Nachdem er 2014 für "Gravity" den Oscar als bester Regisseur gewann (und nebenbei: von den sieben Oscars, die der Film ingesamt gewann, ging auch der für den besten Schnitt an ihn persönlich), hätte Alfonso Cuarón eigentlich alles machen können. Er hatte mit seinem Film den so schwierigen Spagat zwischen Anspruch und Unterhaltung kongenial gemeistert, er hatte ein visuelles 3D-Spektakel geschaffen, das technisch und inszenatorisch völlig neue Maßstäbe gesetzt hatte, er hatte seine Superstar-Hauptdarstellerin zu einer Oscar-Nominierung geführt und er hatte auch noch einen satten Gewinn für das produzierende Studio eingefahren. Er hätte in Hollywood danach vermutlich jeden Film machen können, den er wollte. Doch stattdessen ging er zurück in seine Heimat Mexiko und drehte für schmale 15 Millionen Dollar so ziemlich das genaue Gegenteil von "Gravity": Einen Film, wie er persönlicher, intimer und effektloser kaum sein kann.
"Roma" erzählt ungefähr ein Jahr im Leben einer gut situierten Familie in Mexico City Anfang der 1970er Jahre, genauer gesagt vor allem ein Jahr im Leben von Cleo, der jungen Haushälterin der Familie, die mit ihnen unterm selben Dach lebt. Und genau genommen erzählt er eigentlich von Libo, dem real existierenden Vorbild von Cleo - der Haushälterin von Alfonso Cuaróns eigener Familie, die den Regisseur und seine Geschwister mit großgezogen hat. Laut Cuarón sind nahezu alle Ereignisse in "Roma" autobiografischer Natur, und es ist hilfreich, sich das vor Augen zu führen, um zu begreifen, was der Regisseur hier tut. Denn "Roma" erzählt nur in rudimentärer Form eine Geschichte. Er zeigt uns zentrale Ereignisse im Leben von Cleo und der Familie - im Lauf des Films zersetzt sich die Ehe des Elternpaars Sofia und Antonio, während die unverheiratete Cleo schwanger wird von einem verantwortungslosen Draufgänger. Doch dies ist kein Plot im gängigen Sinne, viel mehr ist "Roma" in Filmform gegossene Erinnerung. An eine Zeit, an einen Ort, an eine Atmosphäre, und an die ganz besondere Rolle, die Libo im Leben von Cuaróns Familie gespielt hat.
"Roma" ist ein Film, der sich Zeit lässt. Nichts geht hier schnell, in den meisten sich bedächtig und langsam entwickelnden Szenen wird wenig bis gar nicht geschnitten, und oft sieht man Dingen von vollkommen banaler Natur zu: Cleo beim Reinigen der Hauseinfahrt, Cleo wie sie die Kinder ins Bett bringt oder morgens aufweckt, die Familie beim gemeinsamen Fernsehen oder beim Abendessen. All dies in Szenen, die kein besonderes Ziel zu haben scheinen, die aber alle einer präzisen und bis ins kleinste Detail durchdachten Gesamtkomposition folgen. Sowohl was die kleinen Erzähllinien des Films betrifft, deren Wendepunkte sich hier oft in leisen Momenten am Szenenrand verstecken, als auch seine großen. Wie instabil die gesellschaftlichen Verhältnisse in Mexiko zur Spielzeit von "Roma" waren, illustriert der Film zum Beispiel mit wenigen Federstrichen, wie wenn eines der Kinder wie beiläufig erzählt, dass es auf dem Heimweg von der Schule beobachtet hat, wie ein aufmüpfiger Jugendlicher von einem Soldaten erschossen wurde.
Nichts, was hier geschieht oder gesprochen wird, fühlt sich im gewohnten Sinne geskriptet an, einem Drehbuch folgend. Die Art der Inszenierung und eben gerade ihre bewusste Langsamkeit geben "Roma" ein Gefühl von authentischer Alltäglichkeit, einen Eindruck von "Genau so war es damals" - und damit eben genau die Atmosphäre einer im eigenen Kopf durchlebten Erinnerung. In der Rückbesinnung auf die eigene Kindheit gibt es keine schnellen Schnitte, und das Gefühl der Geborgenheit, wie man sich als kleines Kind abends vor dem Fernseher in den Arm einer vertrauten Person gekuschelt hat, das hat auch keinen Soundtrack.
Nichts fängt diese Atmosphäre der Erinnerung besser ein als die Kameraarbeit. Cuarón fungierte hier erstmals als sein eigener Kamermann, da sein gewohnter Begleiter Emmanuel Lubezki (der für "Gravity" seinen ersten von schließlich drei Kamera-Oscars in Folge gewonnen hatte) aufgrund anderer Verpflichtungen nicht zur Verfügung stand. Gerade angesichts der wilden Kameratricks und -fahrten, die Cuarón und Lubezki in "Gravity" und "Children of Men" verwendet haben, ist die ganz bewusste Nicht-Effekthascherei der Bilder hier umso bemerkenswerter. Wie der gesamte Film kennt auch die Kamera keine schnellen Bewegungen, macht keinerlei Mätzchen und scheint immer auf derselben (Augen-)Höhe zu bleiben. Und dennoch entwickelt sie eine eigentümliche Präsenz, gerade durch die immer wieder auftauchenden horizontalen Schwenks, die den Geschehnissen innerhalb einer Szene erst in die eine, dann in die andere Richtung folgen (was üblicherweise eigentlich ein No-Go in der "gewöhnlichen" Filmsprache ist und deshalb so gut wie nie im Kino zu sehen ist). Es entsteht das Gefühl, dass die Dinge hier nicht für die Kamera geschehen, sondern dass die Kamera wie ein unsichtbarer Beobachter bei Geschehnissen dabei ist, die sie bereits kennt. Ohne jede Eile weiß sie immer haargenau, wo sie fünf Sekunden später zu sein hat. Kurz gesagt: Cuaróns Kamera ist wie ein Geist, der sich durch eine Erinnerung bewegt.
Was sie dabei einfängt, ist trotz aller Schlichtheit gleichzeitig auch von teilweise betörender Schönheit. In Schwarz/Weiß gefilmt erscheint "Roma" in seiner perfekten Bildkomposition immer wieder wie eine Aneinanderreihung herausragender Fotografien, und selbst, wenn scheinbar nicht viel geschieht, entwickeln die Bilder eigenen Sog und Faszination. Die Liebe zum Detail ist dem Film in jeder Minute anzumerken, nicht ohne Grund wurde hier alles "on location" gedreht mit zum Großteil extra aus Cuaróns Familie wieder zusammengetragenen Möbelstücken und Requisiten. Bis zum letzten Straßenschild rekreiert der Regisseur seine Lebenswelt jener Zeit, und schafft damit wie im Vorbeigehen eben auch ein authentisches Zeitdokument über das Mexico City jener Tage, kulminierend im "Corpus Christi-Massaker", einem der zentralen innenpolitischen Ereignisse in Mexikos jüngerer Geschichte, das hier den Hintergrund für den dramatischen Höhepunkt des Films darstellt.
"Roma" ist damit auch ein Film über Mexiko und seine Klassengesellschaft - immer wieder verweist der Film auf Cleos Herkunft aus einem offenbar weit entfernten Dorf und positioniert sie damit als Teil eines niederen Arbeiter-Proletariats, das zum Lebenserhalt vom Land in die Großstadt gezogen ist und hier nun wortwörtlich die Dreckwäsche der gehobenen Mittelschicht erledigt. Doch im Kern ist sein Fokus ganz intim auf die Familie gerichtet, und wie Cleo trotz des immer irgendwie präsenten Gefälles zwischen ihr und ihren Dienstherren ein essentieller, unschätzbarer und nicht wegzudenkender Bestandteil dieser Familie ist. Es hat sicher seinen Grund, dass der Titel dieses wunderschönen, einzigartigen Films nicht nur den Namen des Viertels von Mexico City wiedergibt, in dem diese Familie lebte, sondern rückwärts gelesen eben auch "Amor" ergibt - Liebe.
P.S.: Man kann nicht über "Roma" reden, ohne darauf einzugehen, dass es sich um einen Netflix-Film handelt. Der Film lief Anfang Dezember in Deutschland ebenso wie in den USA nur für wenige Wochen in ausgewählten Kinos, seit dem 14. Dezember ist er jetzt nur noch über das Streaming-Angebot von Netflix zu sehen. "Roma" ist deswegen bereits zu einem gewichtigen Politikum in der Filmwelt geworden. Das Festival von Cannes, das offiziell auf Kriegsfuß mit Netflix steht, weil es dem Anbieter die Zersetzung altehrwürdiger Kinokultur unterstellt, hatte sich geweigert, den Film zu berücksichtigen. Stattdessen lief er dann auf dem Festival in Venedig und gewann dort den Hauptpreis, den "Goldenen Löwen". Von zahlreichen, namhaften Medien vom "Time Magazine" bis hin zur britischen Film-Bibel "Sight & Sound" wurde "Roma" bereits zum besten Film des Jahres 2018 gekürt, und es ist davon auszugehen, dass er auch den Golden Globe und den Oscar für den besten fremdsprachigen Film gewinnen wird. Womit Netflix sein Ziel erreicht haben wird, zum ersten Mal einen Oscar-prämierten Film exklusiv in seinem Angebot zu haben. Man kann das als Sakrileg an der gehobenen Filmkunst empfinden und als Sargnagel für die angemessene Würdigung von Film als ein Medium, das ins Kino gehört. Man muss aber auch feststellen: Wenn keinem anderen Filmverleiher die weltweiten Vertriebsrechte für den neuen Film eines Alfonso Cuarón die 20 Millionen wert waren, die Netflix dafür bezahlt hat - dann ist die klassische Filmwelt vielleicht auch ein Stück weit selbst der Hammer, der diesen Sargnagel einschlägt.
Neuen Kommentar hinzufügen