Sturz ins Leere

Originaltitel
Touching the Void
Jahr
2003
Laufzeit
106 min
Release Date
Bewertung
9
9/10
von Frank-Michael Helmke / 19. März 2011

 

1985 machten sich die beiden jungen, abenteuerlustigen britischen Bergsteiger Joe Simpson und Simon Yates zur Erstbesteigung der Westwand des über 6000 Meter hohen Siula Grande in den peruanischen Anden auf. Mit einer riskanten, auf wenig Sicherung aber hohe Klettergeschwindigkeit ausgerichteten Technik schafften die beiden den schweren Aufstieg in wenigen Tagen. Es waren die dramatischen Ereignisse des Abstieges, die ihrer Klettertour zu Legenden-Status in Bergsteiger-Kreisen verhalfen: Als ein Eisvorsprung unter dem voraus kletternden Simpson nachgibt, bricht dieser sich beim Sturz das linke Bein - bei einem Zweier-Team in solcher Höhe im Prinzip ein Todesurteil. Yates' heroischer Versuch, seinen Freund etappenweise an ihren zusammengeknoteten Seilen den Berg herunterrutschen zu lassen, führt zum nächsten Desaster: Bei schlechten Wetterverhältnissen übersehen die beiden eine Kante, über die Simpson hinwegrutscht und aktionsunfähig in der Luft hängen bleibt. Ohne Sicht- oder Rufkontakt entscheidet sich Yates schließlich, das Seil zu kappen, als er durch das Gewicht von Simpson selbst hinuntergezogen zu werden droht. Simpson stürzt in eine Gletscherspalte, und sein Kamerad - der selbst nur mit Müh und Not ins Basislager zurückkehren kann - hält ihn für tot. Der schier übermenschliche Wille, mit dem sich Simpson in den folgenden Tagen extremsten psychischen und physischen Belastungen entgegen stemmt und sich mit gebrochenem Bein und ohne dringend nötiges Trinkwasser aus der Gletscherspalte hinaus und den Berg hinunterkämpft, ist in der Tat kaum zu glauben - wenn er nicht leibhaftig davon erzählen würde.

Simpsons Tatsachenbericht "Touching the Void" - ursprünglich geschrieben, um seinen in Bergsteiger-Kreisen anschließend heftigst attackierten Freund Yates zu verteidigen, der mit dem Kappen des Seils ein heiliges Kletter-Tabu gebrochen hatte - zog schon kurz nach der Veröffentlichung die ersten Interessenten für eine Filmadaption auf sich, zwischenzeitlich war sogar Tom Cruise für die Hauptrolle im Gespräch. Die Schwierigkeiten, dieses Zwei-Mann-Abenteuer in eine filmisch-dramaturgische Form zu bringen, führten letztlich jedoch allerorts zur Kapitulation, bis der Stoff in die Hände von Regisseur Kevin Macdonald fiel. Der fand schließlich einen Ansatz, der aus "Sturz ins Leere" einen der packendsten Kinofilme der letzten Zeit macht - und das ganz ohne dramatische Schönfärbereien.
Sein Film besteht zum allergrößten Teil aus Nachstellungen der damaligen Ereignisse. Simpson, Yates und ihr im Basislager verbliebener Bekannter Richard Hawking erzählten vor Macdonalds Kamera haarklein ihre damaligen Erlebnisse nach. Anstatt daraus jedoch wie so viele Dokumentationen ein langweiliges "Talking Heads"-Schema zusammen zu schneiden, benutzt Macdonald die Berichte der drei hauptsächlich als Off-Kommentar für die detaillierte Nachstellung mit Schauspielern. Mit teilweise am Originalschauplatz des Siula Grande gedrehtem Material macht Macdonald so die Erlebnisse von Simpson/Yates auch visuell erfahrbar, erhöht entsprechend die Wirkung auf den Zuschauer und erreicht so trotz schnörkelloser Inszenierung, die auf jede Effekthascherei verzichtet, maximale Wirkung.
Die Adaption des Stoffes in quasi dokumentarischer Form erweist sich eindeutig als Glücksgriff: Hätte eine Fiktionalisierung nur unnötigen Storyballast produziert und den Überlebenskampf überzogen dramatisiert, erweist sich die Erzählung in dieser Reinform der filmischen Präsentation als mitreißende und faszinierende Geschichte, deren Effektivität durch den strikt dokumentarischen Ansatz nur noch gesteigert wird. Nicht eine Minute vergisst man als Zuschauer, dass dies alles wahr ist - die pausenlos im Off mitlaufende Erzählung von Simpson/Yates macht die Bilder greifbar und verstärkt die emotionale Nähe zu Simpsons Tortur, für den der Weg aus der Gletscherspalte noch die einfachere Etappe war: Nach Erreichen der Schneegrenze musste er über unwegbaren Fels zurück zum Lager - auf dem gesunden Bein hopsend und mit nur einem spitzen Eispickel als Stütze fiel er bei fast jedem Schritt auf die Nase, konnte sich die meiste Zeit nur kriechend bewegen.

Über die unbestreitbare Faszination der Geschichte hinaus erweist sich "Sturz ins Leere" aber erst dank der fantastischen Bildsprache von Macdonald als wahrer Geniestreich im Doku-Genre: Immer wieder stellt er weitschweifenden Totalen der majestätischen Berggipfel extreme Detailaufnahmen gegenüber, zeigt nur eine Hand, einen Seilhaken oder einen Kletterschuh, der vorsichtig nach Halt im nackten Eis sucht. Prägnant vermittelt er durch diese Gegensätzlichkeit die Dimension von Simpsons Überlebenskampf, reduziert den Bergsteiger zu einem unbedeutenden kleinen Insekt in einer gigantischen, zerklüfteten Welt, die ebenso schön wie lebensfeindlich ist - und evoziert dadurch den fast epischen Kampf des schwachen Menschen gegen die übermächtige Natur, deren Gleichgültigkeit für seine Existenz er nichts entgegen zu setzen hat als den nackten Willen zu überleben. So steigert sich "Sturz ins Leere" durch seine elegante, geschickte Inszenierung zu einer geradezu existentialistischen Parabel über den Triumph des Menschen gegen die lebensfeindliche Natur, zu einer Ode an inspirierenden menschlichen Kampfesgeist: Wir können alles schaffen. Wir müssen nur wollen.

 
Bilder: Copyright

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Klartext

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
  • Website- und E-Mail-Adressen werden automatisch in Links umgewandelt.
CAPTCHA
Diese Aufgabe prüft, ob du menschlich bist um Bots zu verhindern.