Die Filmkritiker in Cannes rutschten auf ihren Stühlen hin und her vor Aufregung, als 2012 „Der Geschmack von Rost und Knochen“ des seit seinem Gefängnisdrama „Ein Prophet“ (2009) allseits als Meister verehrten Franzosen Jacques Audiard gezeigt wurde. Doch Audiards Tour de Force voll Drama, Pathos, Sinnlichkeit, Brutalität und Kitsch spaltete das Kritikerpublikum zwei Stunden später in Verspotter und Verehrer dieses Werkes. Trotzdem sollte man sich diesen Film nicht entgehen lassen.
Der muskelbepackte und selten über Konsequenzen nachdenkende Ali (Matthias Schoenaerts) muss sich plötzlich um seinen 5-jährigen Sohn kümmern, den er kaum kennt. Er geht aus Nordfrankreich mit dem Kleinen zu seiner Schwester (Corinne Masiero) an die Côte d’Azur und wird dort Türsteher in einem Nachtclub. In diesem lernt er Stéphanie (Marion Cotillard) kennen, der er ganz typisch für seinen Charakter erst einmal erzählt, dass sie in ihren Klamotten aussieht wie eine Prostituierte. Stéphanie trainiert Killerwale in einem maritimen Freizeitpark. Bei einem Unfall mit einem Orca verliert sie beide Beine und ruft ausgerechnet Ali an, um Gesellschaft zu haben. Doch beide sind so emotional verwundet, dass ein Happy-End für dieses ungleiche Paar unmöglich zu sein scheint.
Um es deutlich zu sagen: Ja, „Der Geschmack von Rost und Knochen“ ist konstruiert, teilweise langatmig, hat ein Ende, das aufgepfropft wirkt, und verwendet ohne jegliche Scham extremste Gefühls- und Kitschelemente, deren Höhepunkt es ist, eine Frau ohne Beine zur Begleitung von Katy Perrys „Fireworks“ mit dem Orca tanzen zu lassen, der vor kurzem ihre Beine abgebissen hat. Trotzdem ist Audiards Film sehenswert aufgrund der unglaublichen schauspielerischen Leistungen von Marion Cotillard („La Vie en Rose“, „The Dark Knight Rises“) und Matthias Schoenaerts („Bullhead“), deren Sexualität und emotionale und körperliche Versehrtheit hier ein selten so gesehenes Paar ergeben.
Cotillard widmete sich nach ihrem Oscar für „La Vie en Rose“ erst einmal ein paar US-amerikanischen Kassenschlagern, bevor sie hier endlich wieder alle Facetten zeigen kann, aufgrund derer sie ihren Oscar verdient hatte. Ihr Horror und ihre Wut in „Der Geschmack von Rost und Knochen“, als sie merkt, dass man ihr die Beine amputiert hat, ist unglaublich. Ungeschminkt und mit visuell voll überzeugend per CGI entfernten Beinen schafft es Cotillard, gleichzeitig verwundbar, wütend, stark und auch noch sexy zu sein. Das muss ihr erst einmal jemand nachmachen. Der Hüne Schoenaerts ist aufgrund seiner Körperlichkeit ein guter Gegenpol, kommt aber nicht ganz an Cotillards Leistung heran, was leider auch an der Art seiner Rolle liegt, in der er entweder gefühlskalt sein oder Rocky-mäßig kämpfen muss.
Audiard webt einige Nebengeschichten in dieses Grundgerüst, unter denen die wichtigste die Ultimate-Fighting-Karriere ist, die Ali beginnt, um seine endlose Energie zu nutzen und im Zuge derer Stéphanie seine Trainerin wird. Allein dieser Teil hätte ein ganzer Film werden können, doch Audiard packt immer noch eins drauf, bis das Werk aus allen Nähten platzt. Es ist diese Attitüde von „Darf’s noch ein bisschen mehr sein?“, die „Der Geschmack von Rost und Knochen“ gleichzeitig Intensität bis zur Schmerzgrenze gibt, aber auch Teile des Publikums übersättigt zurücklässt, nachdem Audiard jeden emotionalen Knopf drückte, der irgendwo zu finden war.
Die Mischung aus Alexandre Desplats zartem Score und US-Charts-Popmusik ist dabei ebenso extrem wie es die beiden Charaktere und das Grundgerüst der Handlung sind. Doch am Ende ist „Der Geschmack von Rost und Knochen“ eine Geschichte über zwei Menschen, die eigentlich nie und nimmer zueinander finden sollten und sich doch gegenseitig genau das Richtige geben können: So hat der erste Sex zwischen Ali und Stéphanie eine Begründung weit entfernt von jeglichem Mitleid oder sonstiger Sentimentalität. Sie wollen sehen, ob bei ihr noch alles funktioniert. An solch einer Stelle so unromantisch zu sein, muss sich ein Regisseur auch erst mal trauen.
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