Den Fantasy-Welten des Neil Gaiman begegnet man mittlerweile auf mehrere Medien verteilt, und das ist sehr gut so. Denn es ist nur zu wünschen, dass noch mehr Menschen auf die Werke des Briten aufmerksam werden, befindet sich darunter doch praktisch kein einziges, das als schwach zu bezeichnen wäre. Beginnend im Comic-Bereich, wo er mit seiner "Sandman"-Serie neue Maßstäbe setzte, wurde Gaiman dieses Korsett schnell zu eng, die "American Gods" bedeuteten den Durchbruch als Bestseller-Autor. Zuletzt wurde sein zuerst als illustrierte Erzählung veröffentlichter "Sternwanderer" auf die Leinwand gebracht und erfuhr leider nicht ganz die Beachtung, die diese originelle Geschichte verdient gehabt hätte. Das sollte bei "Coraline" anders werden, von der bereits eine wunderschöne Comic-Adaption des "Sandman"-Veteranen P. Craig Rusell vorliegt (auf deutsch erschienen im Panini-Verlag). Nun also die Kinoversion, umgesetzt vom Stop-Motion-Pionier Henry Selick in eben dem Stil, der bereits seinen "The Nightmare before Christmas" zum Klassiker werden ließ. Und auch für diese Fassung gilt ohne Einschränkungen: Wunderschön ist sie geworden.
Coraline Jones ist ein junges Mädchen an der Schwelle zur Pubertät, neugierig und abenteuerlustig. Doch von ihren beruflich eingespannten Eltern erhält sie nur wenig Aufmerksamkeit, was umso schwerer wiegt da die Familie gerade in ein neues Haus in einer eher verlassenen Gegend gezogen ist. Coraline bleiben nur ein paar exzentrische Nachbarn und eine anhängliche Katze sowie das Gefühl, hauptsächlich zu stören und von niemandem richtig ernst genommen zu werden. Als sie daher eines Abends im Haus hinter einer versteckten Tür den Durchgang in eine andere Welt entdeckt, scheint dies ein viel versprechendes Abenteuer zu werden. Zumal diese Parallel-Welt zwar der gewohnten sehr ähnlich ist, in einigen entscheidenden Details aber deutlich "besser" zu sein scheint. Die Farben sind leuchtender, die Nachbarn munterer und sogar die Katze kann plötzlich sprechen. Vor allem aber geben sich ihre Eltern dort viel warmherziger und schenken ihr eine bisher nicht gekannte Aufmerksamkeit. Wenn da nur nicht diese seltsamen schwarzen Knopfaugen wären, die ihre "andere" Mutter im Gesicht trägt. Und wenn diese sich nur nicht so beharrlich dagegen wehren würde, Coraline wieder zurück durch die Tür in die "normale Welt" gehen zu lassen.
Es sind typisch kindliche Phantasien, die Gaiman in seiner Geschichte aufgreift, die Vorstellung, dass woanders alles bestimmt viel schöner und bunter sei, dass dort die Tiere sprechen können und sich alles nur um einen selbst dreht. Auch Lewis Carrolls "Alice im Wunderland" lässt hier natürlich grüßen, doch Gaimans Welt hinter dem Tunnel ist etwas weniger verrückt, aber wesentlich bedrohlicher. Sie sprudelt aber ebenfalls über vor phantasievollen Einfällen und Details, was schon beim Namen der Titelfigur beginnt, die von den Nachbarn, die eben nie richtig zuhören, stets fälschlicherweise "Caroline" genannt wird, was sich dann in der "besseren" Welt sofort ändert. Jeder einzelnen Figur aus der realen Welt wird ein leicht verändertes Gegenstück verpasst: Wo der Vater dort stets blass und übermüdet aussieht, sprüht er hier nun vor Energie. Während die Nachbarn dort ihre besten Zeiten als Artisten bereits hinter sich haben, befinden sie sich hier wieder in der Blüte ihres Lebens.
Doch die Augen sind bekanntlich der Spiegel der Seele, und so warnen die dunklen Knöpfe, welche die neuen, verbesserten Eltern an deren Stelle tragen, schon frühzeitig vor dem zu perfekten Glück. Die Bilder und Farben, die Selick zur Illustrierung dieser Symbolik gewählt und geschaffen hat, zeugen von einer großen Begeisterung für den Stoff und sorgen dafür, dass man die so selten angewandte Stop-Motion-Puppentechnik umgehend als die einzig für diesen Stoff geeignete empfindet. Die Sorgfältigkeit der Adaption bemerkt man auch und gerade bei den Veränderungen zur Vorlage. So werden Musik- und Tanznummern an passender Stelle eingebaut, die auf der Leinwand natürlich viel mehr hergeben als in der Prosa oder Zeichnung. Und damit Coraline nicht wie im Roman lange Monologe mit sich selbst führen muss, stellt Selick ihr einen gleichaltrigen Jungen als gelegentlichen Ansprechpartner zur Seite. Die Essenz der Story bleibt jedoch unberührt, was sicherlich auch der konkreten Mitarbeit von Neil Gaiman am Drehbuch zu verdanken ist.
"Coraline" gelingt es außerdem, den oft schwierigen Spagat zwischen Kinder- und Erwachsenenfilm als völlig mühelos erscheinen zu lassen. Und dafür ist diesmal nicht die bewährte Masche mit der Mischung aus infantilem Humor für die Kleinen und popkulturellen Anspielungen für die Großen verantwortlich. Vielmehr sind es die universelle Geschichte und ihre ansprechende visuelle Umsetzung, die über alle Altersschranken hinweg für Staunen und auch den einen oder anderen Kloß im Hals sorgen dürften. Da der Film zudem die wieder in Mode gekommene 3D-Technik behutsam und nicht für billige Effekte einsetzt, kann zum guten Schluss auch noch für diese Version nur eine absolute Empfehlung ausgesprochen werden.
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