“Gibt es eigentlich Magie in der Welt, Dad?” fragt der kleine Mason (Ellar Coltrane) seinen Vater Mason Senior (Ethan Hawke) in Richard Linklaters neuem Film „Boyhood“. Der muss leider verneinen, doch wer das Glück hat, „Boyhood“ zu schauen, gibt gerne zu: „Vielleicht gibt es doch ein wenig Magie in dieser Welt“. Trotz kleiner erzählerischer Längen schafft es Linklater in dieser Ode an die Familie das ganz normale Heranwachsen so liebevoll zu porträtieren, dass man nur lächelnd heimgehen kann und sich auf die Zukunft des mittlerweile siebzehnjährigen Mason (immer noch Ellar Coltrane!) freuen. Für das Filmgeschäft irrsinnige zwölf Jahre lang filmte Richard Linklater diese Geschichte in jedem Jahr für drei bis vier Tage mit den gleichen Schauspielern, während er acht andere Filme drehte, unter anderem „Before Sunset“ und „Before Midnight“.
Als er mit diesem Film begann, war Linklater schon mit „Slacker“, „Dazed and Confused“ und „Waking Life“ als innovativer Filmemacher aufgefallen, doch „Boyhood“ setzt seinem Werk nun die Krone auf und brach kurzerhand die gültigen Spielregeln einer Filmproduktion. Als der Dreh startete, war Ellar Coltrane gerade einmal sechs Jahre alt und hatte nun einen Filmvertrag über zwölf Jahre, also das Doppelte seines bisherigen Lebens. Immer wieder musste Produzent Jonathan Sehring seinem Arbeitgeber erklären, warum es noch Jahre dauern würde, bis man endlich Ergebnisse für die Kosten in der Abrechnung des vorliegenden Jahres sehen würde. Jeden Sommer musste Linklater mit den nicht gerade wenig beschäftigten Schauspielern in den Elternrollen, Patricia Arquette und Ethan Hawke, Termine finden, an denen gedreht werden konnte. Und gleichzeitig musste das gedrehte Material ästhetisch auch noch zu den vorher gedrehten und geschnittenen Teilen passen und sich am Ende zu einem Spielfilm verbinden lassen. Dass Linklater dies gelang, zeigt seine Qualitäten als Filmemacher und es ist zu erwarten, dass „Boyhood“ über die Jahre zu einem Klassiker werden wird.
Der kleine Mason ist sechs Jahre alt, hat eine etwas nervige, zwei Jahre ältere Schwester namens Samantha (die Tochter des Regisseurs, Lorelei Linklater) und seine Eltern sind zu diesem Zeitpunkt schon ein Jahr lang nicht mehr zusammen. Vater Mason Senior (Ethan Hawke) hat sich in Alaska von seiner Beziehung erholt und will nun wieder Anschluss an seine Kinder und ihre Mutter finden, was Masons alleinerziehende Mutter Olivia (Patricia Arquette) auf die Palme bringt. Die zieht mit ihren Kindern nach Houston, um dort ihr Studium zu beenden, was sie aufgrund ihrer frühen Schwangerschaft nicht geschafft hatte.
Die Jahre ziehen langsam vorbei, der Zuschauer erkennt dies an neuen Männern im Leben von Olivia, sieht Masons Haare wachsen oder abrasiert werden, erblickt immer modernere Spielkonsolen und sieht Mason zu einem jungen Mann heranwachsen, der gerade das College beginnt. Auch Vater Mason Senior wird Teil des Lebens seiner Kinder geworden sein.
Klingt langweilig? Ist auch manchmal so, denn Linklater zeigt bis auf einige Ausnahmen nicht die dramatischen Ausschläge in Masons Leben, sondern lässt diese gern im Off stattfinden und konzentriert sich lieber auf kleine flüchtige Augenblicke im Leben eines Jungen und Jugendlichen. Eine weitere gescheiterte Beziehung der Mutter ist nach dem nächsten Schnitt schon verschwunden. Weder der erste Kuss von Mason noch seine Schul-Abschlussfeier werden gezeigt, dafür das ganz normale Leben, was als Summe kleiner Momente vorbeizieht, bis wir auf einmal merken, dass aus dem kleinen wuscheligen Bubi von eben ein tiefsinniger junger Mann geworden ist, der sich nicht so einfach dem American Way of Life unterordnen will, sondern stattdessen Künstler werden möchte. So werden nicht mehr die kleinen Längen des Films erinnert, sondern das auch mal langweilige und doch trotz aller Langeweile Großartige und Aufregende des Aufwachsens, was sich im Kino erst selten oder vielleicht noch nie so behutsam entfalten durfte wie hier.
Linklater blendet keine Jahreszahlen ein, sondern nutzt kulturelle, technische und zeithistorische Marker, um die Zeit für die Zuschauer zu verorten. Zu Beginn bewirft Samantha ihren Bruder mit Kissen und singt mit ihrer Kleinmädchenstimme Britney Spears‘ „Oops, I did it again“, dann folgt über die Jahre ein musikalischer Teppich von Coldplays "Yellow" über Phoenix, Lady Gaga und Arcade Fire bis hin zu Daft Punks "Get lucky" und "Hero" von Family of the Year. Der Gameboy in Masons Händen wird irgendwann ein iPhone, seine Mutter liest aus dem ersten „Harry Potter“-Buch und zwei Stunden später werden Mason und seine Schwester im Auftrag ihres Vaters Wahlplakate für Barack Obama in Vorgärten stellen, bevor Mason nicht viel später einen Witz über die NSA-Überwachung macht.
Die Wahl des Kindes Ellar Coltrane erweist sich als richtig, aus ihm wird ein schlaksiger Jugendlicher, der immer mehr Feinheiten seiner Rolle, in die er ja im wahrsten Sinne des Wortes hineinwächst, darstellen kann. Auch Lorelei Linklater und Ethan Hawke füllen ihre Rollen glaubwürdig, doch ist Patricia Arquette als Mutter schier unglaublich und neben Ellar Coltrane der interessanteste Charakter. Sie versucht ihren Kindern eine schöne Kindheit zu bereiten, trifft auch mal falsche Entscheidungen und kämpft doch darum, trotz aller Widrigkeiten alles ins Lot zu bringen. Sie wirkt so wahrhaftig, wenn die Kinder sie zum Beispiel beschimpfen, warum sie gerade ihren nächsten Ehemann (einen cholerischen Alkoholiker) verlassen hat und sie nun in eine andere Schule müssen, und sie daraufhin einfach mal herumschreit und heult.
„Boyhood“ galt auf der diesjährigen Berlinale als der Film, der den Hauptpreis hätte gewinnen sollen und müssen und dann doch nur den Silbernen Bären für die Beste Regie bekam. Auf lange Sicht wird er trotzdem einer der Filme sein, die einem im Gedächtnis bleiben und die man sich auch gern noch einmal anschauen wird. Ein Film für Söhne und Töchter und Mütter und Väter, der seinen Ursprung 2002 nahm mit Richard Linklaters schlichter Überlegung: „Warum versuche ich nicht einfach mal, die gesamte Kindheit in einem Film festzuhalten?“
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