Bereits seit einem guten halben Jahr schaut uns Leonardo DiCaprio nun schon vom gelungenen Filmplakat entgegen und so mancher mag sich gefragt haben, wann denn dieser lange angekündigte Film nun endlich anläuft. Zumindest hat diese nicht von Anfang an so geplante Strategie die Spannung und Aufmerksamkeit noch ein wenig erhöht, gleichzeitig in der auf derartige Verschiebungen immer sehr sensibel reagierenden Branche aber auch die Befürchtung genährt, es hier eventuell mit einer leicht aus dem Ruder gelaufenen oder gar misslungenen Produktion zu tun zu haben - wobei ein allgemein als kompletter künstlerischer Fehlschlag angesehener Film von einem Regisseur wie Martin Scorsese ja auch schon mal einen grundsätzlichen Sensationswert hätte. Doch schon nach wenigen Minuten auf "Shutter Island" kann Entwarnung gegeben werden: Dies ist keinesfalls ein schlechter Scorsese, es ist lediglich ein ganz neuer und anderer Scorsese.
Im Jahre 1954 besucht der US-Marshal Teddy Daniels (DiCaprio) gemeinsam mit seinem neuen Partner Chuck Aule (Mark Ruffalo) die Gefängnisinsel "Shutter Island", in der mehr oder weniger geistesgestörte Verbrecher verwahrt werden. Ihr Auftrag: Das rational nicht zu erklärende Verschwinden der Insassin Rachel Solando zu untersuchen. Da man die Insel nicht anders als über die offizielle Fähre verlassen kann, muss die Geflohene sich eigentlich noch dort aufhalten, wenn sie sich nicht selbstmörderisch in die Fluten gestürzt hat. Vor Ort erhalten die beiden Agenten jedoch nur wenig Unterstützung. Es scheint, als hätten die verantwortlichen Leiter der Anstalt, unter ihnen der Chefarzt Dr. Cawley (Ben Kingsley), nur wenig Interesse an der Aufklärung des Falles, zumal diese die Bewohner der Anstalt eher als Patienten denn als kriminelle Gefangene betrachten. Der behandelnde Arzt ist nicht zu sprechen, die Akteneinsicht und Befragung der Angestellten nur sehr eingeschränkt möglich. Daniels wird misstrauisch, wobei bald klar wird, dass er sowieso nicht zufällig an diesem Ort gelandet ist, sondern sich ganz gezielt um den Auftrag bemüht hat. Denn Daniels trägt seine eigenen Dämonen mit sich und sucht auf Shutter Island die Antwort auf einige Fragen….
Die Erwartung an einen Martin Scorsese-Film ist selbstverständlich hoch, und wenn er sich nach Clint Eastwoods überragendem "Mystic River" nun ebenfalls an die Adaption einer Romanvorlage von Dennis Lehane macht, wird die Erwartung nicht eben kleiner. Allerdings haben wir es diesmal nicht so sehr mit einer vielschichtigen Charakterstudie zu tun als vielmehr mit einem lupenreinen Psycho-Thriller, der sich noch am ehesten mit Scorseses "Bringing out the Dead" vergleichen lässt, vom Thema her aber auch in die Hochphase eines Alfred Hitchcock gepasst hätte, so etwa zu Zeiten von "Marnie" oder "Vertigo". Denn das Entscheidende spielt sich hier in den Köpfen der Charaktere ab und der Zuschauer ist dabei aufgefordert, mittels genauer Betrachtung zu entschlüsseln, wessen Darstellungen wohl real und glaubwürdig sind und welche vermutlich nicht.
Dass es dabei dann schlussendlich nicht auf eine simple "Guter Cop gegen finstere, an Menschen herum experimentierende ehemalige Naziärzte" herauslaufen wird scheint wahrscheinlich, aber doch nicht einhundertprozentig gewiss. Apropos "Nazis" - die spielen auch in den immer wieder eingestreuten Rückblenden eine nicht unwesentliche Rolle, denn Agent Daniels schleppt gleich mehrere traumatische Erfahrungen mit sich herum, zu denen die Befreiung eines Konzentrationslagers in seiner Zeit als Soldat des Zweiten Weltkriegs gehört, vor allem aber auch der tragische, durch einen psychopathischen Brandstifter verursachte Tod seiner Frau Dolores (Michelle Williams). Die stilisierte Umsetzung dieser Rückblenden streift dabei mit ihren farbintensiven Bildern von wie zu Kunstwerken aufgetürmten Leichenbergen oder wie magisch durch die Luft gleitenden Papierseiten beinahe schon die Grenze zur Fantasy und sorgt ein wenig für Staunen bei einem Regisseur, von dem man so etwas bisher nicht kannte.
Eine auffällige Künstlichkeit umgibt das Geschehen aber bereits von Anfang an, sei es DiCaprio mit einem Agenten-Outfit und Gestus der ein wenig an alte Pulp Stories erinnert oder das fast schon karikaturhaft überzeichnete, mindestens aber gängigen Horrorfilm-Klischees entsprechende äußerliche Erscheinungsbild der "gestörten" Insassen der Anstalt. Man rechnet daher quasi minütlich damit, dass jetzt gleich auch noch Jack Nicholson mit der Axt in der Hand um die Ecke kommt. Auch wenn diese Art der Inszenierung erst einmal für ein leichtes Stirnrunzeln sorgt, so ist sie aber kein echter Kritikpunkt, denn sie passt schließlich zur erzählten Geschichte und rechtfertigt sich zudem im Nachhinein durch deren Entwicklung. Oder anders formuliert: Man fragt sich lange Zeit, womit man es denn hier eigentlich genau zu tun hat und bekommt darauf am Ende auch eine Antwort, die so manches in einem anderen Licht erscheinen lässt, inklusive dem Künstlichen.
Auf dem Weg dahin kommen allerdings nicht nur unsere mutigen Ermittler, sondern auch Regie und Drehbuch hin und wieder vom Wege ab, wenn sie sich ein paar ausführliche Rückblenden zuviel leisten und sich in Begegnungen mit etwas zu vielen und zu verrückten Gestalten aufhalten. Vor allem im Mittelteil verliert die bis dahin unheimlich fesselnde Erzählung etwas ihren Fokus, wird mitunter zur einer leicht anstrengenden und wirren reinen "Kopfsache". Sie findet dann aber erfreulicherweise doch wieder zurück und die Auflösung selbst ist dann eminent wichtig für die Wirkung des Films und die Beurteilung des vorher Gesehenen, so dass wir sie hier nicht ganz außen vor lassen können.
Die schließlich präsentierte Erklärung kommt sicher nicht komplett unerwartet, ist aber andererseits auch mit einiger Erfahrung nicht von vornherein absolut klar und offensichtlich. Es ist einfach eine von mehreren denkbaren Möglichkeiten, über die man anschließend diskutieren, mit der man aber letztendlich doch ganz gut leben kann.
Der Cast ist überragend und selbst bis in kleine Nebenrollen an der Grenze zum Cameo-Auftritt (Patricia Clarkson, Max von Sydow, Jackie Earle Haley, Michelle Williams) mit absoluten Könnern besetzt. Allzweckwaffe Mark Ruffalo überzeugt in seiner Rolle als schnoddriger und etwas einfach gestrickter Agent wieder mal als zweite Geige und Ben Kingsley wird beruhigenderweise auch nach viel zu vielen Gastspielen in fragwürdigen B-Pictures (und das ging runter bis zu Uwe Bolls "Bloodrayne") doch immer mal wieder für starke Charakterrollen besetzt. Getragen wird das ganze Konstrukt aber unzweifelhaft von Leonardo DiCaprio, seit einigen Jahren und nun bereits zum vierten Male in Folge der Leading Man in einem Scorsese-Spielfilm und mittlerweile wohl auch ziemlich unbestritten einer der führenden Schauspieler seiner Generation. Auch als getriebener Kämpfer mit äußeren und inneren Dämonen gibt er sich keine Blöße, und dafür, dass die seltsamen Erlebnisse des Teddy Daniels mit einem nicht ganz so bekannten Gesicht vielleicht noch etwas wirkungsvoller gewesen wären, kann ja schließlich DiCaprio nichts.
Martin Scorsese ist diesmal kein absolut herausragender Film gelungen und er liefert auch keines seiner Jahrzehnte umspannenden großen Epen ab, sondern in der Tat nicht mehr als einen sehr stimmungsvollen und herausragend gespielten Thriller mit ein paar Längen und kleinen Schwächen. Vielleicht war es ja der Wunsch nach etwas Entspannung im Anschluss an die endlich erfolgreich abgeschlossene Jagd auf den Regie-Oscar, aber was auch immer den Meister nun an der Schauermär um "Shutter Island" gereizt haben mag - das Ergebnis ist allemal lohnend und erfreulich genug.
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