Brandenburg, in einem Frauengefängnis. Die Kamera umkreist in der ersten Einstellung den Sicherheitstrakt in großen, fast endlos erscheinenden Schleifen, wie ein Geier der sich seiner Beute langsam aber sicher nähert. In diesem Gebäudekomplex sehen wir Traude Krüger (Monica Bleibtreu) zum ersten Mal. Sie ist schon sehr alt und trägt ihre grauen Haare zu einem Dutt zusammengebunden. Sie hat ihr ganzes Leben lang Klavier gespielt und unterrichtet nun die Insassen der Anstalt. Familie hat sie keine, nur mit dem Wärter Mütze (Sven Pippig) verbindet sie so etwas wie Freundschaft - auch wenn sie das nicht so sehen würde - ansonsten ist Traude allein. Allein mit ihrer Musik und ihren Gedanken an früher.
Jenny von Loeben (Hannah Herzsprung) ist eine extrem aggressive junge Frau. Sie sitzt wegen Mord. Die kurzen Haare und das mit vielen maskulinen Zügen versehene Gesicht prägen sich schnell ein. Ihr Körper ist durchsetzungsfähig und zerbrechlich zugleich. Auch sie nimmt eine Klavierstunde bei Traude, doch schon bevor sie zu spielen anfängt kommt es zum Streit, Jenny bekommt einen ihrer berüchtigten Anfälle, verprügelt Wärter Mütze auf brutalste Weise, bricht ihm seine Finger und spielt dann in dieser teuflischen Wut und völliger Erregung eine Melodie, die ihr ganzes Talent offen legt.
Beeindruckt von ihrer Begabung aber angewidert von ihrem Verhalten sucht Traude Jenny auf und bietet ihr an, sie zu fördern. Es ist eine seltsame Begegnung, aus der später die eindrucksvollste und intensivste Darstellung einer Frauenbeziehung seit langem im Kino wird. Dabei sind beide Frauen zunächst rein oberflächlich betrachtet grundverschieden. Sie brauchen einander nicht. Doch aus zunächst unverständlichen Gründen drängen beide raus aus ihrer seelischen Isolation. Und Chris Kraus ist viel zu clever, um diese Konstellation einer billigen Schüler-Meister-Geschichte zu opfern. Wenn Filme wie "Vier Minuten" so differenziert von Personen berichten und eine bis ins kleinste Detail konstruierte Psychologie aufweisen, ist kein Platz mehr für platte Klischees.
Die darstellerische Leistung der beiden Frauen ist exzellent und eigentlich unbeschreiblich. Zwischen den beiden ist die Luft ständig elektrisiert. Hannah Herzsprung gibt eine wirklich exorbitante Tour de force ab, mit lauten ausufernden Gewaltexzessen, bei denen immer eine Spur von Selbstzerstörung mitschwingt. Damit gibt sie nicht nur einen furiosen Kinoeinstand, sonder katapultiert sich direkt an Sandra Hüller ("Requiem") und Julia Jentsch ("Sophie Scholl") vorbei an die Spitze der jungen deutschen Schauspielerinnen-Generation.
Ausgestattet mit einem der besten Drehbücher der letzten Zeit, einer herausragenden Besetzung und mit emotional aufgeladenen Bildern ist "Vier Minuten" ein wahrer Glücksfall von Film. Umso erfreulicher, dass es sich hier um eine heimische Produktion handelt. Gerade ein formal so außerordentlich gut inszenierter Film macht es möglich, sich nicht mit dem Mäkeln an Kleinigkeiten aufzuhalten, sondern gibt Zeit, tiefer in die Struktur der Geschichte einzudringen. Etwas was im Filmgängeralltag leider nicht allzu oft passiert.
Also schauen wir genauer hin. Traude wird Jenny zu diversen Talentwettbewerben anmelden und Jenny wird mitmachen, ohne dass sie das wirklich möchte. Doch die beiden sind wie zwei negativ geladene Konduktorkugeln, die sich nur bis an einen gewissen Punkt annähern können und sich dann wieder abstoßen. Genau an diesem Punkt entsteht eine gewisse Faszination an der anderen Person. Einmal werden die beiden Frauen tanzen. Traude wehrt sich zunächst, lässt sich aber dann von Jenny führen. Näher werden sich beide nie kommen. In dieser Annäherung wird immer deutlicher, dass Regisseur Chris Kraus, der hiermit seinen zweiten Spielfilm abliefert und damit prompt das Festival von Shanghai gewann, hier eigentlich die unheimliche Geschichte von zwei Frauen erzählt, die sich selbst begegnen. Das gute Alte trifft auf das schlechte Neue, so scheint es auf den ersten Blick. Jenny ist eine junge Frau mit einer dunklen Vergangenheit. Dabei spielt ihr Vater (düster gespielt von Vadim Glowna) eine wichtige Rolle. Die Frage, die immer wieder im Raum mitschwebt ist folgende: Hat Jenny wirklich jemanden ermordet? Was machte aus einer begnadeten jungen Pianistin, diese gewalttätige Furie?
Jenny musste so werden, weil die Welt heute keinen schwachen Menschen mehr duldet. Wer schwächelt, verliert. Damals, als Traude jung war, war vieles noch anders. Das Frauengefängnis war während des Zweiten Weltkriegs ein Lazarett. Sie war eine Krankenschwester und in eine Kollegin verliebt. Und so ist die Geschichte, welche Chris Kraus hier angestoßen hat, eine viel ältere, die den großen Melodramen in nichts nachsteht. Die junge Traude musste entscheiden, ob sie ihre - zu dieser Zeit strafbaren - Gefühle offen preis gibt und damit ihr eigenes Leben zu gefährden. Heute arbeitet sie immer noch in diesem Gebäude, das schon längst zu ihrem persönlichen Gefängnis geworden ist. Ein Mensch, der nicht mehr flüchten kann und das auch nicht mehr möchte. Nur Jenny reißt sie aus ihrer Vegetation. Noch einmal blitzt in Traudes Augen eine Leidenschaft auf, wie es früher stets der Fall war. Vielleicht ist das der einzige Erfolg, den sie bei dieser Mission davontragen kann. Die Musik, die das ganze Treiben begleitet, fungiert als Äther, der das Geschehen umschmeichelt und in ein äußerst mystisches Universum einschließt.
Und am Ende? Am Ende des Films kommt es zu den titelgebenden vier Minuten, die wahrscheinlich niemand, der sie gesehen hat, je wieder vergessen wird. Eine Explosion von Wut und Energie gepaart mit einigen wirren Tönen. Ein überwältigendes Crescendo, das tief berührt. Da kann man nicht mehr sagen außer: Bravo.
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