17 Prozent. Das ist die Zahl, die alle nervösen "Das Ende ist nahe"-Propheten rund um die deutsche Kinolandschaft gerade sehr beschäftigt. Um 17 Prozent ist die Gesamtzahl der Kinobesucher in Deutschland 2018 im Vergleich zum Vorjahr eingebrochen. Von 96 auf gerade mal noch 80 Millionen. Und schon die 96 Millionen von 2017 waren im Vergleich zu den sonstigen Werten der letzten Jahrzehnte schon eine Krisennummer. Aber 17 Prozent, binnen eines Jahres? Das ist arg.
Der erfolgreichste Film des Jahres in Deutschland war "Avengers: Infinity War" mit 3,4 Millionen Zuschauern (Stand: 20. Dezember). Es ist möglich, dass diese Zahl in den letzten zwei Wochen des Jahres noch knapp von "Phantastische Tierwesen 2" überflügelt wird, doch das ändert nichts daran, dass sie symptomatisch ist. 3,4 Millionen, das hätte unter den erfolgreichsten Filmen des Jahres in den Vorjahren gerade mal für einen Platz im hinteren Teil der Top Ten gereicht. Überhaupt: Noch nie hat eine vergleichsweise so niedrige Besucherzahl gereicht, um in der Jahrebestenliste die Nummer Eins abzugreifen. Und dabei lief es für die "Avengers" noch außergewöhnlich gut - normalerweise verzeichnen selbst die größten Marvel-Erfolge hierzulande eine gute Million Zuschauer weniger. Noch eine Zahl gefällig? 2018 verzeichneten nur 23 Filme in Deutschland über eine Million Zuschauer. Das sind zehn Filme weniger als in den letzten drei Jahren.
Die Beschwichtiger können den Panikmachern natürlich entgegenhalten, dass das nur eine Momentaufnahme ist und das Filmjahr 2018 natürlich auch darunter litt, das ihm große Zugpferde fehlten, ein bis zwei richtig heftige Publikumsmagneten. Es gab halt keine erneute Fortsetzung von "Fack Ju Göhte" mit sechs bis sieben Millionen Zuschauern, keinen familientauglichen Animationskracher wie die "Minions". Und auch auf das "Star Wars"-Universum, das vor zwei Jahren mit seinem ersten Anthologie-Ableger "Rogue One" immerhin noch vier Millionen Zuschauer anlockte (neben den 8,9 Millionen für "Das Erwachen der Macht" zum Jahreswechsel 2015 und den 5,9 Millionen für "Die letzten Jedi" Ende 2017), war erstmals kein Verlass: Für "Solo: A Star Wars Story" interessierten sich dieses Jahr nur klägliche 1,36 Millionen Zuschauer. Aber das kann ja nächstes Jahr schon wieder ganz anders aussehen, und man siehe im Vergleich doch nur mal in die USA! Gut, dort wird der Box-Office-Erfolg standardmäßig nicht in Besucherzahlen, sondern in Einspielergebnis gemessen, was immer ein bisschen geschummelt ist, denn der durschnittliche Ticket-Preis in den USA ist in den letzten zehn Jahren um zwei Dollar gestiegen, und so werden aus 9,6 Milliarden Dollar Umsatz in 2008 halt 11,5 Milliarden Dollar in 2018, obwohl knapp 100 Millionen Tickets weniger verkauft wurden. Dennoch: Im Vergleich zum 25-Jahres-Tief im Vorjahr ist die absolute Besucherzahl in den USA wieder leicht gestiegen, und überhaupt bewegen sich die Schwankungen dort eher im unteren einstelligen Prozentbereich. 17 Prozent, sowas kennt man da gar nicht. Also macht mal nicht so eine Welle, von wegen "Das Kino stirbt!".
Die andere Seite des USA-Arguments ist aber natürlich die, das die bei uns immer nur leidlich erfolgreichen Superhelden-Filme dort in vollkommen anderen Dimensionen laufen. Die erfolgreichsten Kassenknüller 2018 waren mit gewaltigem Abstand "Black Panther" und "Infinity War" mit einem Einspiel von 700 bzw. 679 Millionen Dollar. Das sind beeindruckende Zahlen, die aber nur unterstreichen, dass sich auch 2018 die Entwicklung der letzten Jahre unermüdlich fortgesetzt hat: Der Gesamt-Kinomarkt hängt immer mehr von immer weniger Mega-Produktionen ab, auf die die großen Studios ihre gesamte Budgetplanung konzentrieren. Krassestes Beispiel: Die dank ihrer Zukäufe von Lucasfilm und Marvel derzeit überaus erfolgreichen Walt Disney Studios konzentrieren ihr gesamtes Portfolio abseits des Animationsbereichs im Prinzip nur noch auf drei Säulen - die weitere Ausdehnung der Kino-Universen von Marvel und "Star Wars", und die Neuauflage eigener Klassiker. Für 2019 stehen uns die Neuverfilmungen von "Dumbo", "Aladdin" und dem "König der Löwen" ins Haus. Als wie tragfähig sich dieses Modell erweisen wird, bleibt indes abzuwarten. Wer nur noch alte Klassiker neu auflegt, kann natürlich keine neuen Klassiker hervorbringen. Bei "Star Wars" stellt sich zudem bereits jetzt die Frage, ob man die vier Milliarden Dollar, die der Mäusekonzern für Lucasfilm und die Rechte am "Star Wars"-Universum bezahlt hat, so schnell wieder reinholen wird. Angesichts des enttäuschenden Einspiels von "Solo" (auch in den USA schaffte der Film an der Box-Office nur vergleichsweise maue 213 Millionen Dollar) muss man sich fragen, wie groß das Publikumsinteresse an neuem "Star Wars"-Stoff mittelfristig tatsächlich sein wird.
Wenn nur noch Produktionsbudgets für Super-Blockbuster da sind, bleibt für alles andere nichts mehr übrig. Was uns zum anderen Aspekt führt, warum das klassische Kino 2018 vielleicht wirklich mit dem Sterben angefangen hat. Genre-Filme mit mittelgroßen Budgets finden in Hollywood ja schon seit Jahren kaum noch statt. Doch mittlerweile interessiert man sich auch immer weniger für Prestigeprojekte aus den Händen renommierter Filmemacher. Die haben für ihre neuen Werke inzwischen einen anderen dankbaren Abnehmer gefunden. Der laut weitverbreiteter Kritikermeinung beste Film des Jahres 2018, Alfonso Cuaróns "Roma", ist ein Netflix-Film. Auch das neue Werk der Coen-Brüder, "The Ballad of Buster Scruggs" war dieses Jahr einzig über den Streaming-Anbieter zu sehen. Zum exklusiven Netflix-Angebot 2019 wird unter anderem "The Irishman" zählen, der neue Film von Martin Scorsese. Martin Scorsese! Wenn selbst solch ein Name nicht mehr in der Lage ist, seinen neuen Film auf klassischem Wege zu finanzieren, dann kann man eine epochale Zeitenwende kaum noch wegdiskutieren.
Die Institutionen des klassischen Kinos - allen voran das Festival in Cannes - stehen auf Kriegsfuß mit Netflix, wei der Streaming-Gigant sich nicht an die althergebrachten Regeln halten will. Hier geht es vor allem um das übliche Verwertungsfenster: Dass ein Film nach seinem Start erst einmal gut sechs Monate ausschließlich im Kino zu sehen ist, bevor es mit der nächsten Stufe der Verwertungskette - bis dato die Veröffentlichung auf DVD/Blu-Ray - weitergeht. Netflix hat per se nichts dagegen, dass seine Produktionen auch im Kino laufen - aber ganz sicher nicht für sechs Monate, und ohne dass sie (auch) über die Streaming-Plattform verfügbar sind. Da spielen die Kinobetreiber natürlich nicht mit: Wir zeigen doch keinen Film, den sich die Leute gleichzeitig auch zuhause angucken können! Da kommt doch keiner! Wenn allerdings der Verleih-Arm der Filmbranche nicht mehr bereit ist, Geld für Namen wie Cuarón, Coen oder Scorsese auszugeben, und der Vorführ-Arm der Filmbranche nicht mehr bereit ist, ihre Werke auf der Leinwand zu zeigen - dann stellt sich alsbald die Frage, wofür man als echter Filmliebhaber überhaupt noch ins Kino gehen soll.
Netflix schickt sich derzeit an, die althergebrachten Spielregeln des Kinogeschäfts völlig über den Haufen zu werfen - vielleicht für immer. Doch auch beim Netflix-Modell stellt sich die Frage, wie lange es tatsächlich tragfähig bleibt. Momentan wirft der Konzern unfassbare Summen von Geld in alle erdenklichen Richtungen, um exklusiven Content zu generieren, in einer gigantischen Wette auf die Zukunft. Netflix ist ein hochdefizitäres Unternehmen, ob es jemals Gewinn abwerfen wird, steht in den Sternen. Die Hoffnung von allen, die Geld in Netflix-Aktien gesteckt haben und den Streaming-Anbieter zu einem der wertvollsten Konzerne der Welt gemacht haben, basiert auf der Annahme, dass Netflix es langfristig schaffen wird, durch Verdrängung der Konkurrenz und Zugewinn von immer mehr Abonnenten soviel Marktmacht im Video-on-Demand-Bereich zu kumulieren, dass man als Quasi-Monopolist irgendwann schadlos die Abo-Preise hochsetzen und sogar Werbung ins Programm integrieren kann, um dann richtig Kasse zu machen. Zurzeit jedoch wird die Konkurrenz aber nicht weniger, sondern nur noch mehr. Apple startet seinen eigenen Streaming-Dienst, Disney ebenfalls, und die werden einen Teufel tun, ihre großen Marken wie Marvel und Star Wars in Zukunft irgendwo anders laufen zu lassen als bei sich selbst. Es ist nicht unrealistisch, dass das Netflix-Modell in ein paar Jahren vollkommen in sich zusammenbricht, wenn der Expansionskurs ins Stocken gerät und die Abo-Zahlen nicht mehr wie kalkuliert weiterwachsen. Wenn die Investoren den Glauben daran verlieren, dass Netflix seinen immer weiter wachsenden Schuldenberg irgenwann wird abtragen können, dann kann das gelobte Land des goldenen Serien-Zeitalters und neuerdings auch Refugium der großen Filmkünstler ganz schnell zusammenbrechen wie ein Kartenhaus.
Die Zukunft des Kinos jedenfalls ist 2018 so ungewiss wie noch nie zuvor. Sicher ist nur eines: Die großen Umwälzungen werden weitergehen, und 2019 dürfte maßgeblich anzeigen, in welche Richtung es gehen wird. Für Filmfreunde stehen unwägbare, aber dadurch auch irgendwie aufregende Zeiten bevor.
Jetzt klingt allerdings erstmal 2018 aus, und zum Jahresende gibt es wie immer die Top- und Flop-Listen unserer einzelnen Redakteure. Dass es weniger Listen geworden sind und die Filmtitel darauf weniger einheitlich, hat vor allem damit zu tun, dass auch wir immer seltener den Weg ins Kino finden und nicht jeder von uns auch alle Filme gesehen hat, die man für eine Bestenliste eigentlich berücksichtigen sollte. Daran sind Job und/oder Familie Schuld, und zu einem Gutteil sicher auch Netflix und Konsorten. Filmszene.de wird dem im neuen Jahr Rechnung tragen und sein Gesicht verändern. Aber dazu zu gegebener Zeit mehr. Jetzt wünscht das gesamte Filmszene-Team all unseren Leserinnen und Lesern erstmal schöne Festtage und einen tollen Jahreswechsel.
Die Tops und Flops im Kinojahr 2018 aus Sicht unserer einzelnen Redakteure
Frank-Michael Helmke Top Ten
Matthias Kastl Top Ten
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Volker Robrahn Top Ten
René Loch Top Ten
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Simon Staake Top Ten
Margarete Prowe Top Ten
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