„The Place Beyond The Pines“, das ist die Stadt Schenectady im Staat New York. Dies ist was der Name der Stadt bedeutet, abgeleitet von dem Namen, den die Mohawk-Indianer der Siedlung der holländischen Einwanderer gaben. Und um uns daran zu erinnern fügt Regisseur Cianfrance immer wieder Einstellungen ein in denen wir sehen, wie Charaktere durch den Wald fahren, oder wie Häuser in der Stadt von Bäumen gesäumt sind. Shau-naugh-ta-da, der Platz hinter den Kiefern, trägt seinen Namen und seine Geschichte immer mit sich. Gleiches gilt auch für die Bewohner der Stadt, denen Cianfrance sich widmet. Namen, und das Gewicht ihrer Geschichte, dies ist Cianfrance wichtig in diesem Film um Väter und Söhne, um die Sünden der Väter und was diese für ihre Familien bedeuten.
Zwei Männer und ihre Familien stehen hier im Mittelpunkt: Luke Glanton (Ryan Gosling) ist Motocrossfahrer, der sich als „Handsome Luke“ in Stuntshows eines wandernden Jahrmarkts mehr schlecht als recht verdingt und gerade in Schenectady Station macht. Als er von Romina (Eva Mendes) erfährt, dass er sein One-Night-Stand zum Vater eines Sohnes gemacht hat, beschließt er zu bleiben, um seinem jungen Sohn nahe zu sein, sehr zum Unwillen von Rominas neuem Freund Kofi (Mahershala Ali). Nachdem Luke anfängt, mit seinem neuen Kumpel Robin (Ben Mendelsohn) Banküberfälle zu begehen, führt ihn dies früher oder später auf einen Kollisionskurs mit dem jungen, ehrgeizigen Cop Avery Cross (Bradley Cooper). Viele Jahre später werden die Söhne der beiden, Lukes Sohn Jason (Dane DeHaan) und Averys Sohn AJ (Emory Cohen) mit den Taten ihrer Väter konfrontiert...
Und mehr möchte man hier vorerst auch gar nicht zu Einzelheiten der Geschichte sagen, denn auch wenn nicht alle Storyentwicklungen in sich komplette Überraschungen sind, so ist es zumindest überraschend, wie diese Stories erzählt bzw. montiert werden. Ohne zuviel zu sagen ist zu erwähnen, dass die 140 Minuten des Films auf ein Triptych verteilt sind, drei ineinander verzahnte Geschichten, die „The Place Beyond The Pines“ einen thematischen und erzählerischen Reichtum geben, den so viele Filme aus Hollywood heute vermissen lassen.
Und genau das werfen manche Kritiker Derek Cianfrance nun vor, wenn sie bemängeln, dieser Film sei überambitioniert. Das ist er zweifellos, aber wer zieht denn bitte einen fehlerfreien Film ohne Ambitionen einem nicht perfekten, aber ambitionierten Film vor? Ich jedenfalls nicht. Und es ist auch unfair, Cianfrance nach seinem brillanten „Blue Valentine“ jetzt darauf festnageln zu wollen, dass er doch bitte weiter intime Dramen mit begrenzter Schauspieler- und Setanzahl drehe, weil er mit „Blue Valentine“ so brillant zeigte, dass er dies gut kann. Also geht der Autor und Regisseur hier in die gegensätzliche Richtung, nimmt sich Genrematerials an und erzählt dieses in einem 16 Jahre umfassenden Quasi-Epos mit Dutzenden Figuren, das jedoch die intimen Momente und Beobachtungen, die Cianfrance im Vorgänger so gut einfing, nicht außer Acht lässt. Dass er den Film mit einem fast zweieinhalbminütigen tracking shot beginnt, der Luke von seinem Wohnwagen quer über den Jahrmarkt bis zu seinem Motorrad und an die Metallkugel, in der er seine Stuntshow zeigt, folgt, macht ebenfalls deutlich: Cianfrance will hier nicht kleckern, er will hier klotzen.
Der mit Kameramann Sean Bobbitt gefundene Stil wechselt je nach Protagonist und Situation. Wenn Luke auf seinem Motorrad unterwegs ist, findet der Film denkwürdige Tableaus wie den Moment, in der er in der Dämmerung vor einer grünen Ampel verharrt, das Bankgebäude auf der anderen Straßenseite studierend. Actionreichere Szenen wie Lukes Motorradfahrt durch den Wald oder die Banküberfälle werden per Handkamera eingefangen. Die dann unvermeidlichen Verfolgungsjagden filmt Cianfrance ab wie Reality-TV-Shows à la „Cops“, die gesamte motorisierte Jagd auf Luke sehen wir aus dem Cockpit der Streifenwagen. Diese Mischung aus unterschiedlichen Darstellungen kennzeichnet letztlich das Universum des Films, der sich weder vollkommen dem ausdrucksstarken, metaphorischen Stil eines „Drive“ verschreibt, noch gänzlich dem Realismus, den besonders die Polizeiszenen ausmachen, sondern einen Mittelweg zwischen beiden sucht und findet.
„The Place Beyond The Pines“ hat leider etwas, was wir das „True Romance“-Syndrom nennen wollen: Der erste Teil des Films ist so stark und hat so denkwürdige Charaktere, dass der folgende Teil – obwohl ebenfalls gut – einfach nicht an diesen Auftakt heranreicht. Und Cianfrances dreiteilige Struktur erweist sich insofern als Schwachpunkt, als dass jeder der folgenden Teile etwas schwächer ist als sein Vorgänger – von dem brillanten ersten Teil über den interessanten zweiten bis hin zum leider etwas vorhersehbaren dritten. Bemerkenswert ist auch, dass jeder der drei Teile thematisch und stilistisch anders daherkommt.
Dass der Film also mit zunehmender Laufzeit etwas an Stärke einbüßt, hat dann zum einen mit den Darstellern zu tun, zum anderen mit dem Drehbuch, dass manchmal zu wenig gibt, weil es zu viel will. Ryan Gosling ist hier eindeutig wieder der charismatischste Darsteller und hat auch die charismatischste Rolle, folglich kommt der von ihm beherrschte Anfang am Besten herüber, auch wenn sein wortkarger, saucooler Einzelgänger natürlich ein wenig an seine Rolle in "Drive" erinnert. Aber eben doch nicht so ganz, denn während jener ja wirklich in jeder Situation völlig cool war, ist Luke eben doch ein Stück realistischer, gerät während seiner Banküberfälle auch schon mal in Panik oder muss sich nach all dem Stress erstmal übergeben. Gosling und Mendes haben sich während der Dreharbeiten dieses Films ineinander verliebt (und sind seither zusammen, angeblich geht es demnächst Richtung Standesamt), und Junge, das sieht man den beiden an. Funken sprühen zwischen diesen beiden, so dass man ohne Probleme Romina abnimmt, warum sie ihre stabile Lebenssituation für einen Hallodri wie Luke in Gefahr bringt.
Zudem steht Gosling mit dem Australier Ben Mendelsohn (grandios in "Animal Kingdom", einem Tipp für alle Freunde des Krimidramas) ein ebenfalls unglaublich charismatischer Darsteller an der Seite, der auch in seiner kleinen Rolle als Lukes Komplize Robin nahtlos Charme und Bedrohung zusammenführt. Bradley Cooper, der ja gerade die beste Zeit seiner Karriere hat, bemüht sich redlich, mit Goslings Intensität mitzuhalten, was ihm immerhin fast gelingt, zudem hat seine Rolle als Cop mit Gewissensbissen weniger deutliche Möglichkeiten zu glänzen. Cooper kann aber zumindest mithalten, während Rose Byrne als seine Ehefrau gegenüber Eva Mendes deutlich ins Hintertreffen gerät, was an ihrer quasi nicht-existenten Rolle liegt. Hier sieht man dann auch die angesprochenen Schwächen, denn Jennifer ist eh schon ein dünn geschriebener Charakter und einige ihrer Entscheidungen werden vom Script zu hastig und ohne Hintergrund präsentiert.
Gerade der Zeitsprung nach etwa anderthalb Stunden erweist sich hier als Knackpunkt. Zwar hat man die wichtigen Momente, aber es fehlt etwas an Zwischentönen. Zumal der Schlussteil dann ein Ungleichgewicht der Darsteller und ihrer Rollen offenbart. Averys Sohn AJ wandelt als Hip-Hop-Gangsta-Klischees johlender Bad Boy ganz nahe am Klischee (und manchmal auch drüber) , was noch dadurch verstärkt wird, dass Emory Cohen seinem erklärten Idol, dem jungen Marlon Brando nacheifert. Man will Cohen nicht voreilig das Talent absprechen, aber diese Ali G-meets-Brando-Mischung sticht inmitten der naturalistischen Performances um ihn doch ziemlich heraus, was nicht unbedingt ein Vorteil ist. Lukes Sohn Jacob wird dagegen von Dane DeHaan dargestellt, der im letzten Jahr in „Chronicle“ beeindruckend zeigte, was er drauf hat. Mit der dort und hier gezeigten Intensität ist es kein Wunder, dass DeHaan als neuer Harry Osborn für den nächsten Spiderman-Film ausgewählt wurde.
Es gibt auch thematische Gründe für die leichten Schwächen im Schlussdrittel. Jede Aktion hat Konsequenzen. Jede Konsequenz hat Auswirkungen, die nicht sofort abzusehen sind. Determinismus spielt eine große Rolle in „The Place Beyond The Pines“. Kann eine Reihe von Entscheidungen, oder auch nur eine einzige, den Rest eines Lebens bestimmen, oder gar das Leben unserer Kinder? Hastige, nicht durchdachte Entscheidungen von Luke und Avery kommen zusammen, um das Leben ihrer Familien für immer zu ändern, und auch das ihrer Kinder. Diese Unvermeidlichkeit überschattet den letzten Akt dieses Films, was eventuell auch eine Schwäche darstellt. Denn während der Film in den ersten 90 Minuten altbekannte Genrethemen neu und teils unvermutet zusammengesetzt hat, so hängt über der letzten Dreiviertelstunde das Verständnis, dass die Sünden der Väter ihre Kinder einholen werden und ein erneuter Kollisionskurs unvermeidlich ist. Das hat dann zwar durchaus spannende und beklemmende Momente, kann aber nicht ganz mithalten mit dem, was vorher kam.
Den Kreislauf, den seine Geschichte und ihre Protagonisten beschreiben, fängt Cianfrance in Parallelen ein, bei denen wiederum der Wald (der somit dem Filmtitel weiteren Sinn gibt) eine Rolle spielt. Luke trifft Robin dort, was letztendlich den Beginn seiner Bankräuberkarriere besiegelt, Avery ist dort später mit seinem Kollegen (Ray Liotta) und besiegelt den weiteren Verlauf seiner Laufbahn. Wir sehen eine Einstellung, in der Luke auf seinem Motorrad die von Bäumen gesäumte Straße entlangfährt, anderthalb Stunden später fährt sein Sohn auf seinem BMX-Rad genau dieselbe Straße entlang. Die Einstellung ist gespiegelt, das gleiche wunderbare Musikthema spielt: Vater und Sohn über Jahrzehnte getrennt und vereint in Schicksals Bahn.
Wie gerne hätte man „The Place Beyond The Pines“ die Großartigkeit zugeschrieben, nach der sich dieser Film so offensichtlich sehnt und die er in flüchtigen Momenten auch mehr als einmal erreicht. Aber letztendlich bleibt dieser Film 'nur' ein ehrgeiziger, erzählerisch mutiger und guter Film mit einigen kleinen dramaturgischen Schwächen. All die genannten Kritikpunkte könnten jetzt dazu verleiten, die obige Bewertung des Films in Frage zu stellen, nach dem Motto „Warum acht Punkte, wenn es soviel zu meckern gibt?“. Ganz einfach: Weil einzelne Teile des Films so gut sind, dass man sich gewünscht hätte, der gesamte Film hätte diese Brillanz durchgehalten. Und dass er das nicht geschafft hat, lenkt nicht davon ab, wie gut dieser Film über den größten Teil seiner Laufzeit ist. Wenn etwa Howard Hawks' „Red River“ ein unbestrittenes Meisterwerk mit einem verkorksten Ende ist, dann ist „The Place Beyond The Pines“ ein gescheitertes Meisterwerk, dessen Schwächen den Film aber nicht weniger sehenswert machen. Von Derek Cianfrance dürfen wir also weiterhin Großes erwarten.
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