Niemand in Europa - und eigentlich auch niemand in Hollywood - produziert so konstant leicht verdauliche Action-Ware wie Luc Besson, der sich seit Anfang der "Transporter"-Franchise zusehends darauf spezialisiert hat, seine schnörkellosen Reißer dadurch international vermarktbarer zu machen, indem er die stets (zumindest teilweise) in Frankreich angesiedelten Filme auf Englisch und mit mindestens einem veritablen Hollywood-Star dreht und dafür dann auch gern international renommierte Regisseure anheuert. Das ist mal mehr ("96 Hours"), mal weniger ("3 Days to Kill") erfolgreich. Seine jüngste Produktion fällt zwar im Prinzip auch wieder in diese Reihe, dennoch ist "Lucy" in mehrerlei Hinsicht etwas ziemlich Besonderes. Erstens hat Besson hier mal wieder selbst auf dem Regiestuhl Platz genommen, was er in diesem Genre seit seinem Klassiker "Das fünfte Element" nicht mehr getan hat. Zweitens darf "Lucy" jetzt schon als einer der großen Überraschungshits des US-Kinosommers gelten, denn an seinem Startwochenende stach der Film die muskulöse Hollywood-Konkurrenz durch Dwayne Johnson als "Hercules" deutlich aus und spielte satte 40 Millionen Dollar ein. Und drittens hat eine knallige Besson-Action-Produktion wohl selten derart tiefschürfende Momente gehabt wie diese.
Tatsächlich ist es erstaunlich, wieviel Besson in diese verdammt rasanten 90 Minuten steckt, und dabei das Gaspedal von Anfang an konsequent durchdrückt: Es dauert keine drei Minuten, da befindet sich seine unfreiwillige Heldin - die Party-freudige und recht sorglos in Taiwan studierende Amerikanerin Lucy (Scarlett Johansson) - in einer klassischen, aufgeladenen Suspense-Situation: Eben noch von einem Freund dazu genötigt, für ihn einen obskuren Aktenkoffer-mit-unbekanntem-Inhalt-in-Hotel-abliefern-Job zu erledigen, jetzt schon fünf Leichen gesehen und selbst in höchster Todesangst. Wie sich herausstellt, beinhaltet der Koffer die ersten Portionen einer neuen synthetischen Droge, die der höchst skrupellose Gangsterboss Mr. Jang (Min-sik Choi) nun unter anderem mit Lucy als unfreiwilliges, lebendes Drogenversteck nach Europa schmuggeln will. Also bekommt die junge Frau eines der Drogenpakete in ihren Bauch operiert, doch als dieses durch widrige Umstände aufplatzt, erleidet Lucy eine Überdosis, die sehr, sehr, sehr unvorhergesehene Auswirkungen hat....
Damit man auch versteht, was nun ungefähr mit Lucy abgeht, hat sich Besson noch einen anderen namhaften Star gegönnt und bedient sich der Seriösität und Gravitas von Morgan Freeman (eigentlich immer eine gute Investition), der als Wissenschaftler Professor Norman in Zwischenschnitten einen Vortrag über die hypothetischen Fähigkeiten hält, die der Mensch entwickeln könnte, wenn er die theoretische Leistungsfähigkeit seines Gehirns voll ausschöpfen würde. "Lucy" ist nicht der erste Film, der sich dem populären wissenschaftlichen Halbwissen widmet, dass wir eigentlich nur zehn Prozent unseres geistigen Potentials nutzen. Doch wohl niemand zuvor ist mit dem Gedankenspiel, was man mit 100 Prozent anstellen könnte, so freudig Amok gelaufen wie es Besson hier tut.
Das alles ergibt ein Szenario, das in seiner Absurdität sehr schnell ins Lächerliche kippen könnte, und es hängt an einer Person, das zu verhindern: Scarlett Johansson. Die begnadete Aktrice beweist hier beeindruckend, wie zentral gerade ein Actionfilm von einer überzeugenden Schauspielleistung abhängen kann. Denn die Wandlung, die Lucy hier durch macht, ist mehr als enorm: Eben noch ein nur minder intelligentes Party-Girl, jetzt auf einmal eine evolutionäre Atombombe auf zwei Beinen, die gleichsam verwirrt, fasziniert und beängstigt ist von den rasanten Veränderungen ihrer Wahrnehmung, Fähigkeiten und Intelligenz. Johansson hat hier nichts weniger zu spielen als den Wandel einer Frau hin zu Allwissenheit und Unbesiegbarkeit, und es ist mehr als beachtlich wie sie es schafft, dies in ihrem Spiel tatsächlich glaubhaft rüber zu bringen.
Mit Lucys Wandel hin auf eine Bewusstseinsebene weit jenseits von allem, was irgendein anderer Mensch nachvollziehen könnte, verlassen auch ihre Gedanken zusehends die üblichen, profanen menschlichen Sphären, und es wird mehr als einmal ziemlich verkopft und philosophisch, wie man es so in einer Besson-Produktion sicher nicht erwartet hätte. Da das alles aber immer noch eingebettet ist in eine klassisch-simple, atemlose Hatz rund um die ominösen Drogenpäckchen und den rachsüchtigen Mr. Jang mit einer Vielzahl willfähriger Häscher, ist es bis zur nächsten Action-Explosion nicht weit - und damit bis zur nächsten Gedanken-Eskapade von Besson, was für Fähigkeiten die gute Lucy noch so entwickeln könnte, während sie sich mehr und mehr den vollen 100 Prozent ihres geistigen Potentials nähert.
Es ist natürlich kompletter, vollständiger Bullshit, was Besson hier auftischt, und je länger der Film läuft, desto durchgeknallter wird es, was er mit seiner Heldin geschehen lässt. Aber so abstrus es auch sein mag, es macht nichtsdestotrotz sehr viel Spaß, Bessons Gedankenspielen zuzuschauen, und es hat tatsächlich einen enormen Unterhaltungswert. Da erweist es sich sogar als ein kleines bisschen brillant, soviele Ideen in eine derart kurze Laufzeit zu pressen, weil man als Zuschauer gar keine Chance hat, da gedanklich wirklich Schritt zu halten und das alles auf seine Sinnhaftigkeit zu hinterfragen. "Lucy" geht mit den großen Konzepten, mit denen er jongliert, so herrlich unprätentiös zu Werke, dass er einen thematisch ähnlich gelagerten Film wie "Transcendence" gerade dadurch in seiner tatsächlichen Dummheit und Selbstverliebtheit entlarvt, weil er zeigt, dass man fürs Auswalzen solcher Ideen wirklich keine pseudo-gedankenschweren zwei Leinwandstunden braucht.
Was "Lucy" vom Entertainment-Faktor her auch zu einem echten Gewinner macht, ist die Tatsache, dass man wirklich keine Ahnung hat, wie diese Sache enden könnte, denn Besson baut seine Protagonistin zugleich als unbesiegbar und dem Untergang geweiht auf, so dass man bis zu den letzten Minuten gespannt bleibt, wie der Film am Ende aufgelöst wird. Was dort dann präsentiert wird ist ein Bildersturm, den man als größten Schwachpunkt des Films ansehen kann, oder als einen filmisch höchst interessanten Hybriden - es ist ein bisschen wie Kubriks "2001" als Besson-Film. Hat das noch eine tiefere Bedeutung, was ich da sehe? Muss es eine haben? Hauptsache: Es lässt mich nicht gleichgültig.
"Lucy" ist genau betrachtet auch nicht klüger oder besser produziert als die sonstige Konfektionsware aus Bessons Actionschmiede, aber der Film hat in seinem Arsenal so viele höchst wirksame Blendgranaten, dass man sich beim Betrachten durchaus einbilden kann, wenigstens seit der "Matrix" keinen so klugen Actionfilm mehr gesehen zu haben. Nach dem Abspann merkt man dann ziemlich schnell, dass das natürlich Unsinn ist. Aber solange der Film läuft, ist das schon ein ziemlich cooles Gefühl.
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