Die Geschichte eines Wunderkindes - mal ohne Gesellschaftskritik und ohne große Dramatisierung. "Vitus" war der erfolgreichste Film des vergangenen Kinojahres in der Schweiz, und ist ihr Oscar-Anwärter für 2007. Aber ist er so genial wie sein Subjekt?
Der
kleine Vitus (Fabrizio Borsani) ist ein Wunderkind: Im Kindergarten
liest er seinen Kameraden aus dem Brockhaus vor, und auf dem Klavier
spielt er bereits nach einem halben Jahr Schubert hoch und runter.
Seine Eltern (Julika Jenkins und Urs Jucker) platzen fast vor Stolz
und zerbrechen sich nachts den Kopf um die richtige Förderung.
Denn so ein talentiertes Kind kann sich doch nicht einfach so entwickeln.
Es braucht Führung und natürlich auch ein bisschen Druck.
Vitus durchschaut allerdings sehr gut, was um ihn herum so passiert,
und verschließt sich vor seinen Eltern immer mehr. Aufleben
kann er nur auf dem Land bei seinem Großvater (Bruno Ganz).
Der ehemalige Schneider träumt seit jeher vom Fliegen und baut
mit seinem Enkel Fledermausflügel. Bei ihm kann Vitus ein normaler
sechsjähriger Junge sein. Zugang findet er auch zu seiner sechs
Jahre älteren Babysitterin Isabel (Kristina Lykowa), mit der
Klavierspielen seine strengen Regeln verliert und nur noch Spaß
macht.
Vitus (nun Teo Gheorghiu) bekommt professionellen Klavierunterricht
und ist mit 12 Jahren bereits reif für das Abitur. Seine Klassenkameraden
und Lehrer können ihn nicht leiden und seine Mutter setzt ihn
unter Druck, nun endgültig Berufs-Pianist zu werden. Aber das
einzige was er will, ist "normal" zu sein. Er muss einen
Weg finden, seine überdurchschnittliche Intelligenz los zu
werden.
Fredi
M. Murer betont, mit "Vitus" kein Märchen erzählen
zu wollen. Jahrelang beschäftigte er sich mit der Geschichte
eines Kindes, das erwachsen wird, dabei aber keinen normalen Weg
gehen kann. Zahlreiche Drehbücher entstanden, immer wieder
mischten sich neue Aspekte, die in der Wirklichkeit gefunden wurden,
in das Skript ein. So zeichnet der Film auch ein Bild moderner Kindheiten,
in denen die Eltern von Anfang an auf das Kind einwirken, um es
in eine Richtung zu steuern. Die Wünsche und Träume der
Mütter und Väter sind dabei oft stärker als die ihrer
Kinder.
Auch Vitus Mutter tritt in diese Falle: Vor missgünstigen Kollegen
ihres Mannes muss Vitus auf einer Party spielen, um seine Intelligenz
zu beweisen. Sie sucht nach immer besseren Lehrern für ihren
Sohn und zwingt ihn, täglich mehrere Stunden zu üben.
Schließlich gibt sie sogar ihren Beruf auf, um sich voll und
ganz auf seine Karriere konzentrieren zu können. Vitus persönliche
Entwicklung, in der er sich erst langsam darüber klar werden
muss, wer er ist und was er will, wird von der Frage gesteuert,
in wiefern er selbst auf sein Leben einwirken und sich selbst Freiräume
schaffen kann.
Bei der Besetzung seiner Hauptfiguren hatte der Regisseur viel
Glück: Sowohl für den 6-jährigen als auch den 12-jährigen
Vitus konnte Fredi M. Murer wahre Wunderkinder verpflichten. Teo
Gheorghui ist selbst seit seinem fünften Lebensjahr aufstrebender
Pianist und studiert seit 2001 an der Purcell School London. Er
lernt bei berühmten Klavierlehrern und gewann bei zwei internationalen
Piano-Wettbewerben den ersten Platz. Zu seiner großen Begabung
kommt, wie bei Vitus, auch eine hohe Intelligenz. Teo Gheorghui
kann voll und ganz in seiner Rolle aufgehen, spielerisch bringt
er den ungewöhnlichen Ernst und
die Überlegenheit eines 12-jährigen Wunderknaben auf die
Leinwand. Weder übertreibt er dabei das erwachsene Auftreten,
noch verschleiert er die Entschlossenheit seiner Figur. Wahrscheinlich
ist es seine persönliche Nähe zu der Rolle, die seine
Darstellung so selbstverständlich scheinen lässt. Aber
sich selbst zu spielen ist bekanntlich am schwersten. Und die Natürlichkeit,
mit der Teo Gheorghui durch die Geschichte geht und sich dem Zuschauer
nahe bringt, muss deutlich gelobt werden.
Auch Fabrizio Borsani, ein sechsjähriges Kindergartenkind,
ist ein absoluter Glücksgriff. Er betrachtet die Welt mit Kinderaugen,
aber seine ungewöhnliche Entwicklung und die damit verbundene
Andersartigkeit ist ihm gut anzumerken. Schon als Vitus noch ein
kleiner Junge ist, findet der Zuschauer Zugang zu seiner Sichtweise,
seinen Gedanken und seinen Problemen. Ein Effekt, der bei den meisten
Kinderschauspielern nicht zu beobachten ist.
Bruno Ganz ist die Rolle des liebenswerten Großvaters aus
dem Bilderbuch auf den Leib geschrieben. Er hat sie zusammen mit
Fredi M. Murer erarbeitet und füllt sie vollkommen aus. Die
Szenen mit seinem Enkel sind von Ruhe und Konzentration geprägt
- der ideale Gegenpol zu den ruhelosen und gehetzten Eltern.
Das Thema des Films, die Entwicklung des Jungen und seiner Träume,
wird in fast dokumentarischem Stil aufgenommen. Doch das zentrale
Problem der ersten Szenen verlieren die Macher im Verlauf des Films
leider aus den Augen, die Beziehung zwischen Mutter, Vater und Sohn.
Vitus' Distanz zu seinen Eltern wird zwar deutlich dargestellt,
aber nach der ersten Wendung im Film beginnt sie unglaubwürdig
zu werden. Während die Anfangssequenzen sehr stark und eindringlich
sind, wird der zweite Teil das, was Fredi M. Murer nicht beabsichtigt
hatte: ein Märchen.
Auch wenn Teile der Inszenierung wahr sind, wirkt die Story zu konstruiert
und romantisiert, zu viele Themen werden an später Stelle noch
mit in den Plot aufgenommen und ändern den Stil. Der Film hat
viele wunderbare und eindringliche Momente und ist sicherlich eine
gelungene Produktion. Aber für einen Oscar fehlt das "gewisse
Etwas". Also: Genial ist er nicht, sehenswert allerdings schon.
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