In den Fenstern und Läden von San Francisco standen sie wieder, die Schilder, die um die Wahlstimmen der Stadtbewohner buhlten: "Vote NO on Proposition 8". Es ging einmal mehr um die Bewahrung der Bürgerrechte für gleichgeschlechtliche Paare, die Gleichstellung der Ehen. Die Bewohner des Castro-Viertels müssen sich im Oktober 2008 wie auf einer seltsamen Zeitreise gefühlt haben. 30 Jahre zuvor hatten sie den gleichen Kampf ausgefochten, damals ging es um noch existenziellere Fragen der Gleichberechtigung und die Bewegung hatte mit Harvey Milk ihre erste politische Galionsfigur. Um dessen Kampf gegen die bestehende Gesellschaftsordnung geht es in Gus van Sants exzellentem Politdrama "Milk" und Sean Penn, bekannt für sein Faible für ungewöhnliche Heldenrollen, verleiht dem Aktivisten ein derart lebendiges Gesicht, dass der Film fast dokumentarische Qualitäten bekommt.
"Milk" dokumentiert die persönliche Suche der Hauptfigur, der unter seinem New Yorker Schattendasein in der heimlichen Schwulenszene leidet und sich deshalb nach seinem 40. Geburtstag mit seinem Lebensgefährten Scott (James Franco) in das lebendige Zentrum der Szene nach San Francisco aufmacht. Dort erleben beide zum ersten Mal die Freiheit, sich öffentlich auf der Straße zu ihrer Liebe bekennen zu können und ihr Fotoladen wird zu einem Anlaufpunkt für junge Schwule aus der ganzen Stadt. Gleichzeitig werden sie aber auch in dieser Umgebung Zeugen ständiger Unterdrückung und Gefährdung durch die Polizei. Um diese Zustände zu ändern, beschließt Harvey Milk, in die Politik zu gehen und das System von innen heraus zu bekämpfen.
Durch einen Boykott der Coors Brauerei wird sich die Community ihrer Schlagkraft bewusst, als sie gemeinsam mit Gewerkschaften erfolgreich gegen die Entlassung schwuler Fahrer demonstriert. Nach und nach finden sich Unterstützer wie Cleve Jones, herausfordernd und energisch dargestellt von Emile Hirsch ("Into the Wild"), und seine Wahlkampfmanager Jim Rivaldo (Brandon Boyce) und Dick Pabich (Joseph Cross) zusammen, um Milk in den Stadtrat zu bringen. Mehrere gescheiterte Versuche kosten ihn seine langjährige Beziehung zu Scott, der den Stress der erfolglosen Wahlkampfkampagnen und die anhaltenden Drohungen nicht mehr aushält.
Diese Beziehungsszenen zwischen Penn und Franco sind die intensivsten und persönlichsten Eindrücke der Figur Milk. Sie geben dem Film eine über den politischen Hype ("Ich bin hier um Euch zu rekrutieren" ist Milks "Yes we can!") hinausgehende Tiefe. An Scotts Stelle tritt der lebenslustige und launische Mexikaner Jack, dem Diego Luna eine extrovertierte Tragik verleiht. Mit dieser persönlichen Veränderung geht auch Milks politischer Erfolg einher. Er wird 1977 in den Stadtrat gewählt, der erste bekennende Schwule in einer tragenden politischen Funktion in den USA.
Aber auch in der Politik angekommen muss Milk feststellen, dass die Anfeindungen keineswegs zu Ende sind. Sein Gegenspieler im Stadtrat ist Dan White, der Vertreter des erzkonservativen irisch-katholischen Nachbarstadtteiles ist. White wird in seiner Kleinbürgerlichkeit und seinem widerstrebendem Interesse an dem offenen und charmanten Milk von Josh Brolin gespielt, der zuletzt in dem hierzulande leider direkt ins Fernsehprogramm abgeschobenen "W." als George Bush jr. zu sehen war. Leider wird der tragischen Beziehung der beiden gegensätzlichen Charaktere etwas wenig Raum gegeben. Im wahren Leben waren sie durchaus befreundet, während sich Milk mehrfach in der Presse über eine mögliche Homosexualität von White äußerte, was der Film nur andeutet. Als sich Milk nicht an einen politischen Kuhhandel hält und White aus dem Stadtrat entlassen wird, spitzt sich die Situation zu.
Der Film läuft auf einen Showdown hinaus, als eine ultrareligiöse Gruppierung versucht, mit einer Gesetzesinitiative schwule Lehrer entlassen zu lassen und Milk seine Verbindungen zur Grassroots-Bewegung nutzen muss, um diese "Proposition 6" zu verhindern. Die Straßenszenen sind ein weiteres Kernstück des Films, in denen auch Penn seine naturgetreue Kopie des brillanten Redners Milk ausspielen kann. Penn wurde für seine Darstellung zu recht für einen Oscar nominiert, ebenso wie Brolin. Insgesamt kommt "Milk" auf acht Nominierungen in fast allen Schlüsselkategorien.
Immer wieder sind in Rückblicken Milks eigene Worte zu hören, am Küchentisch sitzend aufgenommen im Falle eines Attentats. Diese ruhigen Szenen stehen im Kontrast zum rasenden bunten Leben, das sich auf den Straßen des Castro-Viertels entwickelt zwischen Aufbruch- und Feierstimmung, die den Zuschauer zwischen Schnurrbärten und engen Jeans in das San Francisco der 70er eintauchen lässt. Die Rückblicke geben dagegen der Handlung einen Rahmen und der politischen Entwicklung, die innerhalb der kurzen Karriere des Harvey Milk entsteht, eine historische Gewichtung, die das Drama von einem bloßen Portrait einer interessanten Figur abhebt. Es ist ein Teil amerikanischer Geschichte, deren Nachhall weit über Stadt- und Landesgrenzen hinaus wirkte und doch noch immer von tagespolitischer Bedeutung zu sein scheint, wie die Wahlergebnisse aus dem vergangenen November beweisen. Denn trotz des weithin als Aufbruch eingeordneten Sieges von Barack Obama wurde ausgerechnet in Milks Schaffensort Kalifornien der Gesetzesentwurf, homosexuelle Lebenspartnerschaften Ehen gleichzustellen, von den Wählern abgelehnt.
Man merkt van Sants Film die enge Zusammenarbeit mit Weggefährten Milks an, ohne dass dem Portrait der notwendige Abstand zu seinen Hauptfiguren fehlt. Dabei vermeiden van Sant und Penn die nahe liegende Heldenverehrung. Der Politiker wird in all seinen Facetten gezeigt, und die enge Verbindung zwischen persönlichen Tragödien und politischen Erfolgen machen den Film zu einem realistischen zeitgeschichtlichen Meisterwerk.
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