Lee Chandler (Casey Affleck) verdingt sich in Boston als Hausmeister, geht emotionslos seinem wenig glamorösen Alltag nach und trinkt dann abends gern mal einen über den Durst, um dann in Kneipen Schlägereien vom Zaun zu brechen. Diese Routine wird jäh unterbrochen, als er einen Anruf erhält, dass sein Bruder Joe (Kyle Chandler) mit einem Herzinfarkt ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Lee macht sich sofort auf den Weg in seine alte Heimatstadt Manchester By The Sea, wo er seinem Neffen Patrick (Lucas Hedges) die schlechte Nachricht vom Tod seines Vaters überbringen muss. Als er überdies per Testament zum Vormund von Patrick bestimmt wird, gerät Lees als eigentlich nur für wenige Tage geplante Rückkehr zu einer längeren Angelegenheit. Zudem bedeutet diese Rückkehr in seine alte Heimatstadt für Lee auch eine Konfrontation mit seiner eigenen Vergangenheit dort...
„Manchester By The Seaˮ ist auch im wirklichen Leben die Geschichte eines Heimkehreres, eines verloren Geglaubten, ja eines verloren Gegangenen: Kenneth Lonergan war nach seinem Regiedebüt „You Can Count On Meˮ 2000 eine der Hoffnungen des amerikanischen Autorenkinos. Und dann kam „Margaretˮ. Oder besser: sie kam nicht. Lonergans mit allerlei Prominenz gespickter Nachfolgefilm sollte eigentlich 2007 in die Kinos kommen, aber ein Kampf um die endgültige Schnittfassung weitete sich in jahrelange Klagen vor Gericht aus, bevor „Margaretˮ dann sang- und klanglos 2011 in einer Kompromiss-Fassung in eine handvoll amerikanische Kinos (und genau ein britisches Kino) kam.
Retter in der Not war dann Matt Damon, mit dem Lonergan bei „Margaret“ arbeitete und der die Grundidee zu diesem Film hatte und damit an Lonergan herantrat. Aufgrund von Drehverzögerungen bei "Der Marsianer“ ist Damon hier nur noch als Produzent dabei. Dafür ist nun Casey Affleck an Bord, und man kann sich nicht vorstellen, dass Damon auch so gute Arbeit geleistet hätte wie Affleck hier. All die Manierismen, die Affleck jahrelang zu einem merkwürdigen Hauptdarsteller machten – der traurige und leere Hundeblick, die leiernde Stimme, die unter seiner Lakonie ständig unterschwellige Agressivität – sind hier nun endlich von großem Nutzen. Vielleicht hilft es auch, dass Affleck in eine Rolle wie diese hineingealtert ist und jetzt einfach glaubwürdiger daherkommt. Jedenfalls muss er auf eine Rolle wie die des Lee Chandler gewartet haben und liefert hier die beste Leistung seiner Karriere ab, die eventuell demnächst auch mit einem Oscar als bester Hauptdarsteller ausgezeichnet wird.
„Manchester By The Sea“ hat ein meisterhaftes Gespür für seinen Handlungsort und seine Figuren, und vor allem dafür, wie Figuren nicht aus einem Bausatz zusammengesetzt werden. Bestes Beispiel dafür ist die Rolle des Patrick, eindrucksvoll gespielt von Lucas Hedges. Patrick ist ein typischer Teenager und damit genau das, was man in Hollywood eben nur ganz selten zu sehen bekommt. Er steht nicht für irgendetwas, soll nicht eine Plotfunktion oder -motivation sein. Er ist nicht einer dieser typischen Hollywood-Teenager, die hauptsächlich über eine Charaktereigenschaft (altklug, brüterisch, ausgeflippt, etc.) definiert werden. Und er ist einer der raren Teenager, der sich wohl in seiner Haut fühlt: Spieler im Eishockey- und Basketballteam, Mitglied in einer Band und dabei, zwei Freundinnen parallel zu handhaben.
Und so sorgt Patrick auch immer wieder für Lacher, die den ernsten Ton hier auflockern, weswegen „Manchester By The Sea“ zwar emotional harte Kost, aber immer auch unterhaltsam bleibt. So kann auch die Trauer über seinen Vater nicht darüber hinwegtäuschen, dass Patrick ein typischer Teenager ist, der vor allem eines imKopf hat. Sie wissen schon. Wie Patrick versucht, eine Art Doppeldate mit Onkel Lee und der Mutter seiner Freundin Sandy einzufädeln und die nicht hundertprozentig erfolgreiche Umsetzung des Plans sorgen für ein paar Schmunzler, die „Manchester By The Sea“ gut zu Gesicht stehen. Zwei Stunden nur Trauer und Unglück wären bei aller Klasse des Films denn doch zuviel gewesen.
Während man von dem natürlichen Tempo und Rhythmus von „Manchester By The Sea“ (welche auch die Laufzeit viel kürzer erscheinen lassen) eingenommen wird, merkt man anfänglich kaum, wie meisterhaft Lonergan auch strukturell den aktuellen Trauerfall und seine Folgen mit der Tragödie in Lees Vergangenheit verwebt. Wir sehen Lee mit seiner Familie in Flashbacks, aber erst nach der zweiten oder dritten Rückblende wird klar, dass wir nicht mehrere verschiedene Momente in seinem früheren Leben erleben, sondern den letzten guten Tag im Leben des Lee Chandler. Und als der Moment dann kommt, der erklärt, warum er in Manchester By The Sea „derˮ Lee Chandler ist, ist die Sequenz brutal wie ein Schlag in die Magengrube. Zuerst ist man nicht einmal sicher, dass dies ein Rückblick ist, dann hat man Probleme genau zu verstehen, was eigentlich passiert ist. Und dann ist alles vorbei, was man gerade in den Flashbacks gesehen hat, von einem Moment auf den anderen.
„Manchester By The Seaˮ ist ein - wie von Lonergan nicht anders zu erwarten - sehr viel ehrlicherer Film, als es Dramen in Hollywood normalerweise sind. Von den unangenehmen Stillen und Pausen, wenn man mit Trauernden redet, über Lees „Fuck This!ˮ als er genug von den üblichen Beileidsbekundungen hat. All die Dinge, die im üblichen Hollywood-Drama gerne übersprungen werden, lässt Lonergan drin, in ihrer teilweise quälenden Banalität. Und Lonergan hat auch den Mut, eine Geschichte über jemanden zu erzählen, dem nicht zu helfen ist. Lee Chandler ist ein gebrochener Mann und nichts und niemand kann ihn wieder zusammen setzen. Die meisten Hollywood-Trauergeschichten sind ja eigentlich Wiedererweckungsgeschichten, in der eine emotional verschlossene oder vernarbte Figur durch die Umstände oder einen anderen Charakter wieder neuen Lebensmut schöpft oder neues Glück findet. Aber Lonergan versteht, dass manche Verletzungen so tief sind, dass sie nicht zu heilen sind und dass tragische Rückschläge im wirklichen Leben nicht dafür da sind, wie im Hollywood-Skript jemandem eine Motivation zu geben. Sondern es sind manchmal einfach tragische Rückschläge, ohne Sinn und Lehre. Und ohne Ausweg.
Wie wenig Lonergans Film bereit ist, das Hollywood-Spiel mitzuspielen, wird einem erst nach dem Betrachten von "Manchester by the Sea" klar, wenn man merkt, dass es in den gesamten über zwei Stunden des Films nicht eine einzige Szene gibt, die durch Inhalt und Form versuchte, uns zu manipulieren. Man kann als Zuschauer rechtschaffen in „Manchester By The Sea" weinen, aber Lonergan drückt nicht einmal mutwillig auf die Tränendrüse, weil er derlei Manipulation – egal ob sie gut oder schlecht gemacht ist – schlichtweg nicht nötig hat. Sämtliche Emotionen des Zuschauers ziehen sich einzig aus der Stärke der Geschichte selbst und der Charakterisierung ihrer Figuren. Und das gibt es in Hollywood – ob im Mainstream oder Autorenkino – nur noch ganz ganz selten.
„Manchester By The Seaˮ ist ein hochemotionales Drama, dass so geschickt die Fallstricke des Genres umgeht und dabei so natürlich und elegant seine Geschichte erzählt, dass es eine wahre Freude ist. Die Festwochen für Cineasten gehen also dieser Tage weiter, nach dem wir alle im letzten Jahr nicht gerade verwöhnt wurden. Wer einen der besten Filme des Jahres nicht verpassen will, sollte sich also schleunigst eine Fahrkarte nach Manchester By The Sea besorgen.
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